In den letzten Jahren hat der Begriff der „Expertise“ sowohl im öffentlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs an Bedeutung gewonnen. Expert:innen spielen eine zentrale Rolle in politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Prozessen, besonders in Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie; gleichzeitig wird ihre Deutungsmacht immer wieder hinterfragt. Doch wie genau kann diese Kategorie der „Expertise“ empirisch greifbar und analytisch fruchtbar gemacht werden? Diese Frage stand im Mittelpunkt der Tagung an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg, die mit großzügiger finanzieller Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in Hamburg und der Fritz Thyssen Stiftung veranstaltet wurde.
STEFAN MESSINGSCHLAGER (Hamburg) eröffnete stellvertretend für die Veranstalter die Tagung mit grundlegenden Überlegungen zur Kategorie der Expertise und der Rolle von Expert:innen. Ziel der Tagung sei es, eine differenzierte Annäherung an Expertise als heuristische Kategorie zu entwickeln. Besonders wertvoll sei hierbei die interdisziplinäre Ausrichtung, die Vertreter:innen aus den Bereichen Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Sinologie, Soziologie und Anthropologie zusammenführe. Obwohl das Konzept der Expertise in den verschiedenen Disziplinen teils völlig unterschiedlich genutzt werde, verbinde die Teilnehmenden die nicht-essentialisierende Perspektive auf diese Kategorie, um sich dem Phänomen „Expertise“ auf vielfältige Weise anzunähern – von der Konstruktion als Selbst- und Fremdzuschreibung bis hin zu den Dynamiken und Konjunkturen im 20. Jahrhundert.
MARTIN ALBERS (Hamburg) eröffnete das erste Panel zur Selbst- und Fremdkonstruktion von Expertise mit einem Vortrag über die Selbstdarstellung von Helmut Schmidt als „China-Experte“. Albers zeigte, dass Schmidts Expertise nicht auf tiefgründigem Fachwissen, sondern auf einer geschickt inszenierten öffentlichen Rolle beruhte. Bereits in den 1960er-Jahren sah Schmidt Chinas Aufstieg voraus und untermauerte seinen Expertenstatus durch Reisen und Begegnungen mit führenden chinesischen Persönlichkeiten wie Mao Zedong und Deng Xiaoping. Schmidts China-Narrativ betonte Chinas kulturelle und historische Kontinuität, während er politische Kritik weitgehend vermied. Diese Strategie machte ihn sowohl für die politische Linke als auch die Rechte anschlussfähig und ermöglichte ihm, im öffentlichen Diskurs als glaubwürdiger Experte aufzutreten.
PAUL SCHRÖCK (Freiburg) folgte mit seiner Analyse der Selbstinszenierung von Klaus Mehnert, den man als „Welterklärer“ der frühen Bundesrepublik bezeichnen könnte. Schröck betonte, dass Mehnerts Aufstieg von einem Osteuropa-Experten zu einem allumfassenden Universalexperten weniger auf wissenschaftlicher Expertise als auf seiner Fähigkeit beruhte, komplexe Sachverhalte verständlich darzustellen und sich als „Experte des kleinen Mannes“ zu positionieren. Durch geschickte Selbstvermarktungsstrategien und ein weitreichendes Netzwerk erreichte er breite Anerkennung in der Öffentlichkeit. Mehnerts Erfolg zeigt, dass mediale Präsenz und narrative Einfachheit oft wichtiger sind als tiefgehendes Fachwissen.
JAN WILLE (Hamburg) eröffnete das zweite Panel zur Konstruktion von Expertise als Gegenstand diskursiver Aushandlungen mit einem Vortrag über konfessionsparitätische Planspiele in den Bundesbehörden der 1950er-Jahre. Wille verdeutlichte, dass die Konfession eines Bewerbers häufig wichtiger war als seine fachliche Qualifikation. Anhand von Beispielen aus dem Bundeswirtschaftsministerium illustrierte er, wie Katholiken und Protestanten gezielt auf Beamtenposten verteilt wurden, um ein konfessionelles Gleichgewicht sicherzustellen. Diese Praxis reflektierte die gesellschaftlichen und politischen Dynamiken der Nachkriegszeit, in denen religiöse Identitäten die Besetzung von Expertenpositionen prägten und Expertise als diskursiven Aushandlungsprozess formten.
Anschließend wandte sich DANI KRANZ (Mexiko-Stadt) in ihrem Vortrag der Konstruktion von Expertise im Israel/Palästina-Konflikt in Deutschland seit dem späten 20. Jahrhundert zu. Sie betonte, dass der Diskurs oft von Personen dominiert werde, die aufgrund persönlicher Erfahrungen oder politischer Ansichten als Expert:innen gelten, ohne jedoch eine fundierte akademische Ausbildung vorweisen zu können. Kranz zeigte, dass diese Identitätspolitik die wissenschaftliche Auseinandersetzung insbesondere in Krisenzeiten überlagert. Soziale Medien verstärken diese Polarisierung, indem sie emotionalisierte Beiträge bevorzugen und somit die Fragmentierung des Expertenfeldes fördern, was die öffentliche Wahrnehmung verzerrt.
JONATHAN VOGES (Hannover) untersuchte die Rolle von Expert:innen in den Pandemieplanungen der WHO seit den 1990er-Jahren. Er verdeutlichte, dass die WHO das Konzept einer „official spokesperson“ entwickelte, um wissenschaftliche Empfehlungen in Krisenzeiten wie Pandemien nicht nur fundiert, sondern auch öffentlich wirksam zu kommunizieren. Am Beispiel von Christian Drosten während der Corona-Pandemie illustrierte Voges, wie diese Rolle sowohl wissenschaftliche Unabhängigkeit als auch kommunikative Verantwortung vereinte. Er zeigte auf, dass in Krisenzeiten die Legitimität und Akzeptanz politischer Maßnahmen entscheidend von der klaren und vertrauensvollen Vermittlung durch Expert:innen abhängt.
INGA STEINHAUSER (Frankfurt am Main) und FLORIAN EICHBLATT (Münster) widmeten sich der Rolle von Historiker:innen als Sachverständige in NS-Prozessen. Sie verdeutlichten, dass Historiker oft widerwillig als Experten vor Gericht auftraten, da ihre wissenschaftliche Arbeit nicht immer den Anforderungen eines Strafverfahrens entsprach. Am Beispiel des Ulmer Einsatzgruppen-Prozesses zeigten sie, wie entscheidend historische Gutachten für die Verurteilung der Angeklagten waren. Besonders die Gutachten von Helmut Krausnick und Hans-Günther Seraphim prägten maßgeblich den Ausgang des Verfahrens. Dennoch hatten Historiker häufig mit methodischen und juristischen Unsicherheiten zu kämpfen, was die Nutzung ihrer Expertise im Gerichtssaal erschwerte.
YATING ZHANG (Berlin) setzte das Panel mit ihrer Analyse des intellektuellen Austauschs zwischen Westdeutschland und China in den 1970er- und 1980er-Jahren fort. Zhang hob hervor, dass die Soziale Marktwirtschaft Westdeutschlands als Vorbild für Chinas wirtschaftliche Reformen diente. Sie zeigte auf, wie westdeutsche Ökonomen wie Armin Gutowski und Hans-Karl Schneider die chinesischen Entscheidungsträger in Fragen der Preisregulierung und des Gleichgewichts zwischen staatlicher Planung und Marktwirtschaft berieten. Zhang betonte, dass China zwar Elemente der Sozialen Marktwirtschaft adaptierte, dabei jedoch den sozialistischen Grundcharakter seines Systems beibehielt und die westdeutschen Erfahrungen an den eigenen politischen Kontext anpasste.
Den Abschluss des dritten Panels bildete der Vortrag von SUSANNE WEIGELIN-SCHWIEDRZIK (Wien), die sich der Entwicklung der gegenwartsbezogenen Chinaforschung nach 1945 widmete. Sie stellte heraus, dass die starke Fokussierung auf altertumswissenschaftliche Ansätze zu einer institutionellen Trennung von politisch-aktuellen Themen führte. Diese Entpolitisierung der Sinologie, verbunden mit einem fehlenden interdisziplinären Austausch mit den Sozialwissenschaften, ließ die Chinaforschung im Kontext der chinesischen Reformpolitik der 1970er-Jahre hinter den aktuellen Entwicklungen zurückbleiben. Weigelin-Schwiedrzik argumentierte, dass diese Fragmentierung bis heute fortbesteht, während moderne China-Expertise zunehmend in außeruniversitären Think Tanks verortet wird, die im öffentlichen Diskurs an Bedeutung gewinnen.
JOACHIM KRAUSE (Kiel) eröffnete das vierte Panel mit dem Fokus auf wissenschaftlicher Politikberatung mit einer Analyse der sicherheitspolitischen Beratung durch die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in der Bundesrepublik der 1960er- bis 1990er-Jahre. Krause zeigte, dass beide Institutionen maßgeblich zur Formulierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik beitrugen. Die DGAP spielte insbesondere durch ihre strategischen Studiengruppen eine wichtige Rolle, während die SWP zunehmend als Beraterin für sicherheitspolitische Fragen fungierte. In den 1980er-Jahren standen Themen wie die Rüstungskontrolle und das Ost-West-Verhältnis im Fokus, wobei die SWP eine skeptische Haltung gegenüber den Erfolgsaussichten dieser Verhandlungen einnahm.
HOLGER STRAßHEIM (Bielefeld) widmete sich wiederum der Rolle evidenzbasierter Politik im globalen Kontext, insbesondere der Anwendung von randomisierten Kontrollstudien (RCTs). Straßheim veranschaulichte, dass diese ursprünglich aus der Medizin stammende Methode zunehmend zur Bewertung politischer Maßnahmen genutzt wird, vor allem im Bereich der Klimapolitik und Gesundheitsförderung. Anhand von Beispielen wie der Global Climate and Health Alliance zeigte er auf, wie RCTs zur wissenschaftlichen Fundierung politischer Entscheidungen beitragen und somit deren Legitimität und Effektivität steigern. Straßheim betonte, dass solche Studien nicht nur wissenschaftliche Untermauerung liefern, sondern auch internationale Anschlussfähigkeit für politische Initiativen gewährleisten können.
BJÖRN ALPERMANN (Würzburg) eröffnete das fünfte Panel zu den Konjunkturen von Expertise mit einem Vortrag über die Rolle kritischer Intellektueller in der Volksrepublik China. Er zeigte auf, dass Intellektuelle seit der Mao-Ära zwischen Phasen staatlicher Repression und vorübergehenden Freiräumen schwankten. In Zeiten politischer Liberalisierung erhielten sie mehr Gehör, während sie in repressiven Perioden verfolgt wurden. Alpermann betonte die ambivalente Haltung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) gegenüber Intellektuellen: Einerseits wurden sie als wertvoll erachtet, andererseits als potenziell unzuverlässig angesehen. Besonders nach 1976 förderte die Partei die Rückkehr ins Ausland geflohener Wissenschaftler, solange diese sich politisch neutral verhielten.
EVA GUIGO-PATZELT (Paris) beleuchtete die Atheismusforschung in der DDR und deren begrenzten Einfluss auf die Kirchenpolitik. Trotz der Versuche der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), Atheismusforscher wie Olof Klohr in die politische Entscheidungsfindung einzubeziehen, blieb deren Rolle marginal. Die von ihnen erstellten Analysen zur weltanschaulichen Erziehung fanden kaum Eingang in die konkrete Politikgestaltung. Guigo-Patzelt hob hervor, dass die begrenzte Anerkennung dieser Expertise sowohl auf ideologische Einschränkungen als auch auf die fehlende politische Relevanz ihrer Arbeit zurückzuführen war. Nach 1990 verschwand das Forschungsfeld nahezu vollständig.
Der erste Tag der Konferenz endete mit einem Keynote-Vortrag von CASPAR HIRSCHI (St. Gallen). Unter dem Titel „Wissenschaftliche Expertise in den Medien und in der Politikberatung: Das Spannungsverhältnis einer Doppelrolle von Oppenheimer bis Drosten“ ging Hirschi auf die ethischen und politischen Herausforderungen ein, die mit der öffentlichen Rolle von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verbunden sind. Er begann mit der Figur Robert Oppenheimers, der während des Zweiten Weltkriegs als Entwickler der Atombombe eine zentrale wissenschaftliche Rolle spielte und nach dem Krieg zunehmend als moralische Instanz die ethischen Folgen der Nukleartechnologie thematisierte. Hirschi zog hier Parallelen zu Christian Drosten, der während der Corona-Pandemie nicht nur als wissenschaftliche Autorität, sondern auch als öffentliche Figur agieren musste. Hirschi betonte, dass diese Doppelrolle – zwischen wissenschaftlicher Unabhängigkeit und öffentlicher Verantwortung – insbesondere in Krisenzeiten die Glaubwürdigkeit von Expertise auf die Probe stelle. In seiner Analyse wurde deutlich, wie herausfordernd es für Wissenschaftler:innen ist, eine Balance zwischen fachlicher Integrität und medialer Öffentlichkeit zu finden, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu gefährden.
MONA BIELING (Hamburg) leitete das sechste Panel mit einem Vortrag über die Rolle der Botanik im zionistischen Nation-Building in Palästina in den 1920er- und 1930er-Jahren ein. Sie zeigte, dass die Botanik nicht nur der landwirtschaftlichen Entwicklung diente, sondern auch als symbolisches Mittel genutzt wurde, um die Verbindung des jüdischen Volkes mit dem Land Palästina zu stärken. Zentral hierbei war der von zionistischen Botanikern gegründete Botanische Garten in Jerusalem. Bieling verdeutlichte, wie botanische Initiativen zur Stärkung der zionistischen Identität beitrugen, indem wissenschaftliche und religiöse Elemente verbunden wurden, um den jüdischen Anspruch auf das Land zu legitimieren.
CHRISTOPH MÜLLER-HOFSTEDE (Berlin) beleuchtete die Rolle der Expertise in der politischen Erwachsenenbildung der Bundesrepublik in den 1970er- und 1980er-Jahren, insbesondere am Beispiel des Ostkollegs der Bundeszentrale für politische Bildung. Das Ostkolleg thematisierte zunächst die Entwicklungen im Ostblock, nahm ab den späten 1970er-Jahren jedoch zunehmend China in den Fokus. Müller-Hofstede zeigte, wie die Seminare ein differenziertes Verständnis der chinesischen Politik und Gesellschaft vermittelten, insbesondere im Hinblick auf wirtschaftliche Reformen und geopolitische Implikationen. Die enge Zusammenarbeit mit Think Tanks und chinesischen Experten trug maßgeblich zur Förderung fundierter Chinakompetenz in Deutschland bei.
STEFAN MESSINGSCHLAGER (Hamburg) eröffnete das siebte Panel mit einem Vortrag über den Wandel der westdeutschen China-Expertise in den frühen 1970er-Jahren. China-Expertise definierte er dabei als eine dynamische Praxis des Deutens, Beratens und Vermittelns, die stark von Selbst- und Fremdzuschreibungen geprägt war. Er zeigte, dass die sino-westliche Annäherung ab Ende der 1960er-Jahre zu einem tiefgreifenden Umbruch führte. Dominierten bis dahin noch Journalist:innen und Reiseberichterstatter:innen das Feld der China-Expertise, so setzte sich u. a. mit Institutsgründungen wie der SWP gerade auch in der Politikberatung eine Verwissenschaftlichung durch, die zum rapiden Bedeutungsverlust von China-Kennern wie Klaus Mehnert führte.
ALEXANDER GRAEF (Hamburg) knüpfte an diese Perspektive an und untersuchte in seinem Vortrag die Transformation der russischen Außenpolitik-Expertinnen und -Experten, der sogenannten „Mezhdunarodniki“, nach dem Zerfall der Sowjetunion. Diese Intellektuellen, die in der Sowjetzeit wichtige Positionen in außenpolitischen Instituten wie dem Institut für USA- und Kanada-Studien innehatten, mussten sich in den 1990er-Jahren in einer veränderten politischen und ökonomischen Landschaft neu positionieren. Graef zeigte, dass viele dieser Expert:innen ihr soziales und kulturelles Kapital nutzten, um als Berater:innen und Vermittler:innen zwischen Staat und Gesellschaft neue Rollen zu übernehmen, die das Zusammenspiel zwischen der politischen Elite und der internationalen Politik prägten.
THORBEN PIEPER (Bochum) widmete sich der Entwicklung der Umwelt-Expertise im Bereich der Altlasten in Ost- und Westdeutschland während der 1980er- und 1990er-Jahre. Er zeigte, dass „Altlasten“ in der Bundesrepublik ab den 1980er-Jahren als eigenständiges Umweltproblem erkannt wurden, während der Begriff in der DDR weitgehend unbekannt war. Mit der Wiedervereinigung wurde das Thema Altlasten durch die Sanierung industrieller Standorte zentral. Pieper betonte, dass die Expertise in diesem Bereich zunehmend von technisch-naturwissenschaftlichen zu juristisch-ökonomischen Perspektiven überging, da die Altlastensanierung eng mit der Privatisierung ostdeutscher Betriebe durch die Treuhandanstalt verbunden war, was ökologische, ökonomische und soziale Aspekte berührte.
In der Abschlussdiskussion wurde die Fruchtbarkeit des interdisziplinären Austauschs betont; trotz der thematischen Breite und der unterschiedlichen disziplinären Verortungen der Beiträge habe sich der Begriff der Expertise als wertvolle heuristische Klammer erwiesen. Es entstand ein lebhafter Austausch, der nicht nur die diversen Perspektiven der Tagung nochmal zusammenführte, sondern auch neue Anregungen für künftige Forschungsansätze aufzeigte. BJÖRN ALPERMANN regte beispielsweise an, der Rolle der Medien in der Konstruktion von Expertise künftig verstärkt Beachtung zu schenken. Er hob hervor, dass heute weniger tiefgehendes Wissen als vielmehr Verfügbarkeit und Online-Präsenz entscheidend seien, was erhebliche Auswirkungen auf die Auswahl und Wahrnehmung von Expert:innen in den Medien habe. MONA BIELING wies darauf hin, dass Gender als Analysekategorie in den Tagungsbeiträgen nur wenig berücksichtigt worden sei und sich die Fallbeispiele zu stark auf männliche Akteure konzentriert hätten. Sie regte an, in künftigen Forschungen diesen Aspekt stärker in den Blick zu nehmen. IAN JOHNSON (New York) lenkte den Fokus auf die wachsende Bedeutung sozialer Medien für die Vermittlung von Expertise und warf die Frage auf, ob wir heute möglicherweise in einer „Gesellschaft von Postexpertise“ lebten. Diese These sorgte für angeregte Diskussionen über die Zukunft von Expertise in einer zunehmend digitalisierten und fragmentierten Medienlandschaft.
Die Tagung fand ihren Abschluss in einer Podiumsdiskussion zur wissenschaftlichen Politikberatung, die von der Wissenschaftsjournalistin Nicola Kuhrt (Berlin) moderiert wurde. Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Frage, welche Formen wissenschaftliche Politikberatung annehme und welche Bedeutung sie für politische Entscheidungsprozesse in Deutschland habe. Während GUDRUN WACKER (Berlin) Einblicke aus ihrer langjährigen Forschungs- und Beratungstätigkeit im Kontext der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) gab, ergänzten Generalkonsul a.D. WOLFGANG RÖHR (Berlin) und HARALD HERRMANN (Berlin) die Diskussion um Perspektiven aus der politischen Praxis. HEINRICH HARTMANN (Hamburg) lenkte zudem den Blick auf das Verhältnis von universitärer und außeruniversitärer wissenschaftlicher Expertise in der Politikberatung und betonte, dass sich daraus auch grundlegende Herausforderungen ergeben. Die Podiumsdiskussion und die zahlreichen Fragen aus dem Publikum machten deutlich, dass die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik ein zentrales Spannungsfeld darstellt, das fundierter Forschung und Reflexion bedarf.
Die Tagung unterstrich das große wissenschaftliche und gesellschaftliche Bedürfnis nach einer intensiveren, interdisziplinären Auseinandersetzung mit dem Phänomen und der Kategorie der Expertise. Die Beiträge lieferten wertvolle Impulse für eine kritische Reflexion der Rolle von Expertinnen und Experten in historischen wie gegenwärtigen Kontexten. Gerade die Beobachtung der Fragilität von Expertise, die sich stets zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen, gesellschaftlichen und politischen Erwartungen und wissenschaftlicher Legitimation behaupten muss, zog sich wie ein roter Faden durch die Tagung. Die Tagungsbeiträge verdeutlichten den Mehrwert des Begriffs „Expertise“, der sich als wertvolles Instrument zur Analyse vielfältiger gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und politischer Entwicklungen erwies. Zugleich wurde deutlich, dass die empirisch fundierte Begriffsarbeit zur Kategorie der Expertise noch lange nicht abgeschlossen ist – ein weiterer Schritt ist mit dieser Tagung aber vielleicht getan.
Konferenzübersicht:
Panel 1: Konstruktion von Expertise: Selbst- und Fremdinszenierungen und mediale Resonanzräume
Martin Albers (Hamburg): Helmut Schmidt als „China-Experte“: Narrativer Einfluss im Wechselspiel von Deutungsangebot und medialer Interpretationsnachfrage
Paul Schröck (Freiburg): Vom Osteuropa-Experten zum „Mentor Germaniae“. Klaus Mehnert als „Welterklärer“ der frühen Bundesrepublik
Dietmar Neutatz (Freiburg): Kommentar
Panel 2: Zur Konstruktion von Expertise als Gegenstand diskursiver Aushandlungen und Zuschreibungen
Jan Wille (Hamburg): Religiöse Überzeugungen und Expertise. Zu den konfessionsparitätischen Planspielen der Bundesbehörden in den 1950er Jahren
Dani Kranz (Mexiko-Stadt, Mexiko): Expertise and Experteasing Israel/Palestine
Jonathan Voges (Hannover): Ein Making of Expert:innen. Pandemieplanungen, outbreak communication und die ideale spokesperson
Holger Straßheim (Bielefeld): Kommentar
Panel 3: Expertise zwischen Wissenschaft und Politik
Inga Steinhauser (Frankfurt am Main) / Florian Eichblatt (Münster): Historiker als Sachverständige in NS-Prozessen. Widerwillige und unwillkommene Experten im Gerichtssaal?
Yating Zhang (Berlin): Inspiration from the Social Market Economy: Sino-West German Intellectual Exchange of Economic Thought, 1970s-1990s
Susanne Weigelin-Schwiedrzik (Wien): Gegenwartsbezogene Chinaforschung unter Stress: Ist Entpolitisierung ein Ausweg?
Marcus M. Payk: Kommentar
Panel 4: Expertisekonstellationen, Institutionen und Prozesse in der wissenschaftlichen Politikberatung
Joachim Krause (Kiel): Die Rolle von DGAP und SWP in der sicherheitspolitischen Politikberatung zwischen 1960 und 1990
Holger Straßheim (Bielefeld): Grenzüberschreitende Expertise – Wissenschaft und Politik im globalen Kontext
Stefan Messingschlager (Hamburg): Kommentar
Panel 5: Expertenkulturen und ihre Konjunkturen
Björn Alpermann (Würzburg): Kritische Intellektuelle in China: Zwischen Expertise und Dissens
Eva Guigo-Patzelt (Paris): Atheismusforscher und die ostdeutsche Kirchenpolitik: Drei Jahrzehnte versuchter Einflussnahme
Caspar Hirschi (St. Gallen): Kommentar
Keynote
Caspar Hirschi (St. Gallen): Wissenschaftliche Expertise in den Medien und in der Politikberatung: Das Spannungsverhältnis einer Doppelrolle von Oppenheimer bis Drosten
Panel 6: Expertise und Struktur(bildung)
Mona Bieling (Hamburg): Expertise in the Service of Nation-Building? The Example of Zionist Botany in Mandatory Palestine, 1920s-1930s
Christoph Müller-Hofstede (Berlin): Die Rolle von Expertise im Kontext staatlicher politischer Bildung in den 1970/80er Jahren: China als neuer Fokus der Bundeszentrale für politische Bildung
Heinrich Hartmann (Hamburg): Kommentar
Panel 7: Zäsuren und Krisenmomente in der Entwicklung von Expertise
Stefan Messingschlager (Hamburg): Neue Praktiken, veränderte Zuschreibungen: Westliche China-Expertise im Umbruch der frühen 1970er Jahre
Alexander Graef (Hamburg): The Russian Mezhdunarodniki: Experts, Networks and the State
Thorben Pieper (Bochum): (Umwelt-)Expertise in Zeiten des Umbruchs – Altlasten in Ost- und Westdeutschland in den 1980er und 1990er Jahren
Ian Johnson (Berlin): Kommentar
Podiumsdiskussion: Wissenschaftliche Politikberatung: Kritische Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik
Moderation: Nicola Kuhrt (Berlin)
Diskutant:innen: Heinrich Hartmann (Hamburg) / Gudrun Wacker (Berlin) / Wolfgang Röhr (Berlin) / Harald Herrmann (Berlin)