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Titel
Jiddische Drucke (Retrospektive Digitalisierung).
Herausgeber
Heuberger, Rachel, (Leiterin der Judaica-Sammlung) <heuberger@stub.uni-frankfurt.de>
Veröffentlicht durch
Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main DE <http://www.stub.uni-frankfurt.de/>
Enthalten in
Von
Diana Matut, Seminar für Jüdische Studien, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. Main verfügt über eine der renommiertesten Hebraica- und Judaicasammlungen Deutschlands.1 Von ihrem Leiter Prof. Aron Freimann, der sie von 1898 bis 1933 betreute, wurde sie vor dem Krieg zu einer der bedeutendsten Spezialsammlungen des europäischen Kontinents ausgebaut.2 „Die Sammlung bestand auch die Aneignungsversuche nationalsozialistischer Einrichtungen ohne Verluste. Tragischerweise verbrannten bei der Bombardierung Frankfurts fast alle hebräischen Bücher, gerettet werden konnten lediglich die ca. 20.000 Bände zählende Judaica-Sammlung sowie einige besonders wertvolle Hebraica-Bestände.“3

Jiddische Drucke ist ein Projekt der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, welches sich zum Ziel gesetzt hat, die jiddischen Bestände des 16. bis 20. Jahrhunderts im Internet frei zugänglich zu machen. Gefördert wird dieses Vorhaben von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die bereits ein anderes wichtiges judaistisches Projekt der Frankfurter Bibliothek unterstützt, und zwar Compact Memory, das Internetarchiv zur Erschließung deutschsprachiger jüdischer Periodika.4

Die in der Sammlung enthaltenen jiddischen Werke spiegeln nicht nur die Entwicklung von Sprache und Literatur, sondern auch die des jüdischen Lebens in Europa wieder. So finden sich zum einen west- zum anderen ostjiddische Bücher in dieser Kollektion: Das Westjiddische (gesprochen z.B. in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Norditalien etc.) verschwand im Zuge von Aufklärung und Assimilation und musste den jeweiligen Landessprachen weichen. Das Ostjiddische jedoch, aus dessen Dialekten das heutige Standartjiddisch erwachsen ist, wurde von mehreren Millionen Menschen bis zur Shoa gesprochen. Dies ist an den Druckorten und -jahren der Frankfurter Sammlung klar erkennbar: Stammen die frühen Drucke (bis zum 18. Jahrhundert) hauptsächlich aus Westeuropa (Cremona, Basel, Fürth, Offenbach, Frankfurt, Amsterdam oder Prag [damals im westjiddischen Sprachgebiet]), so verlagerte sich mit dem Erhalt des Jiddischen und der jüdischen traditionellen Lebensart in Osteuropa auch der Druckschwerpunkt dorthin (z.B. nach Warschau oder Wilna). Selbst die Übergangssituation des Westjiddischen zum Deutschen ist insofern gut dokumentiert, als einige Werke sichtlich dem daytshmerishn Stil verfallen sind, d.h., sie gleichen sich in Vokabular, Syntax und Morphologie immer mehr dem Deutschen an.

Die inhaltliche Vielfalt jiddischen literarischen Lebens wird durch das große Spektrum der gesammelten Werke sehr gut repräsentiert: Neben Übertragungen hebräischer religiöser Werke finden sich Gebete, Gesetzesliteratur, Belletristik, Lexika, Theaterstücke, Gedichte, (Auto-)Biographien, wissenschaftliche Sekundärliteratur, medizinische und pädagogische Ratgeber usw. – auch dies im Einklang mit den sich wandelnden Interessen und Bedürfnissen der jüdischen Bevölkerung.

Bis jetzt sind ca. 800 jiddische Drucke vollständig im Internet verfügbar mit einem Gesamtvolumen von ca. 200.000 Druckseiten, die dafür verfilmt und gescannt wurden. Bei der Auswahl waren offenbar nicht inhaltliche Kriterien ausschlaggebend, sondern es wurde systematisch alles verfilmt, was an Material vorhanden und eventuell als gefährdeter Bestand gilt. Der Wert einer solchen Unternehmung für Wissenschaftler und interessierte Laien kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, bleiben doch mühselige Recherche sowie Vervielfältigungskosten nebst partiell langwieriger Bestellarbeit erspart.

Die technische Realisierung des Projekts oblag der semantics Kommunikationsmanagement GmbH, Aachen5, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Softwaresysteme zur Erfassung und Darstellung bibliographischer Daten im Internet sowie zur Literaturverwaltung für Bibliotheken, Archive und Forschungseinrichtungen zu erstellen. Es ist möglich, die gesamten bibliographischen Angaben der jiddischen Drucke nach verschiedenen Kriterien (Autor, Titel, Drucker, Ort, Jahr etc.) geordnet aufzurufen. Darüber hinaus gibt es sowohl eine Volltext- als auch eine Expertensuche für die bibliographischen Daten. Es ist jedoch nicht möglich, nach Schlagwörtern oder gar einzelnen Begriffen in den Dokumenten selbst zu suchen, da aufgrund der hebräischen Buchstaben die Seiten nur als images erfasst werden konnten. Die Wiedergabequalität der einzelnen Blätter aber ist bemerkenswert und bietet in vielen Fällen sogar eine bessere Lesbarkeit als die Originale selbst. Auch können die einzelnen Seiten in verschiedenen Ansichtsvarianten, Formaten und Größen dargestellt werden, was das Entziffern auch schwer lesbarer Stellen sehr erleichtert.

Zu Bedauern ist, dass das Auffinden von Titeln recht mühselig sein kann und nur dann sofort gelingt, wenn man Angaben wie z.B. die Signatur zur Verfügung hat. Dies liegt daran, dass keine Transkriptionstabelle zur Verfügung steht aus der sofort ersichtlich würde, welcher hebräische Buchstabe für welches lateinische Zeichen steht und umgekehrt (ganz zu schweigen von der Vokalisierung). So kann die Suche nach einem konkreten Autor oder Titel auch für den Fachmann durchaus langwierig sein, wenn alle möglichen Schreibweisen versucht werden müssen. Eine Suchmaske mit hebräischen Schriftzeichen wäre deshalb wünschenswert und könnte eine enorme Zeitersparnis für den Nutzer bedeuten. Die Transkription krankt ferner an dem bisher im gesamten deutschen Bibliothekswesen generell noch nicht geklärten Problem der jiddischen Umschrift, denn eigentlich müsste innerhalb der jiddischen Transkription noch einmal nach neueren und älteren Werken unterschieden werden, so wie sich auch wissenschaftlich dahingehend ein Standart etabliert hat.6

Dies ist jedoch ein Aspekt, der in Anbetracht der Größe des Projekts und dessen Bedeutung für die Forschung getrost als nebensächlich bezeichnet werden kann. Es bleibt zu wünschen, dass mehr Bibliotheken diese Digitalisierungstechnik nutzen werden und, dem Beispiel Frankfurts folgend, freien Internetzugang ermöglichen.

Anmerkungen:
1 Ernst Róth und Leo Prijs: Hebräische Handschriften. Teil1: Die Handschriften der Stadt und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. Bd. 1-3. in der Reihe: Verzeichnis der orientalischen Handschriften in Deutschland, Bände 6.1-3 Stuttgart 1982-1993; A. Steinhäuser: Verzeichnis der Jiddischen Drucke. Bestände der Sondersammelgebietsbibliothek. Frankfurt a. Main 1993 und Aron Freimann: Katalog der Judaica und Hebraica / Stadtbibliothek Frankfurt am Main. Frankfurt 1932; Nachdruck 1968.
2 siehe die Monographie Rachel Heubergers: Bibliothek des Judentums: Die Hebraica- und Judaica-Sammlung der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. Entstehung, Geschichte und heutige Aufgaben. Frankfurter Bibliotheksschriften 4. Frankfurt am Main 1996.
3 siehe: http://www.stub.uni-frankfurt.de/ssg/judaica.htm [Stand 12. 11. 2003]
4http://www.compactmemory.de/, siehe auch Webrezension von Johannes Valentin Schwarz in H-Soz-u-Kult 05.03.2004 http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=30&type=rezwwwzwww
5http://www.semantics.de/projekte/index.html
6 Für die moderne jiddische Literatur wird auf die YIVO-Standarttranskription zurückgegriffen (sie wurde noch vor dem Zweiten Weltkrieg von der Yidisher Visnshaftlekher Organisatsye entwickelt), für ältere Werke wird seit Jahren z.B. das Trierer System verwendet, was einen sehr genauen und guten Rückschluss auf den Originaltitel zulässt.

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