Die DDR ist alles andere als „ausgeforscht“1, das zeigte die im Februar 2024 bereits zum zweiten Mal durchgeführte Werkstatt bildungsgeschichtlicher DDR-Forschung. Das Format entstammt der Idee von Anna-Sophie Kruscha (Bergische Universität Wuppertal), wurde zusammen mit der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin (BBF) entwickelt und erfährt nach dem ersten erfolgreichen Auftakt 2023 hohen Zuspruch.
Anliegen der Werkstatt ist es, insbesondere Promovierenden die Möglichkeit zu geben ihre aktuellen Qualifikationsarbeiten im Bereich der DDR-Bildungsgeschichte vorzustellen und sich mit anderen Forscher:innen, die zu ähnlichen Themen arbeiten, auszutauschen.
Hierzu luden die Organisator:innen nun zum ersten Mal auch einen Critical Friend ein und wählten mit Jane Weiß (Humboldt-Universität Berlin) eine ausgewiesene Expertin der Theorie und Geschichte des DDR-Bildungswesens.
Den inhaltlichen Beginn der Tagung setzte ARON SCHULZE (Dresden), der sich in seiner Promotion mit der Transformationsgeschichte der TU Dresden auseinandersetzt. Er will herausarbeiten, inwiefern sich der Sonderstatus der TU als natur- und ingenieurwissenschaftliche Hochschule im ostdeutschen ,Musterschüler‘-Bundesland Sachsen auf die personellen, strukturellen und inhaltlichen Transformationen ausgewirkt haben. Aron Schulze konnte in der Analyse der Publikationen der Hochschule bereits drei Tendenzen im Schlüsseljahr 1989/1990 herausarbeiten: Einen Wandel von der Output- zur Prozessorientierung, den Willen zur Internationalisierung und stärkeres Drängen auf die Autonomie der Hochschule. Zusätzlich konnte er in der Quellenauswertung einzelner Fakultäten Demokratisierungs- und Erneuerungsschübe einzelner Forschungsbereiche an der TUD nachweisen. In der Diskussion wurde dann insbesondere auf Akteure und Resultate des tiefgreifenden Institutionsumbaus eingegangen: Das sächsische Wissenschaftsministerium ist als maßgeblicher Treiber eines tiefgreifenden Wandels der sächsischen Hochschullandschaft einzuschätzen, wobei die Personalkürzungspolitik vor allem auf den Sparkurs der Landeskasse und weniger auf politisch motivierte Kündigungen zurückzuführen ist (so wurden lediglich 2% der Wissenschaftler:innen aus politischen Gründen entlassen). Des Weiteren konnten in der Diskussion Elemente der Co-Transformation zwischen Ost- und Westdeutschland identifiziert werden.
Im Bereich der historisch-philosophischen Begriffsgeschichte arbeitet ANNA-SOPHIE KRUSCHA (Wuppertal). Anhand eines, auf der Analyse einschlägiger interdisziplinärer Publikationen und bildungspolitischer wie currikularer Quellentexte angelegten Forschungsdesigns, fragt sie nach der Entwicklung und Transformationen des Begriffs der Bildung von 1945 bis 1975 in der SBZ und DDR. In einem eingangs vorangestellten Problemaufriss konnte Kruscha hierbei kenntnisreich herausarbeiten, dass mit dem Ende des Nationalsozialismus seit 1945 eine tiefgreifende Veränderung des Begriffsverständnisses vor sich ging. Kruschas Projekt kann somit einen wichtigen Beitrag für das Verständnis des für die deutsche Kultur- und Sozialgeschichte so einzigartigen Bildungsbegriffs in der damals vor sich gehenden gesellschaftlichen Transformation zum Sozialismus liefern. In der Diskussion spielte vor allem der auffällige Bezug der DDR-Erziehungswissenschaft an die Bildungskonzeption des Neuhumanismus insbesondere Humboldts eine Rolle. Knüpfte der Sozialismus auf deutschem Boden eher an die bürgerliche Pädagogik Preußens als an sozialistische Bildungsideale an?
CÄCILIA VON MALOTKI (Berlin) stellte in ihrem Beitrag Videomaterial der im laufenden Forschungsprojekt MythErz2 untersuchten Analyse von Fachunterricht mit Schwerpunkt Deutsch vor. Die Aufnahmen waren zu DDR-Zeiten von Schulklassen und deren Lehrer:innen in den sogenannten pädagogischen Laboren entstanden. Das Material eröffnet die Möglichkeit sich dem Unterricht in der DDR praxeologisch und deskriptiv fern von verbreiteten Vorannahmen über den Schulunterricht in der DDR zu nähern. Von Malotkis Anliegen fokussiert die Darstellung zweier Lehrkräfte und deren pädagogisches Wissen. Dabei werden die Aufnahmen auch in ihrer Inszenierung untersucht. Das Forschungsdesign orientiert sich an einem sequenzanalytischen Vorgehen. In der Diskussion wurde die Frage gestellt, ob anhand der Videoaufzeichnungen abzulesen sei, wie eng sich die Lehrer:innen an die in der DDR „für die Hand des Lehrers“ konzipierten Unterrichtshilfen, die komplette Stundenabläufe enthielten, anlehnten. Von Malotki antwortete ausgehend von den zwei vorgestellten Sequenzen, dass die beiden dargestellten Lehrer:innen die zwei existierenden Extreme in deren Verhältnis zu den Unterrichtshilfen bilden: Während die eine Lehrkraft ihren Unterricht fern von vorgeschlagenen Vorgaben abhält, scheint die andere Lehrkraft sich sehr penibel an dieser zu orientieren.
Ein bisher kaum erforschtes Kapitel der DDR-Jugendgeschichte stellen die klandestin ausgeübten Aktivitäten von Pfadfindergruppen in der DDR dar. HENDRIK KNOP (Jena) konnte in seinem Projektaufriss zeigen, dass, trotz des staatlicherseits erklärten Monopols der Staatsjugendorganisationen Pioniere und FDJ, in der SBZ und DDR insbesondere in den Jahren bis zum Mauerbau 1961, aber auch danach Pfadfindergruppen existierten. Diese konnten insbesondere unter dem Schutzmantel der Kirchen agieren und stellten somit ein alternatives pädagogisches Angebot innerhalb der DDR-Gesellschaft dar. Aufgrund der geringen Forschungsdichte zu dem Phänomen ist sein Projekt insbesondere deskriptiv ausgerichtet. In der Diskussion wurde darauf eingegangen, ob und welche pädagogischen Diskurse die Jugendarbeit der Pfadfinderverbände prägte. Hierbei wurde klar, dass die Tätigkeiten eher atheoretisch vor sich gingen, aber in der Praxis Outdoor- und Erlebnis-Pädagogik in kleinen Gruppen durchführte.
Die besondere Stellung der Staatlichen Museen zu Berlin im Spannungsfeld des Systemkonflikts wurde durch das Dissertationsprojekt von CHRISTOPHER HÖLZEL (Berlin) deutlich. Im Grunde einer humanistischen Bildungstradition entstammend, sollten die Museen in der DDR nun zur Formung der „sozialistischen Persönlichkeit“ beitragen. Hölzel skizzierte neben der ambitionierten Museumspädagogik, die beispielsweise Theateraufführungen und eine Kindergalerie umfasste, die Funktion der Museen als Orte der staatlichen Repräsentation, bei gleichzeitigem Anspruch eine Volksbildungsstätte zu sein. Eindrücklich blieben vor allem erste Ergebnisse aus Zeitzeug:inneninterviews mit Museumsmitarbeiter:innen, welche Aufschluss über die Handlungsfreiheiten im Museumsbetrieb aufzeigten. In der Diskussion stand zunächst die Frage nach dem Bildungsziel der Museen im Fokus, wobei die Rolle des Humanismus nicht abschließend geklärt werden konnte. Aber auch Fragen der Museumspraxis standen zur Debatte, so wurden beispielsweise die konkreten Angebote einer frühkindlichen Pädagogik, aber auch Anzahl und soziale Herkunft der Besucher:innen besprochen.
Den Abschluss des ersten Tages bildete schließlich ein Einblick in die Archivbestände der DDR-Bildungsgeschichte durch MAX SCHMÖLE und ANNETT KREFFT (beide Berlin).
Der zweite Tag der Werkstatt wurde durch einen Input von JANE WEIß (Berlin) eingeleitet. Die Bildungsgeschichte der DDR fällt in ein diskursiv aufgeladenes Spannungsfeld. Gerade die Beharrungskraft der Zuschreibungen des Kalten Krieges aber auch Fremdzuschreibungen prägen noch immer das Bild der DDR und Ostdeutschlands. Insgesamt ist aber durchaus eine Verschiebung der Deutungshoheit im letzten Jahrzehnt zu beobachten. Neben einer Systematisierung des Forschungs“booms“ zur DDR-Bildungeschichte der 1990er Jahre, skizzierte Weiß Herausforderungen und Anknüpfungspunkte aktueller Forschungsperspektiven. So müsse die beginnende Verortung der DDR in der Globalgeschichte deutlich verstärkt werden. Denn gerade in der transnationalen Geschichtsschreibung der DDR lässt sich ein dialektisches Spannungsverhältnis zwischen Provinzialisierung und Entprovinzialisierung feststellen. In der Diskussion wurde daran anschließend diese Gleichzeitigkeit genauer diskutiert. Es wurde deutlich, dass es einer Perspektive bedarf, die die globalgeschichtliche Bedeutung der DDR und ihre Verflechtungen im Kontext von Bildung und Erziehung ernst nimmt, gleichzeitig aber auch deren Verortung im Kontext des Eurozentrismus mitdenkt.
Weitere Projekte, die an diesem Tag vorgestellt wurden, lassen sich vor allem im Kontext der oral history verorten. Die bisher im Kontext der Sonderschulforschung stark unterrepräsentierte Perspektive der Gehörlosenschulen in der DDR widmet sich PAULA MUND (Erfurt) in ihrem Dissertationsprojekt. So sollen in der Arbeit vor allem Schüler:innenerfahrungen durch Zeitzeug:inneninterviews sichtbar gemacht werden. Mund konzentriert sich auf die Gehörlosenschulen in Leipzig und Halle (Saale) und arbeitet die Straferfahrungen der Schüler:innen im Kontext des Unterrichts und im Lebensumfeld des Internats heraus. Besonders eindrücklich wurden hier die Grenzen der oral history deutlich, die im Kontext einer gehörlosen Zeitzeug:innenschaft vor methodische Herausforderungen gestellt wird. In der gemeinsamen Diskussion wurden vor diesem Hintergrund vor allem gemeinsame Überlegungen einer geeigneten methodischen Umsetzung des Projekts angestellt.
Im Kontext der Transformationsforschung lässt sich das Dissertationsprojekt von ADRIAN WEIß (Kassel) verorten. Ausgehend von narrativen Interviews mit Lehrer:innen aus Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Ost-Berlin sollen deren Erfahrungen in Zeiten der bildungspolitischen Umstrukturierung sichtbar gemacht werden. Im Vortrag skizzierte Weiß wie es zur Herausbildung eines bildungsreformerischen Milieus kam, welches im Zuge der Transformationszeit an Bedeutung gewann, sich schlussendlich aber nicht durchsetzen konnte. Trotz dieser fehlenden Durchsetzung prägen die Akteur:innen die Bildungslandschaft den ostdeutschen Raum bis heute durch die Gründung reformerischer Schulprojekte. Die Diskussion war vor allem von der gemeinsamen Quelleninterpretation eines zeitgenössischen „Aufruf(s) zur pädagogischen Revolution“ geprägt, die den produktiven Werkstattcharakter der Veranstaltung deutlich unterstrich.
Den Abschluss der Vorträge bildete CHRISTOPH KAIRIES (Hildesheim) mit der Präsentation von empirischen Ergebnissen seines Dissertationsprojekts. Ausgehend von Leitfadeninterviews untersucht Kairies in seiner sozialwissenschaftlichen Studie die Auswahl von Erziehungs- und Betreuungsarrangements. Neben ökonomischen und strategischen Faktoren spielt auch der Rückgriff auf DDR-Bezüge bzw. –Biografien eine wesentliche Rolle in der Entscheidungsfindung. So lässt sich anhand der Beispiele aus dem empirischen Material aufzeigen, dass bestimmte Normvorstellungen hinsichtlich der Betreuung der Kinder als der DDR-Berufssozialisation der pädagogischen Fachkräfte existieren. In der Diskussion wurde vor allem die Frage nach der Begriffsverwendung von Bildung vs. Betreuung intensiv diskutiert.
Die zweite Werkstatt bildungsgeschichtlicher DDR-Forschung endete mit einer anregenden Abschlussdiskussion. Erneut zeigte das Format nicht nur die Vielseitigkeit der aktuellen Projekte, sondern öffnete auch einen einzigartigen Raum der produktiven Diskussion und Vernetzung. Jane Weiß, die als critcal friend fungierte, drückte eine gewisse Zurückhaltung bezüglich ihrer eigenen Rolle in der Werkstatt aus und unterstrich das hohe diskursive Niveau der Werkstatt. Die aufgeworfenen Fragen und Denkanstöße sollen in einer Weiterführung im kommenden Jahr aufgegriffen werden.
Konferenzübersicht:
Aaron Schulze (Dresden): Die TU Dresden im Hochschulumbau-Ost. Eine mikrohistorische Transformationsstudie
Anna-Sophie Kruscha (Wuppertal): Zur Begriffsgeschichte von Bildung in der DDR (1945-1975)
Cäcilia von Malotki (Berlin): Bilder von Wissenschaft und Fortschritt – videobasierte Lehrerbildung in der DDR
Hendrik Knop (Jena): Pfadfinden in der Sowjetischen Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Republik
Christopher Hölzel (Berlin): Eine Bildungsstätte breitester Schichten – Die Staatlichen Museen zu Berlin in der DDR
Jane Weiß (Berlin): Bildungsgeschichtliche DDR-Forschung – Themen, Perspektiven und Herausforderungen
Paula Mund (Erfurt): Stumm gemacht – Die Gehörlosenschule in der DDR
Adrian Weiß (Kassel): Der kurze Frühling der Bildungsreform im Frühjahr 1990 dargestellt anhand ausgewählter Dokumente
Christoph Kairies (Hildesheim): Von Betreuungssonderfällen, „alter Schule“ und „Ostlehrerinnen“ – DDR-Bezüge im elterlichen Arrangieren von kindlicher Bildung und Betreuung der Gegenwart
Anmerkungen:
1 Stefanie Eisenhuth / Hanno Hochmuth / Konrad H. Jarausch, Alles andere als ausgeforscht. Aktuelle Erweiterungen der DDR-Forschung. Bonn 2016, in: Deutschland Archiv, https://www.bpb.de/218370 (11.04.2024).
2 Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Projektwebseite „Bildungs-Mythen über die DDR – eine Diktatur und ihr Nachleben (MythErz)“, https://bbf.dipf.de/de/forschen-publizieren/forschungsprojekte/mytherz-bildungs-mythen-ueber-die-ddr (11.04.2024).