Cold War International History Project

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Titel
Cold War International History Project (CWIHP).
Veröffentlicht durch
Woodrow Wilson International Center for Scholars: Washington DC US
Enthalten in
Von
Peter Danylow

Das Cold War International History Project (CWIHP) zählt zu den mittlerweile zahlreichen Versuchen, Quellensammlungen im Internet frei zugänglich zu machen.1 Getragen wird das CWIHP vom Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington, D.C. Weitgehend privat finanziert durch die John D. and Catherine T. MacArthur Stiftung und weitere US-Geldgeber will das Projekt, es arbeitet seit 1991, neue Informationen und Perspektiven zur Geschichte des Kalten Kriegs vorstellen. In erster Linie werden jüngst entdeckte Archivalien aus den Ländern des "Soviet Orbit" veröffentlicht. Als Direktor des Projekts fungiert Christian Ostermann, Mircea Munteanu als Project Associate und Richard Thomas als Production Editor.

Das CWIHP versteht sich nicht nur als virtuelles Archiv des Kalten Kriegs sondern veröffentlicht ein Bulletin und veranstaltet Konferenzen zu zeitgeschichtlichen Themen. So wird im Oktober 2004 gemeinsam mit der Hoover Institution, Stanford, eine Tagung zur Wirkung westlicher Radiostationen auf die Gesellschaften der osteuropäischen Staaten stattfinden, vor allem die US-Sender Radio Free Europe und Radio Liberty sollen Gegenstand der Diskussionen sein. Zur Vorbereitung werden in den Archiven der baltischen Staaten, Russlands und in osteuropäischen Staaten Dokumente über die Breitenwirkung der Auslandssender im Ostblock gesammelt. Weitere Projekte der Institution betreffen die Effizienz der Sicherheitsapparate der UdSSR und für 2005 das Jubiläum der KSZE - Schlussakte von Helsinki, für beide Konferenzen ergeht jeweils ein "call for papers". Dies zeigt auch, dass das CWIHP in der zeitgeschichtlichen Forschungslandschaft der USA gut verankert ist.

Die eigentliche Zielsetzung des Projekts - und deshalb ist es rezensionswürdig - liegt indessen woanders: Neu entdeckte Primärquellen sollen die Hintergründe des Kalten Krieges im neuen Licht erscheinen lassen. Die Web-Site bietet schon auf der Homepage per Link-Verbindung Sammlungen zu wesentlichen Krisen des Ostblocks an: zum Korea-Krieg, zur polnischen und ungarischen Krise des Jahres 1956, zur Kuba-Krise, zu Polen 1980-1981, zur Afghanistan-Invasion und schließlich zum Ende des Kalten Kriegs.

An wen richtet sich dieses Angebot? Greift man exemplarisch die Sammlung zum Umfeld der polnischen und ungarischen Krise 1956 heraus, so findet man dort einen Aufsatz des ungarischen Autors Csaba Bekes unter dem Titel: New Findings on the 1956 Hungarian Revolution; einen gut dokumentierten Beitrag von Johanna Granville über die tragische Figur des Aufstands Imre Nagy. Leszek Gluchowski (Toronto) veröffentlicht hier ein umfangreiches, quellengestütztes Arbeitspapier - unter Beteiligung von Edward Nalepa (Warschau), dem Autor eines Standardwerks über sowjetische Offiziere in der Polnischen Armee bis 1968: The Soviet-Polish Confrontation of October, 1956: The Situation in the Polish Internal Security Corps. Das Dossier- denn um ein solches handelt es sich eigentlich bei dieser Sammlung - enthält auch Quellen: streng geheime Berichte des sowjetischen Botschafters Andropov aus Budapest, oder Funkberichte von Suslov und Mikojan über die zunehmende Brisanz der Lage in Ungarn aus sowjetischer Sicht.

So zentral und bedeutsam die Quellen sind, so sehr fallen zwei Mängel der Projektkonzeption auf: der erste Mangel ist technischer Natur und ärgerlich, polnische (und deutsche) Sonderzeichen werden nicht von allen Browsern korrekt wiedergegeben, der Name Gomulka erscheint als Go=BBka, die Ausdeutung der Zeichenkombination =DCbererf=FCllung fordert gewisse politische Vorkenntnisse. Wenn man wissenschaftlich mit den Sammlungen arbeiten will, dann ist der zweite Mangel bedeutender: Alle Archivalien werden nur in englischer Übersetzung veröffentlicht, in der Regel wird nicht auf einen leicht zugänglichen Originaltext verwiesen. Für zeitgeschichtliche Arbeiten über Osteuropa wären zumindest die russischen oder polnischen Originaltexte (und natürlich auch deutsche) wünschenswert und sei es nur zum Vergleich der Übersetzung. Noch besser wären gescannte Originale als Referenz, die einen Eindruck davon vermitteln, wie mit den Dokumenten gearbeitet worden ist.2

Unabhängig von den oben skizzierten Problemen eignen sich die Sammlungen der CWIHP-Mitarbeiter für die universitäre Lehre und für spezifische Forschungsvorhaben, etwa zu den Systemkrisen des sozialistischen Lagers oder zur Technik der Entscheidungsfindung in den zentralistisch organisierten Gesellschaftssystemen sowjetischen Typs. Sie stellen eine gute Ergänzung zum ohnehin notwendigen Literatur- und Quellenapparat dar. Denn der unmittelbare Zugang zu Primärquellen über das Internet - für jeden wirklich interessierten Studenten - vermittelt von Anfang an einen besseren Eindruck über die Diktion und über manche Erwägungen der beteiligten Entscheidungsträger. Einige der im Dossier veröffentlichten Aufsätze behandeln wichtige Fragestellungen auf sehr hohem Niveau, beispielsweise zur Militärgeschichte in kommunistischen Regimes und richten sich damit in erster Linie an Spezialisten.

Vielleicht noch wertvoller sind die Dokumente des virtuellen Archivs. Hier zeigt sich, dass im Rahmen des CWIHP sehr breit angelegt Quellen aus ehemals kommunistischen Staaten gesammelt werden. Diese Sammlung ist als offener Prozess angelegt. Unter dem Titel "Germany in the Cold War" finden sich 14 Studien und Einzeldokumente. So kommentiert beispielsweise Hope Harrison ausführlich die sowjetischen Protokolle zweier Treffen der sowjetischen Staatsführung mit einer Partei und Regierungsdelegation der DDR im Juni 1959 auf dem Höhepunkt der Diskussionen um einen Separatfrieden der UdSSR mit der DDR. Ein Aspekt der Geschichte des Kommunistischen Blocks, der bisher selten diskutiert worden ist, wird in diesen Quellen deutlich: Selbst auf dem, tatsächlichen oder vermeintlichen, Höhepunkt sowjetischer Macht - als der Westen im Sputnik-Schock verharrte und manch einer Aussagen Chrušcevs zur Überlegenheit des Sozialismus ernst nahm - wollte der SED-Chef Walter Ulbricht zwar nach sowjetischem Beispiel die Bundesrepublik im Lebensstandard überholen, allerdings mit substanzieller Wirtschaftshilfe durch die UdSSR. Planungschef Bruno Leuschner war um seine Aufgaben nicht zu beneiden, weil er allenfalls die Hälfte der Kredite erhielt, die seiner Ansicht in der DDR gebraucht wurden. Chrušcev verwies darauf, dass auch die Unionsrepubliken immer das Doppelte oder Dreifache von dem fordern würden, was sie am Ende erhielten. Die DDR wollte Südfrüchte mit den Krediten kaufen, doch Mikojan empfahl stattdessen für den Bezug solcher Produkte den Warentausch mit den südlichen sozialistischen Bruderstaaten, um damit gleichzeitig das politische Gewicht der DDR im sozialistischen Lager zu erhöhen.3
Der Vergleich der DDR mit einer sowjetischen Unionsrepublik hatte durchaus ihren Reiz, und das "sozialistische Lager" war schon 1960 eine kostspielige Angelegenheit für die UdSSR. Die Auswahl der Dokumente zum Umfeld der Berlin Krisen von 1958 bis 1962 ist nachvollziehbar, vor allem die Dokumente aus dem ZK-Archiv der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei geben wertvolle Hinweise zum Verhältnis der Kommunistischen Parteien untereinander und natürlich zur Haltung gegenüber den beiden deutschen Staaten.

Im virtuellen Archiv finden sich bislang 45 thematische Sammlungen. Schwerpunkte sind der Beginn des Kalten Kriegs, die Machtkämpfe um die Stalin-Nachfolge, die Kuba-Krise, ferner Quellen zu den meisten Ländern des "sozialistischen Weltsystems" von Polen bis zur Mongolei, der VR China und Vietnam/Indochina. Die Invasion in die CSSR 1968 ist ebenso Thema wie die militärische Planung des Warschauer Pakts. Letztere Sammlung allerdings enthält allein die - offizielle - Auswertung von NVA-Dokumenten des Bundesverteidigungsministeriums, sie ist also nicht neu und bietet wenig "new evidence".

In ihrer Ausrichtung interessanter erscheinen die Ergebnisse der Sichtung jugoslawischer Archive unter "Yugoslavia and the Cold War". Svetozar Rajak hat Materialien über die Wiederannäherung der UdSSR an Titos Jugoslawien aus den Jahren 1953 bis 1955 übersetzt. So entschuldigt sich 1954 Chrušcev persönlich bei Tito für ein bedauerliches Versehen: "We consider it important to inform you of an inappropriate formulation, which is at the same time contradictory to directives from the CC CPSU, that was allowed to pass through in the book "Historical Materialism" (Second edition), published by GOSPOLITIZDAT in June 1954. In this book, contrary to our intentions, and as a result of an oversight by the author and GOSPOLITIZDAT, a disturbing provocation appeared aimed against the leadership of Yugoslavia." Die Autoren hatten den ideologischen Schwenk nicht rechtzeitig erkannt: Zwei Jahre früher sprach man in ganz Moskau - ähnlich wie im besagten Buch - nur von der trotzkistischen Tito-Clique!4

Die Sammlungen des CWIHP sind noch sehr heterogen, d. h. je nach Thema mehr oder weniger umfangreich und von sehr unterschiedlicher Qualität. Dennoch, das Konzept überzeugt, die Zusammenarbeit mit Fachleuten aus Osteuropa und Asien, die Archivrecherchen vor Ort übernehmen und in ihren Kommentaren auch den nicht-westlichen, nicht amerikanischen Blickwinkel nutzen, erscheint schon beim heute erreichten Stadium des Projekts fruchtbar. Das CWIHP ist ein gelungener Versuch mit vergleichsweise geringem Aufwand an Personal, die Phase des Kalten Kriegs quellenbasiert zu untersuchen und das Internet ist als Publikationsform für diese Quellensammlungen gut geeignet. Zwar kann das CWIHP - und will vermutlich auch nicht - die Bibliotheksrecherche ersetzen, aber wenn das Projekt noch für einige Jahre fortgesetzt wird, so könnte eine sehr umfassende und unverzichtbare Quellensammlung zur Geschichte des Kalten Krieges entstehen. Allerdings müssten dann auch westliche Schlüsseldokumente in ähnlicher Weise verfügbar sein wie die nunmehr zugänglichen Archivalien östlicher Provenienz. Dies wäre auch eine Anregung für die einschlägigen Archive, die Chancen einer Web-Publikation von Quellen stärker zu nutzen.

Anmerkungen:
1 Ähnliche Quellensammlungen bieten u.a. das Venona-Projekt der CIA <http://www.cia.gov/csi/books/venona/part1.htm> oder das Avalon-Project der Yale Law School zur Kuba-Krise <www.yale.edu/lawweb/avalon/ diplomacy/forrel/cuba/ cuba035.htm>.
2 Ein gutes Beispiel bietet hier die Praxis des Hauses der Wannseekonferenz in Berlin <http://www.ghwk.de/>.
3 Vgl. "Summary of the Talks with the GDR Party-Governmental Delegation on 18 June 1959. On the Soviet side, the same people took part as in the previous meeting, and also A.N. Kosygin and N.S Patolichev," 4 July 1959 <http://wwics.si.edu/index.cfm?topic_id=1409&fuseaction=library.document&id=191p;id=191>.
4 Vgl. Fourth Letter from Nikita S. Khrushchev, First Secretary of the Central Committee of the Communist Party of the Soviet Union, to Tito and the Executive Committee of the Central Committee of the League of Communists of Yugoslavia <http://wwics.si.edu/index.cfm?topic_id=1409&fuseaction=library.document&id=15114id=15114>