Vorerst kein Europa ohne Grenzen – mit der vorläufigen Utopie eines grenzfreien Europa vor dem Hintergrund neuer globaler Sicherheits- beziehungsweise Unsicherheitswahrnehmungen beschäftigte sich die diesjährige Internationale Sommeruniversität. Seit nunmehr elf Jahren treffen Studierende und Promovierende unterschiedlicher Fachrichtungen aus über 12 Nationen, die in Deutschland und Dänemark studieren, in der Region Südjütland zum Austausch zusammen. Wie jedes Jahr stand auch diesmal die deutsch-dänische Grenzregion mit ihren nationalen Minderheiten im Fokus der Tagung. Die Teilnehmenden produzierten im Laufe der Woche Podcasts, in denen sie die Tagungsinhalte aufgriffen und mit eigenen Schwerpunktsetzungen bearbeiteten.
Wie werden Grenzräume ver- oder entsicherheitlicht? MARTIN GÖLLNITZ (Marburg) eröffnete die Woche mit einer Keynote zur Einführung in den Sicherheitsbegriff und seine Verwendung im zeitgeschichtlichen Kontext. Bezug nehmend auf den im Juli 2023 erschienenen Film „Oppenheimer“ des Regisseurs Christopher Nolan erläuterte er das Dilemma von Ver- bzw. Entsicherheitlichung anhand der nuklearen Aufrüstungsdynamik nach Erfindung der Atombombe. Sicherheit sei nicht als epochenübergreifendes Faktum, sondern als historischer Prozess wie auch subjektiv wahrgenommenes Konstrukt zu verstehen. Als politischer Wertbegriff und soziales Versprechen hat „Sicherheit“ zunehmend Eingang in den politisch-gesellschaftlichen Diskurs des 20. Jahrhunderts gefunden, wobei Freiheit und Sicherheit darin oft als Gegensatzpaar erscheinen, wenn Staaten etwa freiheitseinschränkende Maßnahmen gegen mitunter imaginierte Bedrohungen zu legitimieren suchten. Wenn von Sicherheit die Rede sei, müsse nach Göllnitz immer auch von Unsicherheit gesprochen werden. Grenzräume schienen prädestiniert, vor dem Hintergrund markierter Bedrohungsszenarien ver- oder entsicherheitlicht zu werden. Im Nachgespräch thematisierten die Studierenden kulturelle und soziale wie auch alltägliche Dimensionen des Sicherheitsbegriffs. Zudem problematisierten sie die tagesaktuelle Praxis verstärkter Grenzkontrollen im Schengen-Raum.
Mittels historischer Landkarten gab der Historiker JØRGEN KÜHL (Flensburg) eine Einführung in die Geschichte der Region Nordschleswig, die sich territorial, politisch und sprachlich stets im Wandel befand. Als zentrale Transformationsprozesse der deutsch-dänischen Grenzregion markierte er die im 20. Jahrhundert erlebten Kriege sowie insbesondere die Volksabstimmungen über den Verbleib des Herzogtums Schleswig im Februar und März 1920. Das wiederkehrende Erfordernis der individuellen Nationalisierung wirkte als Moment der Polarisierung beider Minderheiten voneinander. Kühl legte anhand des sog. Idstedt-Löwen in Flensburg, ein anlässlich der Schlacht bei Idstedt 1850 geschaffenes Monument des Bildhauers Herman Wilhelm Bissen, die verschiedenen nationalen Vereinnahmungen des Memorialobjekts seitens Deutschlands und Dänemarks dar. Beide Nationen beanspruchten über lange Zeit die erinnerungskulturelle Deutungshoheit in Bezug auf die Schleswig-Holsteinische Erhebung. Die Sicht auf das Denkmal habe sich schließlich vom Streitobjekt hin zum Symbol der gegenseitigen Verständigung gewandelt. In diesem Zusammenhang rechnete Kühl den Sprachen der Region – Deutsch, Dänisch und Sønderjysk – eine vermittelnde Rolle zu. Die Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955, in denen sich Deutschland und Dänemark die Anerkennung der nationalen Minderheiten im jeweils eigenen Land zusicherten, stellte Kühl als endgültig verbindendes Moment der beiden Staaten heraus. In der anschließenden Diskussion warfen Studierende die Frage danach auf, inwieweit die Erklärungen zu einem nachhaltigen Sicherheitsempfinden beider Minderheiten in der Grenzregion beitrugen.
In ihren Ausführungen zu Podcasts sprach Medienwissenschaftlerin HEDWIG WAGNER (Flensburg) über idealtypische Strukturen und Gattungen sowie Möglichkeiten und Grenzen des Mediums insbesondere als Vermittlungs- und Kommunikationsinstrument der Erinnerungskultur. Wie auch KASPER WEGENER FRIIS (Aarhus) in seinem Workshop zu der Produktion und Bearbeitung von Podcasts, verdeutlichte Wagner den Stellenwert des journalistischen Storytellings in der Vermittlung von Bezugspunkten und Schwerpunktsetzungen regionaler Erinnerungskulturen an ein überregionales Publikum. Friis griff auf seinen journalistischen Erfahrungshorizont zurück und teilte Ratschläge für lebendige wie auch hörenswerte Audioproduktionen mit den Studierenden. Ferner machte er sie mit einem Aufnahme- und Bearbeitungsprogramm vertraut.
JON THULSTRUP (Sønderborg/Odense) führte in einem Rundgang über das Gelände des Knivsbergs, im Zuge dessen er auf die Geschichte und Bedeutung des Begegnungsorts für die deutsche Minderheit in Dänemark einging. Der Austragungsort des 1895 ins Leben gerufenen Knivsbergfests, das bis heute jährlich stattfindet, war der Kulturpflege der deutschen Minderheit zugedacht. Die Begehung des ehemaligen „Ehrenhains“, eines Gedenkorts für im Ersten und Zweiten Weltkrieg gefallene deutsche Nordschleswiger, gab Anlass, die Rezeptionsgeschichte der Weltkriege in der Minderheit zu diskutieren. Bereits in den 1990er Jahren war aufgefallen, dass es sich bei einigen auf den Gedenkplatten aufgeführten Personen – genannt sei Gustav Alfred Jepsen, Mitglied der Waffen-SS und stellvertretender Lagerleiter des Außenlagers Wilhelmshaven – nicht um Kriegsopfer, sondern Kriegsverbrecher handelte; die Namen wurden inzwischen unkenntlich gemacht. Die in der Vergangenheit perpetuierten nationalen Trennlinien von Opfer- und Täterschaft der Kriegshandlungen stellten sich nach aktuellem Forschungsstand deutlich verzerrter dar. Die Umstrukturierung der Lokalität zum historischen Lernort ist derweil geplant. Das Nachgespräch widmete sich der Problematik einer „gemeinsamen Erinnerungskultur“ beider Minderheiten in ihrer Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs.
Mit einem Zitat Stefan Seidlers, Mitglied des deutschen Bundestags für den Südschleswigschen Wählerverband, der konstatierte, „Minderheitenpolitik [sei] Friedenspolitik“1, eröffnete MOGENS ROSTGAARD NISSEN (Flensburg) seinen Vortrag über die Minderheiten der Grenzregion als Sicherheitsproblem. Sein Rückblick auf das Zusammenleben dies- und jenseits der heutigen Grenze offenbarte eine gemeinsame Konfliktgeschichte, die das Narrativ des friedlichen Zusammenlebens erst als Entwicklung der Nachkriegszeit herausstellte. Beginnend mit der Phase des Ersten Weltkriegs war das Verhältnis zwischen Deutschland und Dänemark sowie auch ihre jeweilige Wahrnehmung der nationalen Minderheiten von Misstrauen geprägt. Gegenseitige Spionage-Vorwürfe, zunehmend repressive Herrschaftspraktiken und erstarkende nationalistische Bewegungen prägten das Alltagsgeschehen im schleswigschen Grenzraum. Wie zuvor Kühl markierte auch Nissen die Bonn-Kopenhagener Erklärungen als Ende dieser Konfliktdynamik und somit als Beginn des weitgehend friedlichen Zusammenlebens in der deutsch-dänischen Grenzregion.
Aufgrund des krankheitsbedingten Ausfalls einer Podiumsdiskussion mit lokalen Politiker:innen unter Moderation von FELIX SCHULTE (Flensburg), stellte FREDERIC ZANGEL (Kiel) das Konzept der Living History und die Rolle performativer Geschichtsdarstellungen in der Selbstverortung vor. Hinsichtlich der keineswegs starren Definition und konkreten Ausgestaltung der „gelebten Geschichte“ verwies er unter anderem auf definitorische Eingrenzungen von Ian Ackmand, Wolfgang Hochbruck und Stefanie Nagel. Die Aachener Erklärung von 2008, ein Bekenntnis „zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität, den Werten des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und den Grundsätzen guter wissenschaftlicher Praxis“ der Living-History-Szene wurde im Plenum diskutiert. In Rückbezug auf Geschichtsrezeption und -instrumentalisierung im Nationalsozialismus arbeitete Zangel am Beispiel Dr. Karl Schlabows die Kontinuität rechter Vereinnahmungen von historischen Reenactments heraus, die letztlich auslösend für das Verfassen der Erklärung war. Einige Living-History-Anschauungsbeispiele und ihre Versuche der Umdeutung oder Positivbesetzung zentraler Erinnerungsorte erhielten in der Diskussion einvernehmlich kritische Einschätzung. Die Eignung ehemaliger Kriegsschauplätze als Begegnungsorte und die Romantisierung gewaltvoller Auseinandersetzungen wurden besonders problematisiert, auch das in einigen Fällen mangelnde erinnerungskulturelle Grundkonzept fiel auf. Zangel stellte abschließend die Positivbeispiele des Freilichtmuseums in Molfsee und des Middelaldercentret in Nykøbing heraus, deren Performance von Alltagsgeschichte ohne sensationalistische Kriegsdarstellungen auskomme.
Mit einem Einblick in die Geschichte des ehemaligen Flüchtlingslagers Oksbøl leitete der Historiker und Museumskurator JOHN V. JENSEN (Aarhus) den ersten Abschnitt der eintägigen Exkursion im FLUGT – Refugee Museum of Denmark ein. Im Juni 2022 eingeweiht, widmet sich das Museum in seinen Dauerausstellungen der Geschichte des Flüchtlingslagers sowie dem epochen- und generationenübergreifenden Thema Flucht. In Kleingruppen nahmen die Studierenden den Rundgang entlang des ehemaligen Lagergeländes wahr, der auch über den angegliederten Flüchtlings- und Soldatenfriedhof führt. Hier ergab sich die Möglichkeit des gemeinsamen Austauschs über die dargestellten Themen von Flucht und Vertreibung.
Jensen begleitete auch die zweite Tageshälfte im Themenmuseum „Tirpitz“, die im Zeichen der militärischen Sicherheitsproduktion entlang kontestierter Grenzen stand. Am Standort des gleichnamigen Bunkers ging der Referent auf die Geschichte der Tirpitz-Stellung ein, die sich als Teil des von den Nationalsozialisten geplanten Atlantikwalls im Bau befunden hatte, jedoch nie fertiggestellt wurde. Noch immer befindet sich hier der Bunker, nun als historischer Lernort in den Museumsrundgang integriert.
In seinem Beitrag zur Tätigkeit der Geheimdienste im deutsch-dänischen Grenzgebiet veranschaulichte THOMAS WEGENER FRIIS (Odense) am Donnerstagmorgen historisch gewachsene Aktivitäten, Rekrutierungspraktiken und personelle Kontinuitäten dieser staatlichen Organisationen. Identifizierten Geheimdienste in der Phase des Zweiten Weltkriegs die nationalen Minderheiten einerseits als potenzielle Herde separatistischer Bewegungen, nahmen sie diese andererseits als Rekrutierungspool wahr, von dessen sprachlicher und kultureller Mobilität sowie enger innerer Vernetzung es zu profitieren galt. Nicht zuletzt aufgrund der zügigen Versöhnung involvierter Sicherheitsproduzenten florierte die Geheimdienstarbeit unmittelbar nach Kriegsende speziell im deutsch-dänischen Grenzgebiet. Die von Friis geschilderte Rekrutierungspraktik förderte in der Folge eine personelle Kontinuität zwischen NS- und Geheimdienstorganisationen zutage; nationalsozialistisch belastete Ex-Offiziere waren in Dänemark am Aufbau von Stay-Behind-Organisationen beteiligt. Für die involvierten Akteure war die Grenzregion von besonderem Interesse, sie alle trieb die Frage ihrer politischen Weiterentwicklung um. Letztlich ergänzten sich die Vorstellungen der Sicherheitsproduzenten über zukünftige regionalpolitische Strukturen weitgehend mit denen des Warschauer Pakts. Wie bereits im Anschluss an vorangegangene Beiträge verfestigte das Nachgespräch personelle Kontinuitäten zwischen NS-Herrschaft und der deutschen Minderheit in Dänemark als Desiderat der historischen Sicherheits- und Minderheitenforschung.
SYLVESTRE KOUAKOU (Frankfurt am Main) präsentierte im Anschluss die Ergebnisse seiner Analyse deutschsprachiger Literatur über die Berliner Kongo-Konferenz 1884/85. Von Interesse für seine Arbeit war in erster Linie die Sicht der analysierten Autor:innen auf die Bedeutung der Konferenz für die Sicherheitslage auf dem afrikanischen Kontinent heute; das Fazit, zumindest in der ausgewählten Literatur, war ein vornehmlich positives, Autor:innen bewerteten die Konferenz als förderlich für die Beziehungen im Konflikt stehender afrikanischer Ethnien – ein Ergebnis, das die Zuhörer:innen unter den Gesichtspunkten einer kritischen postkolonialen Perspektive anschließend kontrovers diskutierten.
Am Abend stellte MOGENS ROSTGAARD NISSEN (Flensburg) eine Periodisierung von Darstellungen der deutschen Besatzung Dänemarks zwischen 1940 und 1945 im dänischen Film und Fernsehen dar. Zunächst nahm er Bezug auf das 2014 erschienene Buch „Dank film under nazismen“ von Lars-Martin Sørensen, dem Forschungsleiter des dänischen Filminstituts. Die Veröffentlichung über den dänischen Film unter deutscher Besatzung stand im Mittelpunkt einer öffentlichen Kontroverse, thematisierte sie doch neben der Funktionalisierung der dänischen Filmindustrie durch die NS-Herrschaft auch solche Fälle, in denen dänische Filmschaffende von der Fremdherrschaft profitierten. Nissen veranschaulichte vor diesem Hintergrund die Rolle, die Film und Fernsehen als Kommunikationsmedien der konstruierten öffentlichen Erinnerung Dänemarks an die deutsche Besatzung ab 1945 spielten. Er zeichnete den regelrechten Kampf um Geschichtsdeutung nach, der die dänische Filmlandschaft in der Nachkriegszeit beherrschte. Den dänischen Geschichtsmythos eines homogenen, politischen Widerstands gegen die deutschen Kriegsfeinde – wie er vielfach medial dargestellt wurde – grenzte Nissen klar von der eher heterogenen dänischen Widerstandsbewegung ab, deren verschiedene Fraktionen miteinander über ihre Zielsetzung im Konflikt standen.
CHRISTOPH SCHMIDT (Bredstedt) beschloss die Gastbeiträge der Woche mit einem Einblick in die Sicherheitsvorstellungen der Friesen, die sich in erster Linie in ihren Rechtstexten niederschlugen. Das friesische Verständnis von Staatlichkeit, in der Rezeption oftmals im Zusammenhang mit dem Stichwort der Friesischen Freiheit erwähnt, formte das Rechtssystem der Volksgruppe, die über Landes- und Sprachgrenzen hinweg agierte. Entsprechend offen für Interpretation und gleichermaßen verbindlich gestalteten die Rechtsgrundsätze das friesische Gemeinwesen.
Den Abschluss der Internationalen Sommeruniversität bildete die Präsentation der Podcasts, die die Studierenden und Promovierenden im Laufe der Woche produziert hatten. Inhaltlich vielfältige Themenschwerpunkte, wie kulinarische Spezifika der Grenzregion oder Formen der kulturellen Förderung beider nationaler Minderheiten, boten Gelegenheit, die Tagungsbeiträge noch einmal Revue passieren zu lassen.
Speziell die in vielen Bereichen noch ausstehende Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs durch die deutsche Minderheit in Dänemark wurde als zentrales Desiderat der Veranstaltung erkennbar. Den Dialog über das Thema Sicherheit in seinen vielfältigen Erscheinungsformen bereicherten die Studierenden durch ihre rege Diskussionsbereitschaft und Impulse aus diversen Fachrichtungen.
Konferenzübersicht:
Keynote: Martin Göllnitz (Marburg), Versicherheitlichung in Grenzregionen
Jørgen Kühl (Flensburg), Die deutsch-dänische Grenzregion. Abgrenzungsort und Kooperationsarena zwischen Dänemark und Deutschland
Hedwig Wagner (Flensburg), Podcasts und Medien der Grenzregion
Kasper Wegener Friis (Aarhus), Podcasts und Übung
Jon Thulstrup (Sønderborg/Odense), Geschichte und Bedeutung des Knivsbergs für die deutsche Minderheit in Dänemark
Mogens Rostgaard Nissen (Flensburg), Minderheiten als ein Sicherheitsproblem in der deutsch-dänischen Grenzregion
Frederic Zangel (Kiel), Living History zur Selbstverortung in Geschichte, Region und Nation
John V. Jensen (Aarhus), FLUGT-Museum und Tirpitz
Thomas Wegener Friis (Odense), Nachrichtendienste in der deutsch-dänischen Grenzregion
Sylvestre Kouakou (Frankfurt am Main), Die Berliner Kongo-Konferenz 1884/85 und die heutige Sicherheitslage auf dem afrikanischen Kontinent
Mogens Rostgaard Nissen (Flensburg), Die deutsche Besatzung in Film und Fernsehen
Christoph Schmidt (Bredstedt), Friesen und Sicherheit
Präsentation der Podcasts
Anmerkungen:
1 Gerrit Hencke, Stefan Seidler: „Minderheitenpolitik ist Friedenspolitik“, in: Der Nordschleswiger, 3.5.2023, https://www.nordschleswiger.dk/de/nordschleswig-tondern-politik-suedschleswig/stefan-seidler-minderheitenpolitik-ist-friedenspolitik (1.9.2023).