Idee und Umsetzung der „Seventeen Moments in Soviet History“ stammen von dem College-Professor James von Geldern (Macalester College) und dem Direktor des Department of History der Michigan State University Lewis Siegelbaum. Anfangs- und Endpunkt jener „historischen Momente“ – 1917 und 1991 – markieren Geburt und Scheitern des sowjetischen Experiments. Die scheinbar zufällige Zersplitterung der sowjetischen Geschichte in jene „Augenblicke“ enthält den methodischen Anspruch der Autoren: Die unter den Jahreszahlen subsumierten Ereignisse und Entwicklungen – mit, im Vergleich zu anderen Geschichtsdarstellungen, starkem Akzent auf der Kultur-, insbesondere Literatur- und Filmgeschichte – werden in formaler Hinsicht als gleichrangige Geschehnisse und Phänomene behandelt, die praktisch qua Zufall zu „historischen“ wurden. So findet sich in lexikalischem Nebeneinander etwa für das Jahr 1921 der Kronstädter Aufstand neben dem Tod Aleksandr Bloks, oder für 1929 die „Liquidierung der Kulaken als Klasse“ – in angemessener Ausführlichkeit – neben dem Selbstmord Majakovskijs und der Inszenierung seiner letzten Stücke durch Vsevolod Meyerhold. Von Gelderns und Siegelbaums Hoffnung ist, dass diese Splitter einen Kosmos ergeben, der die Vergegenwärtigung jener vermeintlich abgeschlossenen Ära erleichtert und die verschiedenen Realitäten deutlich macht, in denen sich der Bauer, der Arbeiter, der regimemüde Intellektuelle, das Politbüromitglied bewegten. Diese Darstellungsweise, die sozial-, ideologie-, kultur- und politikgeschichtliche Perspektiven in ausgewogenem Verhältnis aufbietet, entgeht der Gefahr des Statischen und Hermetischen, weil jener Kosmos aus einzelnen, kleinen Geschichten immer wieder vervollständigt, verfeinert werden kann. Mögliche Lücken und notwendige Ergänzungen lassen sich so mühelos integrieren – so wäre vielleicht zu überlegen, den allgemeinen Fokus stärker auf die Kontinuitäten aus der vorrevolutionären Zeit zu lenken; die ideengeschichtlichen Beiträge könnten nicht nur vorrangig die Literatur- und Filmszene beleuchten, sondern auch die ungleich konservativeren religions- und geschichtsphilosophischen Strömungen, deren Vertreter oft erst zu Beginn der zwanziger Jahre emigrierten; sinnvoll wären auch die Erwähnung und Erläuterung eines so wirkmächtigen Ideologems wie dem „Judäobolschewismus“, der im Bürgerkrieg als Feindbild und Propagandamittel der Weißen Karriere machte und zum Teil bis heute als immer wieder bemühte Chimäre sogar durch Fachartikel geistert.
Ihr formal offenes Modell sichert den – nach Einschätzung der Rezensentin tendenziell sowjetophilen – Autoren die von ihnen offensichtlich angestrebte weltanschauliche Durchlässigkeit. Hier setzt auch ihr ideologischer Anspruch an: Sowjetgeschichte soll nicht als monolithisch-totalitärer Block wahrgenommen werden, sondern im Sinne der Annäherung an die „komplizierte Wahrheit“, die alleiniges Merkmal lebendiger Geschichte ist. Die Personalisierung der anonymen Historie scheint demnach die Motivation der Autoren zu sein – unausgesprochen zieht sich wie ein roter Faden die Menschwerdung des homo sovieticus durch die Darstellung: Am Beginn stehen die neue, emanzipierte, von juristischen Fesseln vorerst befreite Frau und die sich als Pioniere und Komsomolzen formierende Sowjetgeneration (1917, 1924, 1936) – bald ausgestattet mit der Moral „sozialistischer Persönlichkeiten“ (1929), die in der Denunziationsaffäre um den 14-jährigen Pavlik Morozov ihren denkwürdigen Höhepunkt findet (1934), sowie einer neuen sozialistischen Leistungsethik, die an die Stelle des alten kapitalistischen Konkurrenzdenkens treten soll und mit der Inszenierung der sogenannten Stoßarbeiter- bzw. Stachanov-Bewegung (1929/36) unter die Massen gebracht wird. Alsdann soll eine neue „Körperkultur“ den sowjetischen Menschen auch äußerlich in Form bringen, „Hygiene“ und „Gesundheit“ sind die neuen Schlagworte (1934). In der Nachkriegszeit setzt sich ein in den dreißiger Jahren unter Stalin bereits antizipiertes regressives Frauenbild wieder allmählich durch, mit dem die Zementierung der Geschlechtergrenzen in Familie und Beruf vollzogen wird und der Begriff „Doppelbelastung“ erstmals aufkommt (1954, 1968); der Oscar-prämierte Spielfilm „Moskva slezam ne verit [Moskau glaubt den Tränen nicht]“ setzt der sowjetischen Frau 1980 ein Denkmal. Das unruhige Jahr 1968 führt auch in der Sowjetunion zum Generationenkonflikt, in dessen Folge es zum Einbruch westlicher Lebensstile in die sowjetische Gesellschaft kommt, denen mit dem Beginn der Gorbačev-Ära keine administrativen Grenzen mehr gesetzt sind (1986). Gleichsam konterkarierend verläuft seit dem Initiationsjahr 1917 unter der mühsam polierten Oberfläche ein zweiter Strang, der mit der Entwicklung der „sozialistischen Persönlichkeit“ nicht in Einklang zu bringen ist: Es sind die Geschichten von den durch Krieg und Bürgerkrieg obdachlos gewordenen Kindern, den sogenannten „besprizorniki“ (1921), von den Gestalten der kurzen NEP-Phase, die zum Gegenbild des „neuen Menschen“ werden (1924), von den im Zuge der Entstalinisierung entlassenen GULAG-Insassen mit ihrer hochdifferenzierten Gegenkultur (1954), von der Dissidentenbewegung der siebziger Jahre und schließlich von den traumatisierten „neuen Veteranen“ des Afghanistan-Krieges (1986).
„Seventeen Moments“ ist eine multimediale Dokumentensammlung mit dem Anspruch, interessierten Laien und Studenten der russisch-sowjetischen Geschichte einen Überblick über ihren Forschungsgegenstand und erste tiefere Einblicke zu verschaffen. Je nachdem, welches Jahr vom Nutzer aufgerufen wird, enthält der Frame auf der rechten Seite Ausschnitte aus Originaldokumenten in englischer Übersetzung, Filmbeispiele – so etwa für das Jahr 1917 Ausschnitte aus dem Vsevolod-Pudovkin-Film „Konec Sankt-Peterburga [Das Ende von St. Petersburg]“ (1927) anlässlich des zehnten Jahrestages der Oktoberrevolution –, Hörproben, Fotografien, Bilder, Plakate (jeweils zuverlässig mit Quellenangaben) sowie Links zu weiterführenden Websites.
Attraktiv ist die Mühelosigkeit, mit der sich die propagandistischen Anstrengungen des Sowjet-Regimes auf den Schirm holen lassen. Diese bunte, ornamentale Seite der offiziellen Sowjetgeschichte birgt für den unbedarften Nutzer durchaus die Gefahr, nur illustrierend statt erhellend zu wirken. Trotzdem widerstehen die Autoren den Verlockungen des Mediums, denn die Darstellungsweise genügt allen Anforderungen von Wissenschaftlichkeit. Davon zeugen auch ein umfangreiches Glossar sowie ein Personenregister mit Kurzbiografien, die durch Fotografien ergänzt werden. Wie von amerikanischen Hochschullehrern kaum anders zu erwarten, ist dabei die didaktische Aufbereitung kongenial und mit leichter Hand dargeboten. Die Seite selbst, ihre Menüpunkte und Links lassen sich auch mit einem altmodischen Rechner ausgesprochen zügig aufrufen. Auch die Suchfunktion arbeitet logisch und sortiert die gefundenen Begriffe unter die Kategorien „Texts and Contexts“, „Subjects“ und „Media“ ein. Einzelne urheberrechtlich geschützte Texte sind nur registrierten Nutzern der Seite zugänglich. Das Design ist übersichtlich, minimalistisch und mit Liebe fürs Detail gemacht.
„Seventeen Moments“ spielt auf die berühmte sowjetische Fernsehserie „Semnadcat´ mgnovenij vesny [Siebzehn Augenblicke von Frühling]“ (1973) über den sowjetischen Meisterspion Maksim Isaev, alias Standartenführer von Stirlitz, an – und auf den nicht minder legendären ironischen Stirlitz-Kult in der Sowjetbevölkerung. Bei allem satirischen Understatement in der Namensgebung bleibt diese Website ein auch in formaler Hinsicht ambitioniertes und bei aller zeitlichen Eingrenzung unendlich themenreiches Projekt der Annäherung an die Wahrheit der sowjetischen Geschichte.