Visual History Archive der USC Shoah Foundation

Cover
Titel
Visual History Archive.
Veröffentlicht durch
USC Shoah Foundation. The Institute for Visual History and Education der University durch of Southern California (USC): Los Angeles, US <https://sfi.usc.edu/>
Von
René Schlott, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Vor 25 Jahren lief in den Kinos weltweit „Schindlers Liste“ und seit nunmehr einem Vierteljahrhundert ist der vielfach ausgezeichnete Streifen Teil der globalen Erinnerungskultur an den Holocaust. Der seinerzeit kontrovers diskutierte Film wirkte auf die internationale Holocaustforschung wie ein Katalysator und war Ausgangspunkt eines damals weltweit einmaligen Projektes: Im Jahr 1994 begann eine von Regisseur Steven Spielberg begründete Stiftung mit der Aufzeichnung von Interviews mit Überlebenden und Zeitzeugen der Shoah. Inzwischen umfasst die Sammlung „Visual History Archive“ mehr als 100.000 Stunden Videomaterial aus 65 Ländern in 43 Sprachen, darunter auch Arabisch und Ladinisch. Am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus zeigt der Filmverleih Universal Pictures International Germany den Film einmalig in technisch überarbeiteter Version wieder in den deutschen Kinos.

Die Aufzeichnungen des „Visual History Archive“ betreffen nicht mehr nur die Shoah, sondern auch Zeitzeugenaussagen anderer in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgter Minderheiten, etwa der Sinti und Roma, von Homosexuellen sowie von Zeugen Jehovas. Daneben wurde die Sammlung in den letzten Jahren sukzessive ergänzt, sodass heute Videos mit Überlebenden der Völkermorde in Ruanda (1994), im Osmanischen Reich (1915/16), in Kambodscha (1975–1979), des Massakers in Nanjing (1937) und der Vertreibung der Rohingya aus Myanmar (2017) verfügbar sind. Außerdem finden sich einige Zeitzeugenvideos zu antisemitischen Gewalttaten unserer Gegenwart, darunter als eine der neuesten Aufzeichnungen ein Interview mit dem Bruder des Attentäters von Toulouse, der im Jahr 2012 vier Menschen in einer jüdischen Schule ermordete.

So verständlich der Wunsch nach der Dokumentation möglichst vieler Gewalttaten ist, so beliebig wirkt die Auswahl inzwischen. Warum etwa gibt es keine Videoaussagen zum Bürgerkrieg in Syrien, wo doch die Bürgerkriege in Guatemala (1978–1996), in der Zentralafrikanischen Republik (seit 2006) und im Südsudan (2013–2018) vertreten sind? Als seine strategischen Prioritäten gibt das Visual History Archive „Research, Education, and Access“ an. Aber die Sammlung verfolgt weniger systematische, analytische oder wissenschaftliche Zwecke, sondern hat nach eigener Aussage vor allem eine didaktische Intention und will ihre Nutzerinnen und Nutzer zu Toleranz, Frieden und einer Akzeptanz der Menschenrechte erziehen.

Alle Videointerviews wurden von eigens geschulten InterviewerInnen geführt und von speziell ausgebildeten Kameraleuten aufgezeichnet. Sie dauern durchschnittlich zwei Stunden und umfassen die jeweilige Geschichte der Überlebenden vor, während und nach dem Völkermord. Bei aller quellenkritischen Distanz gegenüber der Oral History stellen sie doch eine einmalige Quelle auch für die Forschung dar. Denn mit einer von der „Shoah Foundation“ patentierten Technologie ist jede Videominute mit einem durchsuchbaren Index aus 60.000 Schlüsselwörtern und -begriffen verschlagwortet. Die ausschließlich in englischer Sprache verfügbare Benutzerführung ist übersichtlich und erschließt sich den BenutzerInnen rasch. In den Aufzeichnungen werden mehr als eine Million Namen genannt, die sich ebenfalls durchsuchen lassen. Neben den Videos sind mehr als 700.000 Bilder in der Datenbank, darunter zahlreiche Filmstills. Bei der schieren Größe der Sammlung ließen sich weitere Superlative anführen.

Allerdings gibt es für die Nutzung eine gewichtige Einschränkung: So lassen sich zwar alle für die einzelnen Videos angelegten Datensätze vom Heim- oder Bürocomputer aus durchsuchen, allerdings können nicht alle Videos angeschaut werden. Wenn man etwa nach dem Stichwort „Sonderkommando 1005“ sucht, erscheinen 32 Treffer, jedoch sind nur drei davon als Videos online. Zur Sichtung aller anderen Aufzeichnungen müsste man eine der weltweit 138 Einrichtungen aufsuchen, in denen die gesamte Datenbank verfügbar ist, darunter an der Freien Universität Berlin.

Nur 3.000 der mehr als 55.000 Videos lassen sich auch vom Heimrechner aus ansehen. (Die Zahlenangaben differieren auf der Website zwischen 52.000 und 55.000 Aufzeichnungen und zwischen 1.800 und 3.108 verfügbaren Videos.) Allerdings funktioniert dies nur nach einer Registrierung auf der Website, bei der etwa Angaben zum Beruf und zur Nutzungsabsicht erforderlich sind. Im Benutzerbereich ist es möglich, eigene Projekte anzulegen und in einer Art Playlist Videos zu einem bestimmten Thema zusammenzustellen und diese Listen in verschiedene Dateiformate umzuwandeln. So lassen sich Besuche in einer der Institutionen mit Vollzugang leicht vorbereiten und effektiv gestalten. Warum aber eine Registrierung notwendig ist, um einen Teil der Videos direkt sehen zu können, wird nicht erklärt. Ebenso wenig wird klar, warum nicht alle Videos verfügbar sind, sondern weniger als zehn Prozent aller Aufzeichnungen. Auch das Auswahlkriterium der verfügbaren Videos ist nicht transparent. Ebenso ist offenbar in der Mobilversion des „Visual History Archive“ der Registrierungsvorgang gar nicht erforderlich.

Doch erscheinen all diese kritischen Bemerkungen angesichts der Fülle an verfügbarem audiovisuellen Material allzu beckmesserisch, taucht man erst einmal in die Lebensgeschichten der Interviewten ein, hört ihre Stimmen, sieht ihre Gesichter, blickt in ihre Wohnzimmer. Allein um das nach der Registrierung verfügbare Material zu sehen, bräuchte man ungefähr 250 Tage und Nächte.

Im kommenden Jahr feiert das „Visual History Archive“ sein 25. Gründungsjubiläum. Schon jetzt ist es die weltgrößte Datenbank mit Zeitzeugenaussagen zu den Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts, eine Forschungs- und Bildungsressource ohne Beispiel, die es zu entdecken gilt.