Theodor Mommsen war es noch möglich, mittelalterliche Handschriften als Leihgabe von Bibliotheken auf dem heimischen Schreibtisch zu bearbeiten. Aufgrund des berüchtigten Brandes in seinem Arbeitszimmer dürfte er mitverantwortlich dafür sein, dass eben solche Bücherschätze heute nur noch in speziellen Lesesälen eingesehen werden können. 1 Die Ausleihe der Bibliotheken wurde fortan deutlich restriktiver gehandhabt.
Ähnliche Gefahren drohen den Handschriften der Kölner Erzbischöflichen Dom- und Diözesanbibliothek nicht mehr. Dafür sorgt ein großangelegtes Digitalisierungsprojekt der Bibliothek mit dem Namen „Codices Electronici Ecclesiae Coloniensis“, kurz CEEC. Der ehrwürdig klingende lateinische Name ist dabei durchaus angemessen: Denn die Kölner Dom- und Diözesanbibliothek ist eine gewachsene Bibliothek mit einer Kontinuität vom Mittelalter bis in unsere Tage: 366 Handschriften des 6. bis 16. Jahrhunderts gehören zu ihrem alten Besitzstand. Hinzu kommen etliche Manuskripte aus Kirchen vor allem Kölns und des Rheinlandes, u.a. aus Euskirchen, Kerpen und Düsseldorf. Die meisten dieser Handschriften sind liturgischen Inhalts, das Missale ist dabei der wohl am häufigsten vertretene Typ; doch es gibt auch zahlreiche Handschriften mit historiografischen, kanonistischen und patristischen Texten. Alle diese insgesamt über 400 Handschriften werden nun in digitalisierter Form kostenlos und ohne Anmeldeverfahren zugänglich gemacht. Dabei wurde keinerlei Auswahl getroffen: Jedes Manuskript ist vom vorderen bis zum hinteren Buchdeckel komplett mit einer speziellen Digitalkamera gescannt worden; im Unterschied zu anderen Projekten oder CD-Publikationen kann also jede einzelne Seite eingesehen werden. 2 Da sich zwar im Besitz der Kölner Bibliothek auch einige künstlerisch wertvolle Handschriften befinden, diese aber gegenüber den einfacheren Gebrauchshandschriften deutlich in der Minderheit sind, leuchtet auch ein, an wen sich das Angebot vor allem richtet: Es sind Forscher, die sich mit Handschriften befassen und denen bewusst ist, dass nicht nur der in der Handschrift tradierte Text, sondern auch der Träger des Textes eine Quelle ist. Zwar wird es von den Gestaltern der CEEC zu Recht begrüßt, wenn auch interessierte Laien über das Kölner Angebot Zugang zur Handschriftenforschung finden oder „nur“ einmal stöbern – und man darf hinzufügen: es ist zu hoffen, dass zahlreiche interessierte Nichtfachleute die Handschriften virtuell durchblättern. Doch die eigentlich anvisierte Zielgruppe ist die der mediävistischen Handschriftenforscher mit paläografischem, kodikologischem oder im weitesten Sinne texthistorisch-editorischem Interesse. Gerade da aber bei weitem nicht alle im Mittelalter gebräuchlichen Texte wegen ihrer weiten Verbreitung bislang ediert werden konnten (z.B. die Collectio Canonum Dionysio-Hadriana), wird es auch für Historiker, die „nur mal eben“ eine bestimmte Textstelle nachschlagen wollen, nun weltweit einfacher sein, auf die zeitgenössische Überlieferung zuzugreifen.
Hat man die ansprechende Startseite hinter sich gelassen, bieten sich auf der übersichtlichen Benutzeroberfläche der Seite sieben Karteikarten an, hinter denen sich verschiedene Zugriffsmöglichkeiten auf die Handschriften oder weiterführende Arbeitsinstrumente verbergen. Ein neugieriger Besucher wird zuerst auf die Karte „Handschriften“ klicken. Dort wird zunächst auf einer geteilten Seite links oben eine Liste mit Kriterien gezeigt, nach denen Handschriftenlisten (jeweils in Auswahl) angezeigt werden können, z.B. nach Bibliotheken, Inhalt der Handschrift, Autor, Werktitel, Alter, Signatur etc. Auf diese Weise ist eine vorsortierte Liste der jeweils interessierenden Handschriften zu erhalten: Wer sich nur für Messbücher interessiert, wird folglich auf „Handschriftenart (Inhalt)“ klicken und in der dann links unten angezeigten Liste zum Stichwort „Missale“ scrollen. Zu jedem Codex sind ebenfalls die einschlägigen Katalogisate in drei unterschiedlich ausführlichen Versionen abrufbar. In der rechten Hälfte des Fensters wird dann ein erstes Bild der Handschrift gezeigt, das dazu dient, sich einen Überblick über den Codex zu verschaffen: Jede Seite kann eigens angewählt werden. Dazu kommen Auswahlmöglichkeiten hinsichtlich der Auflösungen und damit der Anzeigequalität: Neben der genannten „visuellen Zusammenfassung“ (Symbol: Auge) gibt es „Arbeitskopien“ (Symbol: Brille), „Optimierte Arbeitskopien“ (Lupe) und eine Maximalauflösung (Mikroskop), die vor allem für paläografisches bzw. kodikologisches Arbeiten interessant ist, denn hier werden z.B. Rasuren gut sichtbar gemacht. Die hohe Qualität der Darstellungen in hoher Auflösung wurde allerdings durch technische Kunstgriffe (Kontrastverschärfungen) erreicht. 3 Je nach Auflösung werden somit Details erkennbar, die bei der Arbeit am Original erst unter Zuhilfenahme von Lupe oder Mikroskop zu sehen wären. Freilich wurde bei der Erstellung der Scans vom optimalen Bild her gedacht, nicht von der Leistungsfähigkeit der Rechner potentieller Benutzer. Das heißt: Eine Bildschirmauflösung von 1024 x 768 Pixel ist das absolute Minimum für eine analytische Arbeit, empfohlen wird 1200 x 1024. Da große Datenmengen transportiert werden müssen, sollten Benutzer der CEEC auch über eine entsprechend leistungsfähige Internet-Verbindung verfügen. Beides vorausgesetzt werden Abbildungen der Handschriften geboten, mit denen wissenschaftliches Arbeiten nicht nur wesentlich leichter ist als am Mikrofilm, sondern teilweise auch komfortabler als am Original: Denn weder kleine Schriften noch das Aufschlagen eines Codex stellen nun noch ein Problem dar.
Doch steht nicht nur die (zweifellos attraktivste) Karteikarte „Handschriften“ zur Verfügung. Unter „Dokumentation“ finden „Erstbenutzer und interessierte Laien“ sowie „Experten“ einschlägige Erläuterungen zum Projekt der CEEC und erfahren dort, wie die Digitalisierung zustande kam, welche technischen Voraussetzungen gegeben sein mussten und welche Richtlinien eingehalten werden. Ebenfalls hier finden sich in digitalisierter Form bzw. im PDF-Format (der Acrobat Reader steht zum Download bereit) Pressestimmen, Tagungsprogramme und Aufsätze, die sich mit dem Kölner Projekt befassen. Schließlich erfolgt über die Dokumentationsseite auch die Vorstellung der Mitarbeiter (eine nette Idee: auch ausgeschiedene Mitarbeiter werden aufgeführt), deren Erreichbarkeiten genannt werden, so dass die Kontaktaufnahme problemlos möglich ist. Bemerkenswert ist der Punkt „Paten gesucht: Möglichkeiten zur Mitarbeit“: Forscher, die einmal mit einer Kölner Handschrift gearbeitet haben, werden hier eingeladen, ihre Ergebnisse zum Codex und seinem Inhalt in das Projekt einfließen zu lassen. So könnte man in einem mediävistischen Netzwerk den Informationsaustausch unter Experten fördern. Die Karte „Suchen“ ermöglicht eine Volltextsuche in den vorhandenen Handschriftenbeschreibungen bzw. in den in Beschreibungen wiedergegebenen Partien der Originaltexte. Dafür steht eine Wortauswahl zur Verfügung, aber auch ein Feld für die freie Suche. Es wäre jedoch vorstellbar und wünschenswert, dass die Suchfunktionen insgesamt noch weiter ausgebaut und komfortabler gestaltet würden, z.B. nach dem Vorbild eines Bibliotheks-OPAC. Das allerdings setzt den intensiven Kontakt der Betreiber der Seite mit den wissenschaftlichen Nutzern voraus, damit konkret auf deren Bedürfnisse eingegangen werden kann. Eine zu elaborierte Suche würde wohl schon deswegen kaum nutzbringend sein, weil allein die Eingabe der zu suchenden Termini bei dem Nutzer eine Kenntnis der Materie voraussetzen würde, die eine Suchfunktion überflüssig machte. Unter „Historische Bibliothek“ schließlich finden sich Literaturlisten zur Kölner Dombibliothek und ihrer Geschichte, unter „Handapparat“ digitalisierte Literatur und Kataloge zu den Herkunftsbibliotheken und besonders den digitalisierten Handschriften. Auch in diesen beiden Feldern bewährt sich das Prinzip der Karte „Handschriften“, in der linken Hälfte des Fensters die Nachschlageoptionen und in der rechten Hälfte das gewählte Digitalisat bzw. die Textanzeige zu präsentieren. An „Optionen“ steht bislang nur die Wahl der bevorzugten Sprache (Deutsch oder Englisch) zur Verfügung. Bleibt die Karte „Werkzeuge“. Hier werden zwei Programme zum Download angeboten: Mit Hilfe des „Werkzeugs zur Erstellung paläographischer Dokumentationen“ soll am Bildschirm ermöglicht werden, was zuvor nur auf Papierkopien von Mikrofilmen zu machen war: Das Einzeichnen von Linien, Messen von Abständen und dergleichen mehr, was die Arbeit an der Schrift erst exakt werden lässt. Die „Tagging Application“ wurde im Rahmen des CEEC-Projektes entwickelt und soll eine semantische Erschließung von Texten ermöglichen. Der Rezensent muss allerdings eingestehen, dass ihm aus der Beschreibung des Programms weder der konkrete Nutzen bezüglich der digitalisierten Codices noch die Arbeitsweise vollkommen klar geworden sind.
Das eindrucksvolle Projekt konnte nicht allein von der Kölner Dom- und Diözesanbibliothek gestemmt werden. Vielmehr waren die professionelle Mitarbeit von Prof. Manfred Thaller vom Institut für Historisch-Kulturwissenschaftliche Informationsverarbeitung der Universität zu Köln und finanzielle Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft unabdingbare Voraussetzungen für die geglückte Realisierung. Man darf nach dem Pilotcharakter der CEEC damit rechnen, dass weitere Digitalisierungsprojekte folgen werden. Die Universität Heidelberg hat bereits sämtliche Jahrgänge des vom Säurefraß betroffenen Kladderadatsch (1848-1944) ins Netz gestellt, ein für die Geschichte dieser Epoche ähnlich verdienstvolles Unterfangen. Ebenfalls in Heidelberg möchte man mit Handschriften aus der Bibliotheca Palatina ein den CEEC vergleichbares kleineres mediävistisches Projekt realisieren; die Universität Kassel möchte im virtuellen Raum das Scriptorium von Helmarshausen wiederauferstehen lassen. 4 Insofern besteht die berechtigte Hoffnung auf einen ungehinderten weltweiten Zugriff auf bedeutende Handschriften- und Rara-Bestände in mittlerer Zukunft. Gleichzeitig bleibt zu hoffen, dass es den Projekten weder an Geldgebern noch an Zukunftsfähigkeit mangeln wird: Denn auch das beste Digitalisierungsprojekt muss sich überlegen, wie es im raschen technischen Wandel bestehen kann und seinen (wissenschaftlichen) Nutzern stets gute Arbeitsbedingungen bieten kann. Bei solchen Aussichten brauchen moderne Forscher nun doch nicht mehr neidisch auf Theodor Mommsen und seine Zeitgenossen sein. Sie haben nicht nur die Möglichkeit, eine ganze mittelalterliche Bibliothek auf ihren Schreibtisch zu stellen, sondern auch die Sicherheit, dass eventuelle Malheurs in ihren Arbeitszimmern den wertvollen Beständen nichts anhaben können.
Anmerkungen:
1 Vgl. Horst Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“. Gelehrtenleben im 19. und 20. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel der Monumenta Germaniae Historica und ihrer Mitarbeiter, unter Mitarbeit von Markus Wesche, München 1996, S. 119.
2 Sowohl die British Library (http://minos.bl.uk/index.html) als auch die Königliche Bibliothek in Kopenhagen (http://www.kb.dk/elib.mss) zeigen lediglich besonders repräsentative Teile ihrer Handschriften.
3 Technische Details bei Manfred Thaller, Die Handschriftenbibliothek des Kölner Doms im Internet, in: ders. (Hg.), Codices Electronici Ecclesiae Coloniensis. Eine mittelalterliche Kathedralbibliothek in digitalisierter Form (Fundus; Beiheft 1), Göttingen 2001, S. 21-39.
4 Kladderadatsch: <http://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/digi/kladderadatsch.html>; Bibliotheca Palatina: <http://palatina-digital.uni-hd.de>; Scriptorium Helmarshausen: <http://forschung.uni-kassel.de/cgi-bin/db2www/fobe.d2w/de?PNR=2704>. Alle gesehen am 25. 10. 2006.