SUSANNE SCHÖTZ (Dresden) ging in ihrer Einführung auf mögliche Konzepte historischer Betrachtungen über die Spanische Grippe ein. Gemessen an ihrer rasanten Verbreitung und der hohen Sterblichkeit, wies die Krankheit eher geringe mediale Präsenz auf und wird als „vergessene Pandemie“ (Andreas Kötzig) bezeichnet. Alfons Labisch hat mit dem Konzept der „skandalisierten Krankheiten“ darauf hingewiesen, dass das Maß der öffentlichen Aufmerksamkeit gegenüber einer Erkrankung keinesfalls allein durch die Todeszahlen bestimmt wird, sondern in einem Missverhältnis stehen kann.
Die Covid-19-Pandemie zeigte, dass sich Pandemien bzw. Gesundheitskrisen zu gesellschaftlichen Krisen ausweiten können, in denen es um mehr als die Eindämmung von Seuchen geht, und bewirkte eine Schärfung der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Seuchen. Die Sektion widme sich dem Ausbruch und der Verbreitung der Spanischen Grippe, ihrer Wahrnehmung und dem Wissen über sie, worin ihre „scheinbare Unscheinbarkeit“ (Filip Bláha) bestand und welchen Einfluss die Krankheit auf die Transformation der politischen Verhältnisse am Ende des Ersten Weltkriegs nahm.
MIKE SCHMEITZNER (Dresden) erläuterte in seiner Einleitung die Entstehung eines Forschungsprojekts zur Covid-19-Pandemie am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden. Zum Forschungsgegenstand wählte man Verschwörungstheorien und Protestgeschehen zur Zeit der Spanischen Grippe im Dreiländereck zwischen Tschechien, Polen und dem Deutschen Reich. Ein Unterschied zur Covid-19-Pandemie bestand in multiplen Krisen, aus denen sich für die Menschen 1918/1919 verschiedene Problemlagen gleichzeitig ergaben: Krieg(-sfolgen), Hunger, Wohnungsnot und Infektionskrankheiten traten synchron mit einer Phase der Transformation auf. Die Fragilität betraf anders als 2020 nicht nur das Wissen der Menschen um die Krankheit, deren Erreger und Ausbreitungsverhalten, sondern auch die politische Situation. Statt zentral koordinierter Maßnahmen kam es nur zu niedrigschwelligen Maßnahmen auf kommunaler Ebene, die dementsprechend nur niedrigschwellige Proteste hervorriefen. Die Krisenkollektive, die in jener komplexen Problemlage agierten, standen im Fokus der Forschenden: Wer waren sie und welche Reaktionen zeigten sie?
MATTHÄUS WEHOWSKI (Dresden) betrachtete globale und regionale Aspekte der Spanischen Grippe. Am Beginn stand die Fragilität des Wissens der Zeitgenossen um bzw. über die Krankheit. Umstritten sind nicht nur die Zahl und Länge der verschiedenen Wellen, sondern auch die Betroffenen- und Opferzahlen: Zum einen fußen Erhebungen lediglich auf den Auswertungen von Krankenkassendaten, zum anderen fehlen gesicherte Daten für die Kolonialgebiete, etwa in Indien oder China.
Präventive Maßnahmen gegen Infektionskrankheiten gipfelten im Deutschen Kaiserreich in einem 1900 beschlossenen Seuchenschutzgesetz. Daraus folgte die Gründung eines Reichsgesundheitsrats (RGR), der Maßnahmen zur Bekämpfung von Krankheiten plante. Der RGR sprach lediglich Empfehlungen aus, verpflichtende Maßnahmen (etwa die Isolation Kranker) wurden als praktisch nicht durchführbar angesehen. Da die Grippe nicht zu den skandalisierten Krankheiten zählte und die Experten von einer „gewöhnlichen“ Influenza ausgegangen waren, wurden Maßnahmen gegen die Spanische Grippe erst diskutiert, als Reichskanzler Max von Baden die Häufung von Lungenerkrankungen thematisierte. Primär ging es den Offiziellen darum, Gerüchten über eine Lungenpest entgegenzutreten und die Öffentlichkeit zu beruhigen.
Auch die Habsburger Monarchie hatte 1913 ein Seuchenschutzgesetz erlassen. Darin wurde die Grippe aber ebenso wenig aufgegriffen. Widerspruch gegen diesen Erlass regte sich beispielsweise in Nordböhmen, wo Abgeordnete fürchteten, der Staat greife in private Angelegenheiten ein. Da man die Grippe als „gewöhnlich“ betrachtete, erfuhr sie keine Skandalisierung. Im Gegenteil: Der Militärarzt Jaromir von Mundy bezeichnete sie sogar als „Grippe Schwindel“ (1889). 1918 folgte die Errichtung eines Ministeriums für Volksgesundheit und Ivan Horbatschewskyj wurde der erste Gesundheitsminister Europas. In Österreich-Ungarn war den Verantwortlichen ebenfalls zuvorderst daran gelegen, die Spanische Grippe von der Lungenpest abzugrenzen. Als im Herbst 1918 die zweite Welle mit einer hohen Sterblichkeit eintraf, ergriff das Ministerium keine Maßnahmen zur Bekämpfung der Krankheit, mit dem Argument, dass eine Verbreitung der Spanischen Grippe ohnehin nicht zu verhindern sei. Ein Stillstand des öffentlichen Lebens war für die Verantwortlichen nicht akzeptabel, doch löste diese Untätigkeit große Kritik aus.
Anschließend wendete sich Wehowski zwei Fallbeispielen zu. Das Teschener Schlesien und Ostgalizien waren durch nationale, sprachliche sowie konfessionelle Diversität geprägt und sahen sich 1918 mit multiplen Krisen konfrontiert. Ärztemangel und Lebensmittelknappheit sowie eine durch Truppenbewegungen im Frühjahr ausgelöste Typhusepidemie belasteten Schlesien. Im Oktober verbreitete sich die Spanische Grippe rasant und forderte hohe Opferzahlen. Für den medizinischen Diskurs beobachtete Wehowski in der Person des Arztes Hans Fritsch einen erstaunlichen Zugang zum damals aktuellen Wissenstand. Die Öffentlichkeit vermischte dagegen vormoderne Ideen mit Skepsis gegenüber Behörden. Die Bevölkerung vertraute deshalb eher auf den „göttlichen Arzt im Himmel“. Bemerkenswert ist, dass überwiegend junge Frauen der Erkrankung zum Opfer fielen.
Die Region Ostgalizien erlebte im Laufe des 19. Jahrhunderts mehrere Epidemien und galt deshalb als „Sorgenkind“ der Gesundheitsprävention. Noch 1917 wurde von Offiziellen vor der Gefahr von Seuchen gewarnt. Spezifikum der Region war ein Landessanitätsgesetz (1891), dass das Ende religiöser Diskriminierung in der Behandlung von Patienten bedeutete.
Nach dem Ausbruch der Spanische Grippe vermuteten ansässige Mediziner, dass aufgewirbelter Staub zur Ansteckung führe, doch wies der zuständige Stadtarzt in Lemberg diese Theorie zurück. Der Landesgesundheitsrat leugnete die Gefährlichkeit der Krankheit und warnte vor übertriebener Berichterstattung. Als im November 1918 Straßenkämpfe zwischen polnischen und ukrainischen Truppen ausbrachen, starben viele an der Spanischen Grippe Erkrankte ohne Behandlung.
Wehowski bilanzierte, dass die Spanische Grippe nicht zu den skandalisierten Krankheiten zählte. Zentrale Institutionen beschränkten sich lediglich auf Empfehlungen und gaben die Verantwortlichkeit an kommunale Behörden ab. Das Wissen über die Krankheit war fragil, Gerüchte und Fehlinformationen gelangten in die Öffentlichkeit. Am stärksten betroffen waren junge Frauen (ohne Vorerkrankungen).
Im Vortrag von FIlIP BLÁHA (Prag) wurde die „scheinbare Unscheinbarkeit“ der Spanischen Grippe im Kontext der Entstehung der Tschechoslowakei 1918 untersucht. Ausgangspunkt war die in den 1860er-Jahren erstarkende tschechische Nationalbewegung und Marginalisierung der Deutschen im Land. Gleichzeitig entfaltete sich Prag zum Mittelpunkt gesellschaftlicher Modernisierung. 1882 ermöglichte die Teilung der Prager Universität der tschechischen Bevölkerung das Studium in ihrer Muttersprache und den Aufbau einer eigenen wissenschaftlichen Elite. Die Entwicklung der Prager Universität zu einem Zentrum medizinisch-hygienischer Innovationen bewirkte eine Verwissenschaftlichung und neue Wahrnehmung von Gesundheit. Dies verursachte jedoch auch Kritik, die sich in Skepsis gegenüber Impfungen und einer Gleichgültigkeit gegenüber Infektionskrankheiten äußerte. Beim Ausbruch der Spanische Grippe beschäftigten Krieg, Hunger und Lebensmittelknappheit die Bevölkerung, weshalb die Pandemie im Hintergrund der Wahrnehmung blieb.
Thematisiert wurde auch die Emotionalität einer Epidemie. Trotz wissenschaftlicher Widerlegung kursierten auch in Böhmen Gerüchte um die Lungenpest. In Pilsen forderten Eltern und Schulpersonal Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, doch verweigerte sich die Amtshauptmannschaft solchen – aus Angst vor Protesten der Arbeiterbewegung (wie wenige Jahre zuvor). Bemerkt wurde, dass der antisemitische Diskurs die Spanische Grippe nur selten aufgriff.
Die Spanische Grippe rückte nicht in den Fokus der Bevölkerung. Neben der Bewältigung des Alltags sowie der Konsolidierung des tschechoslowakischen Staates suchte man die Zerstreuung durch Sport und Kultur, um sich von der Pandemie abzulenken. Damit verdeutlicht sich die Entwicklung von Krisenkollektiven zur Konsumgesellschaft. Die Spanische Grippe verschwand nicht, sondern wurde verdrängt. Die Frage, wann die tschechoslowakische Krise endete, blieb offen und lud zu weiteren Nachforschungen ein.
Mike Schmeitzner und HANS-MARTIN BEHRISCH (Leipzig) beschäftigten sich mit der Frage, nach dem Einfluss der Spanischen Grippe auf das Ende der Monarchie in Sachsen. Die zweite Welle im Oktober 1918 führte zu einer starken Ausbreitung der Krankheit und einem Anstieg der Todesfälle auf etwa 8.500. Besonders betroffen waren Berufsgruppen, die für die Versorgung und Infrastruktur zuständig waren. Wiederum kommunale Entscheidungsträger reagierten darauf mit Einschränkungen im öffentlichen Leben, wodurch ein „Flickenteppich“ verschiedenster Maßnahmen entstand. Sächsische Medien beobachteten die Situation und spekulierten über die Ursachen der Grippe sowie Bevölkerungsschutzmaßnahmen.
Leipzig nahm eine Sonderrolle ein. In der Messestadt gab es die größten Opferzahlen zu beklagen und auch hier waren Frauen unter 21 Jahren die am stärksten betroffene Bevölkerungsgruppe. Im Gegensatz zu anderen sächsischen Gemeinden wurden Schulschließungen erst spät erlassen, was Eltern und Lehrkörper stark kritisierten. Kam es überhaupt zu Veranstaltungsverboten, betrafen diese nur Schülerinnen und Schüler. Der Leipziger Stadtrat musste sich so nicht mit öffentlichen Protesten auseinandersetzen, während Dresden niedrigschwellig Widerspruch erlebte. Begründet scheint dies durch die liberalere Prägung der Messestadt aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stellung. Verwiesen wurde auf die mangelnde Integration der USPD in die Stadtgesellschaft. Während die MSPD in Dresden auf Massendemonstrationen verzichtete, versuchte die USPD in Leipzig mittels solcher den politischen Umbruch voranzutreiben, wodurch das Infektionsgeschehen verstärkt wurde.
Verschwörungsnarrative spielten nur rundum Plauen, das zum Hort der völkischen Szene geriet, eine Rolle: Für die letzten Kriegstage ist rassistische Agitation nachweisbar, die sich gegen jüdische Fabrikanten und farbige Ententesoldaten richtete, denen man die Übertragung des Erregers unterstellte.
In der Zusammenschau ist die Spanische Grippe für den Systemwechsel in Sachsen von geringer Bedeutung, schwerer wogen die Kriegsfolgen und ein Reformstau. Die Gesundheitskrise überforderte das bestehende System und führte zu weiterem Legitimationsverlust.
Die abschließende Diskussionsrunde thematisierte zunächst die Unscheinbarkeit der Pandemie. Die Referenten betonten die Rolle multipler Krisen und des politischen Tranformationsgeschehens, welche die Krankheit und die Berichterstattung über sie in den Hintergrund drängten. Die Wahrnehmung der Spanischen Grippe als „gewöhnliche“ und nicht zu vermeidende Krankheit verharmloste überdies die Gefahr.
Auf die Frage nach der besonderen Vulnerabilität junger Frauen wurden verschiedene Aspekte angeführt. Quellen belegen, dass zwar mehr Männer behandelt wurden, aber dennoch mehr Frauen verstarben. Frauen könnten durch den kriegsbedingten Ausfall der Männer stärker in den Fokus gerückt und durch die Lebensumstände stärker gefordert gewesen sein. Durch eine inhaltlich und auch praktisch vollzogene, männlich dominierte Geschichtsschreibung sowie die Analyse des Kriegs und der Krisen musste die Untersuchung dieser Frauengruppe möglicherweise zurücktreten.
Zur Frage, ob Überträgergruppen beispielsweise von antisemitisch-völkischen Kreisen thematisiert wurden, verwies Bláha, darauf dass der auch in Böhmen allgegenwärtige Antisemitismus nicht auf die Pandemie bezogen wurde, sondern eher der Abgrenzung von Deutschen und Flüchtlingen diente. In der Slowakei gab es ebenfalls Demonstrationen, jedoch wurde die Grippe dort nicht mit Antisemitismus in Verbindung gebracht. Des Weiteren wurde angeführt, dass, da die Ausbreitung der Krankheit von Westen nach Osten verlief und alle Bevölkerungsgruppen betraf, antisemitische Narrative nicht funktionierten. Welche Auswirkungen die Pandemie auf ländliche Gebiete hatte, lässt sich aufgrund der dünnen Quellenlage schwer nachvollziehen, doch gingen Ausbrüche mit einer höheren Sterblichkeit einher.
Abschließend fragte die Moderatorin nach Forschungsdesideraten zum Thema, die die Referenten unter anderem in der weiteren Erforschung ländlicher Regionen und Erschließung dortiger Archive sehen. Wünschenswert sei die Erforschung von Auswirkungen der Pandemie auf die Berufsgruppe der Pflegenden sowie der Entstehungs- und Auflösungsbedingungen von Krisenkollektiven.
Sektionsübersicht:
Sektionsleitung: Susanne Schötz (Dresden) / Mike Schmeitzner (Dresden)
Susanne Schötz (Dresden): Einführung
Mike Schmeitzner (Dresden): Einleitung
Matthäus Wehowski (Dresden): Die Spanische Grippe. Eine globale Krise in regionaler Perspektive
Matthäus Wehowski (Dresden): „Zum „göttlichen Arzt im Himmel fliehen?!“ – Der gesundheitspolitische Diskurs im Teschener Schlesien und Ostgalizien zur Zeit der Spanischen Grippe“
Filip Blahà (Prag) / Josefine Lucke (Dresden), krankheitsbedingt nicht anwesend: „Kein Grund auf die Barrikaden zu gehen!“ – Die Spanische Grippe und die Entstehung der Tschechoslowakei 1918“
Mike Schmeitzner (Dresden) / Hans-Martin Behrisch (Leipzig): „Totengräber“ der Monarchie? Die Spanische Grippe in Sachsen: Diskurse und Proteste im Herbst 1918“