Der 150. Jahrestag der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins (ADAV) im Jahre 2013 hat nicht nur zu einem spürbaren Anstieg der Buchpublikationen rund um die Historie der Sozialdemokratie in Deutschland geführt: Mit dem Online-Portal zur Geschichte der Sozialdemokratie nutzt das „Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung“ (FES) auch das Internet als Medium für die Darstellung einer kleinen Geschichte der SPD.1
Anders als das restliche Online-Angebot von Archiv und Bibliothek der FES richtet sich diese Seite sowohl an ein breites Publikum, das nur wenige Vorkenntnisse zur Geschichte der Sozialdemokratie mitbringt, wie auch an Aktive im Umfeld der Sozialdemokratie. Wie bei der Institution naheliegend, ist die Darstellung der Parteigeschichte grundsätzlich von Sympathie für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung geprägt. Dabei ist der Blick auf die Geschichte der SPD aber durchaus plural: Anders als in manchen anderen aktuellen Publikationen werden auch manche „Abweichungen“ von der Parteimehrheit nach links erwähnt und in die Würdigung der jeweiligen Epochen einbezogen. Die einzelnen Rubriken der Website erzählen nicht „die“ Geschichte „der“ Sozialdemokratie, sondern bieten Anknüpfungspunkte für unterschiedliche Interpretationen und Einschätzungen. Die einzelnen Texte sind flüssig und gut lesbar geschrieben und bilden den aktuellen Stand der SPD-Geschichtsschreibung gut ab.
Die Darstellung der Parteigeschichte erfolgt dabei nicht in einem nach Jahreszahlen chronologisch aufgebauten Raster. Den Mittelpunkt der Vorstellung bildet vielmehr die Rubrik „Erinnerungsorte der Sozialdemokratie“. Unter Bezugnahme auf die Arbeiten der Historiker Pierre Nora, Hagen Schulze und Etienne Francois2 definieren die Herausgeber/innen der Seite „Erinnerungsorte“ als „langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Beziehungsgefüge eingebunden sind und sich in dem Maße verändern, wie sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Anwendung und Übertragung wandelt“. Dabei könne es sich bei „Erinnerungsorten“ um Personen, Institutionen, tatsächliche Orte wie auch Symbole, programmatische Ideen und Texte handeln. Die Herausgeber/innen wollen damit den Ambivalenzen und unterschiedlichen Blickwinkeln auf die „Erinnerungsorte“ Raum geben. Manche „Orte“ seien in ihrer Bedeutung streitig, wie beispielsweise die Bedeutung Rosa Luxemburgs für die Sozialdemokratie, andere unterlägen im Laufe der Zeit einem Wandel: Der Blick auf das „Sozialistengesetz“ habe sich verändert, als die aktiven Sozialdemokrat/innen nicht mehr über eigene Erfahrungen unter den Gesetzen verfügten. Der „Revisionismusstreit“ an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dagegen stellt für die Herausgeber auf Grund des Versiegens der innersozialdemokratischen Diskussion ein „erloschener“ Erinnerungsort dar.
Die einzelnen Beiträge wurden von anerkannten Expert/innen der sozialdemokratischen Geschichtswissenschaft verfasst. Zu den Autor/innen gehören unter anderem Udo Achten, Beatrix Bouvier, Peter Brandt, Dieter Dowe, Helga Grebing und Heinrich August Winkler.
Auswahlkriterien für die hier vorliegende Zusammenstellung sind nach Angaben der Herausgeber/innen, dass der Vergangenheitsbestand mutmaßlich über eine große Trägerschaft verfügt, an den Tatbestand eine emotionale Bindung besteht und der Tatbestand noch eine gewisse Aktualität besitzt. Als Referenzgröße soll dabei die Wahrnehmung der aktuellen Mitgliedschaft der SPD dienen.
Das Erschließen der so ausgewählten „Erinnerungsorte“ kann in erster Linie über die Rubrik „Zeitreise“ erfolgen. Diese lässt sich sowohl über eine Chronologie wie auch über das Anklicken einzelner Städte antreten. Die Seiten sind jeweils in einer Mischung aus Text und Bildquellen aufgebaut und legen den Schwerpunkt auf die programmatische Entwicklung der Sozialdemokratie. So findet sich beispielsweise im Eintrag zu Karl Marx einerseits der Hinweis auf das Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 als einem für die Entwicklung der Arbeiterbewegung relevanten Texte; andererseits ist hier auch die Aufforderung an die SPD zu finden, die Antwort auf die Frage, ob Marx auch heute noch politisch etwas zu sagen habe, nicht anderen zu überlassen, sondern Marx als Teil ihrer Wurzeln anzuerkennen. Aufgelockert wird diese Darstellung durch ein kleines Filmchen einer sich drehenden Spieluhr, auf der sich Karl Marx mit erhobener Faust zur Melodie der „Internationalen“ dreht.
Weitere Stichworte dieser Rubrik sind unter anderem der „Revisionsmusstreit“ oder die „Frauenemanzipation“. Unter letzterem findet sich sowohl eine Bildstrecke mit Plakaten und Fotos als auch ein kurzes Tondokument mit einer Rede der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Marie Juchaz von 1928 zur „Frau als vollberechtigte Staatsbürgerin“. Unter der Überschrift „Das Zeltlager“ findet sich ein Eintrag zur Kultur der Arbeiterjugendbewegung in der Weimarer Republik. Neben Fotos findet sich dort auch ein kurzer Film aus einem Zeltlager. Willy Brandt ist über den Eintrag „Willy wählen“ mit fünf kurzen Filmen aus der damaligen Wahlwerbung von Künstler/innen für die SPD illustriert. Die Rubrik endet mit einem Eintrag zu August Bebels Uhr zur Jahreszahl 2012.
In Mittelpunkt der Rubrik „Service“ steht eine lange Serie mit Bildern aus der Geschichte der Sozialdemokratie. Neben Fotos bekannter und nicht (mehr) bekannter Persönlichkeiten wie Karl Marx, Stefan Born, August Bebel, Karl Kautsky, Hugo Haase, Paul Levi, Louise Schröder und Friedrich Ebert finden sich dort auch Reproduktionen von Schriften, Flugblättern und Plakaten aus den vergangenen 150 Jahren. Weitere Fotos zeigen Auszüge aus dem Parteileben, wie etwa der Wahlagitation. Beispielhaft sei auf ein Bild aus der SPD-Parteischule aus dem Jahr 1908 verwiesen: Neben der Dozentin Rosa Luxemburg und dem Parteivorsitzenden August Bebel sowie weiteren später prominenten Sozialdemokraten sieht man darauf auch den damaligen Parteischüler und späteren Staatspräsidenten der DDR, Wilhelm Pieck. Sämtliche Bilder können kostenfrei für Publikationen zum SPD-Jubiläum genutzt werden.
Eine weitere Rubrik unter den „Erinnerungsorten“ ist „Mein Erinnerungsort“: In dieser bislang nur mit vier Einträgen versehenen Rubrik soll aktive Sozialdemokrat/innen ihren persönlichen Erinnerungsort beschreiben. Die dahinterstehende Idee ist, neben den „offiziellen“ Erinnerungsorten auch persönliche Zugänge zur Sozialdemokratie zu dokumentieren.
Weiterhin findet sich auf der Webseite ein Quiz, welches allerdings sehr unübersichtlich gestaltet ist. Auf einer Landkarte Europas müssen binnen kurzer Frist wichtige Ereignisse der Sozialdemokratie der vergangenen Jahrzehnte lokalisiert werden. In der Rubrik „Chronik“ werden im Rahmen eines Tageskalenders Ereignisse zwischen den Jahren 1820 und 1989 vermerkt. Die jeweiligen Einträge sind knapp und werden durch eine Bildquelle ergänzt. Bislang schwach ausgebaut ist die Rubrik „Persönlichkeiten im Fokus“, in der bis März 2013 Peter Struck, Friedrich Ebert und Willy Brandt mit Texten und weiteren Lesehinweisen vorgestellt wurden. Über das Online-Portal ist auch ein Begleitportal zur Wanderausstellung zur Geschichte der SPD erreichbar, die seit dem September 2012 durch verschiedene Städte in Deutschland tourt. Mit der Rubrik „Arbeiterbewegung“ erfolgt zudem die Verlinkung auf ein bestehendes Portal der FES, das einen Einstieg in das sehr umfangreiche Online-Archiv der FES zu Texten und Quellen der Geschichte der Arbeiterbewegung bietet.
Insgesamt wird mit dem Online-Portal der für die „Erinnerungsorte der Sozialdemokratie“ skizzierte Anspruch eingelöst. Es bietet einen anregenden Zugriff auf die Geschichte der Sozialdemokratie mit ihren unterschiedlichen zeitgebundenen Perspektiven und damit auch abweichenden oder konkurrierenden Deutungen. Das Online-Portal ist ein schönes Beispiel dafür, wie Parteigeschichte niedrigschwellig aufbereitet werden kann, ohne allzu sehr zu vereinfachen oder große Lücken zu lassen. Die Texte sind sorgfältig verfasst und gut lesbar. Auch das umfangreiche Bildmaterial bietet interessante Einblicke in die Parteigeschichte. Zu diskutieren wäre möglicherweise, welche „Erinnerungsorte“ auf der Landkarte noch fehlen. Die Seite soll allerdings im Laufe des Jahres 2013 weiter ergänzt werden, so dass für eine abschließende Bewertung in dieser Hinsicht noch abzuwarten ist. Es ist zu wünschen, dass die Ergänzungen das bislang erreichte Darstellungsniveau auf der Seite halten können.
Anmerkungen:
1 <http://www.geschichte-der-sozialdemokratie.de> (23.05.2013).
2 Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire. Paris 1984-1992; Etienne François / Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, München 2001.