Unter Frankfurt am Main 1933-1945 findet sich ein ehrgeiziges Internetprojekt, mit dem die Stadt Frankfurt dazu beitragen möchte, ihre Geschichte in den bis heute gern verdrängten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft einem interessierten Publikum zugänglich zu machen.“ Es handelt sich dabei um ein Projekt, das redaktionell von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Stadtgeschichte Frankfurt, des Historischen Museums Frankfurt, des Jüdischen Museums Frankfurt wie auch des Fritz-Bauer Instituts betreut wird und an dem unter anderem Kooperationspartner wie der Arbeitskreis „Topographie der NS-Zeit in Frankfurt am Main“ und das Deutsche Architekturmuseum beteiligt sind.
Die übersichtlich gestaltete Oberfläche bietet im wesentlichen drei Zugangswege an, die durch die Zugangsebenen innerhalb des Portals bestimmt werden und ihrerseits thematisch „vernetzt“ sind, so dass sich allein durch die Struktur der Seite viele untereinander vernetzte Bezugsebenen ergeben:
- einen topographischen Zugang
- einen chronologischen Zugang und
- einen thematischen Zugang.
Die Zugangsebenen sind am linken Bildrand in einer Linkleiste untergebracht. Über diese Linkleiste kommt man über die Felder „Beiträge“, „Topographie“, „Chronologie“ und „Index“ auf die jeweilige Startseite des „Zugangsbereiches“. Zusätzlich gibt es eine Indexfunktion, welche die direkte Suche nach Personen und Ereignissen ermöglicht. Am oberen Bildrand sind auf den Zugangsebenen „Beiträge“, „Topographie“ und „Chronologie“ jeweils acht gleichbleibende thematische Kategorien aufzurufen: NS-System und Alltag, Terror und Verfolgung, Jüdisches Leben und Judenverfolgung, Widerstand, Wirtschaft und Arbeit, Zwangsarbeit, Krieg und Zerstörung, Nach 1945. Das bedeutet, dass man auf jeder Zugangsebene in diesen thematischen Kategorien suchen kann und dies ist eine erste Besonderheit der Seite.
Zu jedem Themenbereich auf der Zugangsebene „Beiträge“ gibt es zunächst jeweils einen kurzen Leitartikel, der in die Thematik einführt. Auf der rechten Bildseite erscheint ein Verzeichnis weiterer Beiträge, die über Verlinkungen abzurufen sind, zum Teil auch Ton- und Videobeiträge. Die Anordnung der Beiträge folgt nicht der Systematik einer historischen Monographie, sondern dient dem interaktiven „Erforschen“ der Seite, ist also eher assoziativ. So finden sich auf der Zugangsebene „Beiträge“ unter der thematischen Kategorie „Jüdisches Leben und Judenverfolgung“ die Unterthemen: Vor 1933, Ausgrenzung und Verfolgung, Boykott und „Arisierung“, Auswanderung und Zuzug von außerhalb, Novemberpogrom, Deportationen, Institutionen jüdischen Lebens, Einzelschicksale und eine „Hilfe zur Recherche“. Im Unterthema Vor 1933 führt ein Link zum Beispiel zum Beitrag „Das einzig ‚judenfreie’ Hotel Frankfurts/Main“. Ruft man diesen Beitrag auf, erscheint rechts eine knappe Zusammenfassung, links ein längerer Beitrag mit Bildern und weiteren Links, die wiederum am rechten Bildrand eine kurze Erklärung zum verlinkten Begriff eröffnen (zum Beispiel „Antisemitismus“) und weitere Beiträge dazu bieten.
Die Beiträge selber sind recht knapp gehalten, so dass sie auf eine gut lesbare Bildschirmseite passen, was die Übersichtlichkeit fördert. Durch die zahlreichen weiterführenden Links, Beiträge, Ton- und Filmdokumente kann sich der Nutzer jedoch immer weiter in die „Tiefenstruktur“ der Seite vorarbeiten und hierdurch zum Teil sehr detailreiche Informationen zu der von ihm gewählten Thematik erhalten. Zum Teil liegt es auch an der offenen Struktur der Seite, die von den Autoren ganz bewusst gewählt wurde, wie sie im Vorwort anmerken.1 Die einzelnen Themenkreise werden nicht systematisch „abgearbeitet“, sondern erschließen sich dem Nutzer durch „assoziatives Weitersuchen“. Wenn hierdurch das einzelne Thema nicht in „historischer“ Breite und Tiefe behandelt wird, so wird dies aufgewogen durch Vielfalt der Themen, die netzwerkartige Verknüpfung, die auch für den nicht in der Thematik befindlichen Nutzer Zusammenhänge erlebbar macht sowie die vielfältigen weiterführenden Links und Literaturhinweise. Sehr positiv ist andererseits der Link zu weiteren Beiträgen mit verwandten Themen, der sich unter jedem Artikel findet und so dazu einlädt, sich näher mit einer Person, einem Ort, einem Ereignis zu beschäftigen. Überhaupt ist die Seite ihrer Struktur nach dazu angelegt – und diesen Zweck erreicht sie sehr gut – sich immer weiter vorzuarbeiten, Themen im Zusammenhang zu sehen und sich durch die dargebotene Geschichte „hindurch zu stöbern“, so dass man auf unangestrengte Art sehr viel über Frankfurt und seine Geschichte in den Jahren 1933-1945 erfährt. Ich denke, dass dies sehr dazu beiträgt, Hemmungen und Vorurteile beim Nutzer abzubauen. Nahezu jeder wird eine Zugangsebene und eine Thematik finden, die ihm/ihr liegt und auf diese Weise dazu „verführt“ sich auf das Thema „Frankfurt und die NS-Zeit“ einzulassen. Die Seite arbeitet mit – unaufdringlicher – Konfrontation und der Neugier des Nutzers, nicht mit Belehrung und vordergründiger Betroffenheit.
Sehr positiv fallen die gut ausgesuchten Bilder auf, die gerade auch Personen und ihre Geschichte lebendig werden lassen. Dennoch ist die Seite nicht überladen, sondern die Funktion steht im Vordergrund. Im Handling ist es etwas unpraktisch, dass man aus dem Bereich „Beiträge“, wenn man einen angeklickt hat, nicht mehr durch den „back button“ ohne weiteres zur Übersicht zurück kann, sondern über einen schlecht sichtbaren Link „zurück zum Inhaltsverzeichnis“ gehen muss. Es hat eine Weile gedauert, bis ich diesen fand. Er müsste deutlicher sichtbar sein.
Die Hilfe zur Recherche ist ebenfalls eine Besonderheit und ein großes Plus der Seite. Unter jeder thematischen Kategorie kann man am Ende auf diese „Hilfe zur Recherche“ klicken. Hierunter verbergen sich die „Findbücher erzählter Frankfurter Geschichte“, mit schriftlichen Äußerungen, Interviews und Texten von Zeitzeugen, Film- und Videobeiträgen von Zeitzeugen und Audiobeiträgen mit Zeitzeugen. Diese Dokumentation, funktional in ein entsprechendes Internetangebot eingebettet, dürfte einzigartig sein.
Eine große Besonderheit, die das Angebot aus vergleichbaren Angeboten heraushebt, sind die unter „Topographie“ abrufbaren Stadtpläne, aktuell und von 1943, in welchen die entsprechenden Orte nationalsozialistischer Gewaltherrschaft eingetragen sind. Diese ermöglichen dem Nutzer einen direkten Einstieg, gerade natürlich auch dem Frankfurter Bürger, und somit ein unmittelbares Erleben dessen, was es bedeutet haben mag, dass die eigene Stadt von Zwangsarbeiterlagern und Orten der Partei, des Terrors und der Verfolgung „durchdrungen“ war. Hier bringt die Seite „erlebbare Geschichte“ sehr nahe, regt dazu an, selbst nachzuforschen, die Orte aufzusuchen, sich auseinander zu setzen und macht bewusst, wie präsent die nationalsozialistische Herrschaft im Stadtbild war und teilweise noch ist. Auch die Fülle und Vielfalt jüdischen Lebens in Frankfurt vor dem Krieg – und heute zum großen Glück wieder erreicht und erlebbar – wird so sichtbar. Für mich, die ich in Frankfurt aufgewachsen bin, wurde beim Betrachten der Stadtpläne schlagartig bewusst, dass es für die Einwohner nahezu unmöglich gewesen sein muss, „nichts mitbekommen“ zu haben, weil das Stadtbild gewissermaßen „durchtränkt“ ist mit Orten jüdischen Lebens, aber auch des Terrors und der Verfolgung.
Klickt man beispielsweise auf der Zugangsebene „Topographie“ den Themenkreis „Jüdisches Leben und Judenverfolgung“, so kann der Nutzer in einem aktuellen Stadtplan Frankfurts wie auch einem Stadtplan von 1943 Orte jüdischen Lebens und Orte der Judenverfolgung in Frankfurt finden: Zum Beispiel den Alten Jüdischen Friedhof Rath-Beil-Straße und die Wohnung von Siegfried Kracauer, aber auch die Klingerschule, Versteigerungsort von Hausrat deportierter Frankfurter Juden. Durch Anklicken dieser Orte im Stadtplan wiederum erhält man eine „Kurzbiographie“ des Ortes, die wiederum auf weiterführende Beiträge, zum Beispiel auf Biographien der Bewohner, verweist. Zum Teil sind diese bei dem Link hinterlegten Informationen etwas kurz geraten. So wenn beispielsweise Karl Kotzenberg als „nach 1933 als Demokrat verfemt“ beschrieben wird. Hier wüsste man gerne, welche Folgen dies für Kotzenberg hatte und was später aus ihm wurde. Vielleicht ist dies auch nicht bekannt, aber dann wäre dieser Hinweis sinnvoll. Hier wäre es meines Erachtens wünschenswert, wenn in Zukunft für einzelne Themen und Biographien ausführlichere Beiträge abrufbar wären. Derzeit wirkt die Information teilweise oberflächlich.
Ruft man schließlich unter der Zugangsebene „Chronologie“ den Themenkreis „Jüdisches Leben und Judenverfolgung“ auf, so erscheint eine graphisch aufbereitete Chronologie nur solcher Ereignisse, die gerade mit diesem Thema in Zusammenhang stehen. Farblich abgehobene Eintragungen verweisen auf allgemeine Ereignisse der NS-Geschichte zum jeweiligen Themenkreis, andere auf solche, die gerade Frankfurter Stadtgeschichte sind. Über Verlinkungen kann man auch hier wieder konkrete Beiträge zum Thema abrufen. So findet sich am 28.03.1933 unter „Ausschluss städtischer Mitarbeiter jüdischen Bekenntnisses“ ein Link zu weiterführenden Texten, durch die man sich wiederum näher über das Ereignis informieren kann. Dies regt zum Nachdenken an, setzt die Ebenen in Bezug, wobei ich persönlich die graphische Darstellung im Rahmen der Chronologie allerdings nicht vollständig gelungen und übersichtlich finde.
Das gesamte Internetportal ist durch eine überaus hilfreiche Netzwerkstruktur geordnet, die alle Einzelinformationen miteinander in Verbindung setzt, ohne unübersichtlich zu werden. Einen guten Überblick über den gesamten Inhalt der Website bietet auch die Sitemap. Die Seite ist gut zu bedienen, hat ein angenehmes Design, besonders positiv ist hierbei der „organische Charakter“, das ständige Wachsen und Erweitern und die – glaubhafte – Aufforderung, dass jeder eingeladen ist, sich hieran zu beteiligen. Zu allgemeinen Themen der Zeitgeschichte bietet sie zwar wenig Neues – hierauf ist sie allerdings auch nicht angelegt – aber an Detailreichtum, Daten zu Einzelschicksalen und Einzelorten hat die Seite viel zu bieten. Alle wesentlichen Bereiche der Stadtgeschichte 1933-1945 sind meines Erachtens abgedeckt. Durch die offene Struktur lässt die Seite aber auch thematische Erweiterungen und eine schrittweise Vertiefung zu, so dass sie immer umfassender und detailreicher werden dürfte und so zunehmend dem Bedürfnis der unterschiedlichsten Nutzer angepasst werden kann. Vor allem die Einbettung von Ereignissen, Orten und Personen in das heutige Frankfurt durch die Zugangsebene „Topographie“ ist beeindruckend und wird auch dem recherchierenden Historiker manche neuen Aspekte erschließen.
Insgesamt ist den Initiatoren hier ein sehr gut gemachtes und wohl durchdachtes Projekt gelungen, das die Darstellungsmöglichkeiten des Internet optimal nutzt sowie die Einbindung des Nutzers fordert und fördert und nicht nur einem passiven Medienkonsum Vorschub leistet. Zwar ist die Seite wohl mehr für den interessierten Bürger gedacht als für den forschenden Historiker, gerade die Zugangsebenen „Topographie“ und „Chronologie“ dürften aber ein wertvolles Recherchemittel auch für den „professionellen“ Nutzer sein. Durch ihre einzigartige Netzwerkstruktur, die Einbettung von Film- und Audiobeiträgen und die thematische wie mediale Vielfalt hebt sich die Seite positiv von anderen Internetangeboten zur Zeit- und Stadtgeschichte ab und macht sie zu einem vielseitig nutzbaren (besonders auch für den Unterricht) multimedialen Medium zur Auseinandersetzung mit der Frankfurter Geschichte in der Nazi-Zeit. Die Benutzerfreundlichkeit lässt, bis auf das angesprochene Problem des schlechten „Zurückklickens“ kaum etwas zu wünschen übrig, wenn man einmal die „Netzwerkstruktur“ auf den verschiedenen Zugangsebenen durchschaut hat.
Anmerkungen:
1 Siehe in der Navigation unter Vorwort: „Die Nutzer finden nun nach Abschluss der Konzeptions- und Aufbauphase ein offenes und dynamisches System vor: man kann direkt Kontakt zum Redaktionsteam aufnehmen, Anregungen und Kommentare abgeben; zugleich erleben die Nutzer die kontinuierliche Weiterentwicklung der Portalstruktur, die Erweiterung der Portalinhalte, die mitunter durch die Kommunikation der Nutzer mit dem Redaktionsteam angereichert werden.“