Geschichtsschreibung ist längst nicht mehr nur die große Meistererzählung, sondern besteht heute zumeist aus vielen verschiedenen Geschichten und Sichtweisen, die sich bewusst nicht immer zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Alles hat sich fragmentiert, vieles wurde dekonstruiert: Verschiedene Disziplinen, unterschiedliche Interpretationen und theoretische Ansätze, neue Methoden haben sich herausgebildet – das alles hat zu einer Fragmentierung von Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung beigetragen. Nun sollte man denken, fragmentierte Erzählungen seien sehr dazu geeignet, im Internet dargestellt zu werden. Die Hypertextstruktur und die Möglichkeit des Einfügens multimedialer Elemente ermöglichen es, nicht nur didaktisch sinnvoll Inhalte zu präsentieren, sondern auch zeitgemäße Geschichtsschreibung abzubilden – zumindest liegen diese Assoziationen nahe, wenn ein neues Internet- und DVD-Projekt über deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit dem Titel „Deutsche Geschichten“ daherkommt.
Die Bundeszentrale für politische Bildung hat gemeinsam mit einem erfahrenen Partner für TV- und Multimediaproduktion, Cine Plus Media Service,1 die „Deutschen Geschichten“ ins Leben gerufen, ein Projekt, das auf Zuwachs und stetige Erweiterung ausgelegt ist. Kooperationspartner sind reichlich vorhanden: das Deutsche Historische Museum, das Landesarchiv Berlin, das Museum für Kommunikation in Berlin, die Brockhaus-Redaktion sowie Manfred Görtemaker vom Historischen Institut der Universität Potsdam. Der „offiziellen Geschichtsschreibung“ mit ihren geschichtlichen Fakten soll, so die Kurzbeschreibung des Projektes, eine „Oral History“ aus Alltagsgeschichten und Zeitzeugeninterviews zur Seite gestellt werden.
Aufbau und Funktionalität
Die Website ist laut Editorial ein bildungspolitisch orientiertes Internetprojekt, das gezielt multimediale Elemente (Text, Bild, Grafik, Ton, Film) einsetzt, um deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre darzustellen. Auf der Startseite wechselt monatlich die so genannte „Journalseite“, auf der an ein spezielles Ereignis erinnert wird. Der Zugriff auf die eigentlichen Inhalte kann auf verschiedene Art und Weise erfolgen: entweder über eine Zeitleiste, die nach Epochen unterteilt ist, oder thematisch nach Dossiers, in denen vertiefte Informationen zu ausgewählten Themen zu finden sind. Wählt man den Einstieg über die Zeitleiste, so finden sich zusätzlich zum Text Zugänge auf multimediale Inhalte: Videofilme, „Schlaglichter“, in denen bestimmte Begriffe lexikalisch erklärt werden, Biographien über bedeutende Persönlichkeiten der deutschen Geschichte, Audiodateien mit Originaltönen (zum Beispiel der Fackelzug am 30. Januar 1933 durch das Brandenburger Tor) sowie Fotos, die sich kopieren lassen. Die Videos zeigen unter anderem Zeitzeugenaussagen zu bestimmten Ereignissen, teilweise kommentierte Ausschnitte aus Wochenschauen sowie eigens für die Site erstellte Filme beispielsweise über den Reichstag und über Berlin. Innerhalb der Dossiers sind hingegen kaum multimediale Elemente vorhanden. Die Videofilme sind leider bislang nur mit dem RealPlayer abspielbar. Verfügt man über einen DSL-Anschluss, sind die Filme auch bequem anzusehen. Insgesamt ist die Website jedoch recht textlastig – insofern ist es fraglich, wie weit sich die „Deutschen Geschichten“ auf dem momentanen Stand für den Einsatz im Unterricht eignen. Immerhin kann man von jeder einzelnen Seite einen Ausdruck erstellen sowie Lesezeichen setzen, um später zu diesem Text zurückzukehren. Sehr gut für den Unterricht geeignet sind sicher die Filmausschnitte und Zeitzeugeninterviews, ganz gleich, ob für den Unterricht mit Jugendlichen oder mit Erwachsenen. Im Juni oder Juli dieses Jahres wird die DVD zum Projekt erscheinen (Auskunft Cine Plus am 6.4.2006), die dann über die Bundeszentrale zu beziehen ist. Damit kann das Material besser in Schulen verwendet werden als die Internetversion – zudem ist es für Schüler leichter, die Informationen für Referate und Präsentationen zu benutzen.
Innerhalb des „regulären“ Textes sind Einschübe eingebaut, in denen man – jeweils in einem zusätzlichen Fenster – weitere Informationen erhalten kann: Da sind einmal die schon erwähnten Biographien und „Schlaglichter“, dann Literaturhinweise mit der Möglichkeit, in die jeweilige Literatur auch hineinzulesen, sowie Hinweise zur politischen Bildung quer durch alle Ereignisse des 20. Jahrhunderts, die in der Regel den bekannten schwarzen Heften „Informationen für politische Bildung“ der Bundeszentrale entnommen wurden.
Die Suchfunktion ist komfortabel und einigermaßen zuverlässig. Auch hier werden die Ergebnisse in einem Extra-Fenster angeboten. Die Ergebnisliste enthält immer einen kleinen Textausschnitt mit dem gesuchten Begriff und der Textumgebung, sodass man meist schon bei diesem Schritt entscheiden kann, ob das jeweilige Ergebnis der Suche relevant ist. Zudem ist das Kapitel angegeben, in welchem das Suchergebnis vorkommt – auch das ist hilfreich für das Auffinden eines Begriffes (sucht man beispielsweise den Begriff „Flüchtlinge“ für die Zeit nach 1945 oder für DDR-Flüchtlinge von 1989) und weiteres „Herumstöbern“. Klickt man auf das Ergebnis, führt das Portal in einem zweiten Fenster direkt in den Text.
Inhalt
Insgesamt ist das Internetportal eher politikgeschichtlich ausgerichtet. Nutzt man es für den Unterricht oder als Nachschlagewerk für historische Daten, so vermittelt es abfragbares Wissen – ob es so auch Begeisterung und Emotionen für die Geschichte jenseits der traditionellen Medien weckt, sei dahingestellt. Prinzipiell ist natürlich nichts gegen Politikgeschichte einzuwenden, da sie als Grundlage für jegliches historische Wissen unerlässlich ist. Allerdings würde ein wenig mehr Alltags- und Kulturgeschichte in den Texten statt wie momentan fast ausschließlich in den multimedialen Beigaben dem Portal gut anstehen. So bleiben Text und Multimedia letztlich in zwei getrennten Sphären: Der Text ist für die „Fakten“ zuständig, die Multimediaelemente wie die Filme mit den Zeitzeugeninterviews als „Oral History“ für die Alltagsgeschichte oder die klassische „Geschichte von unten“.
Auffällig ist ferner, dass die über die Zeitleiste erreichten Themen unterschiedlich ausführlich behandelt werden. Die Zeit zwischen 1933 und 1945 liefert dabei am meisten Material für die „Deutschen Geschichten“: Text, Filme, Zeitzeugen-Interviews. Fotos gibt es leider nicht so viele, was möglicherweise mit der Problematik der Urheberrechte zusammenhängt. Die Zeit vor den 1930er-Jahren ist inhaltlich noch etwas schwach besetzt, aber Cine Plus gab mir die Auskunft, dass diese Bereiche noch ausgebaut werden sollen. Verständlicherweise werden zunächst diejenigen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts abgedeckt, für die es noch möglich ist, Zeitzeugen zu finden, mit denen man Beiträge produzieren kann. Hilfreich ist dabei sicher die Idee, über das Portal selbst noch nach Zeitzeugen zu suchen.
Auffällig ist ferner ein gewisses Ungleichgewicht bei der Geschichte der beiden deutschen Staaten, also für die Zeit zwischen 1949 und 1989. Während die DDR-Geschichte recht facettenreich geschildert ist (wenn auch seltsamerweise zum Teil etwas versteckt in dem Kapitel über das vereinte Deutschland nach 1989), und dabei sowohl die staatliche und wirtschaftliche Entwicklung als auch die Repression und die Geschichte der Opposition eine Rolle spielen, so scheint die Geschichte der Bundesrepublik lediglich aus Adenauer, dem Wirtschaftswunder und den „68ern“ zu bestehen. Begrifflichkeiten und Themenbereiche wie Ostpolitik, Aufrüstung, Westbindung oder Formen des Protestes jenseits der Studentenbewegung werden lediglich gestreift und sind ausbaufähig. Das gleiche gilt für westdeutsche Literatur, Kunst oder Jugendkultur, vor allem aber auch die innergesellschaftlichen Veränderungen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die ja durchaus politikgeschichtlich relevant und bis heute wirksam sind. Zum Suchbegriff „Herbert Wehner“ finden sich keine Treffer, der Begriff „Atomwaffe“ kommt lediglich in einer Chronologie der 1960er Jahre vor („Atomwaffensperrvertrag“). Geschichtspolitische oder historiographische Kontroversen werden kaum aufgegriffen. Solche Lücken sollten geschlossen werden, damit eine annähernd ausgeglichene Darstellung der deutschen Geschichte im 20 Jahrhundert möglich ist.
Fazit
Es handelt sich hier meiner Ansicht nach um ein ambitioniertes Projekt mit sehr guten Ideen und teilweise auch ansprechender Umsetzung. Die vorhandenen und beschriebenen inhaltlichen Lücken sind wohl teilweise dem Umstand geschuldet, dass es sich um ein „Work in Progress“ handelt. Die verschiedenen multimedialen Elemente für sich genommen sind sicherlich auch in der politischen und historischen Bildung vorzüglich zu verwenden – schließlich ist die Mehrzahl der Ton- und Filmdokumente überhaupt nur bei den „Deutschen Geschichten“ bequem auffindbar und frei verfügbar. Das allein ist schon ein großer Gewinn. Doch trägt die faktenorientierte und recht enge politikgeschichtliche Darstellung nicht unbedingt zur Attraktivität der Website bei. Die Dossiers als „Vertiefungsebene“ sind zwar sehr ausführlich, aber auch recht textlastig. Zudem ist das Design der Website sehr reduziert: ein bisschen farblos und für meine Begriffe nicht unbedingt jugendgerecht. Zwar ist es – ebenso wie die Struktur der Site insgesamt – sehr klar, aber doch ein wenig bieder. Die Art der Darstellung – abseits der multimedialen Elemente – erinnert insgesamt dann doch an die immer etwas uninspiriert gestalteten schwarzen Hefte der Bundeszentrale.
Anmerkungen:
1 Cine Plus Media Service [URL: http://www.cine-plus.de/] beschäftigt sich mit Produktion und Koproduktion von Kinofilmen, Fernsehbeiträgen und Dokumentarfilmen für verschiedene Sender, hat aber auch ein redaktionelles Standbein im Nachrichten- und Wirtschaftsbereich. Zudem betreut die Online-Redaktion das Wissensportal lexi.tv [URL: http://www.lexi-tv.de].