Katholizismus und Widerstand im Nationalsozialismus. 23. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung

Katholizismus und Widerstand im Nationalsozialismus. 23. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung

Organisatoren
Schwerter Arbeitskreis Katholizismusforschung (SAK)
Ort
Schwerte
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.11.2009 - 15.11.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Andreas Henkelmann, Lehrstuhl für Kirchengeschichte II, Katholisch-Theologische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum; Nicole Priesching, Westfälische-Wilhelms Universität Münster

Zur 23. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung (SAK) versammelten sich vom 13. bis 15. November circa 45 Historiker, Theologen, Politologen und Ethnologen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden. Geleitet wurde die Tagung von NICOLE PRIESCHING (Münster) und ANDREAS HENKELMANN (Bochum) in Kooperation mit der Katholischen Akademie Schwerte des Erzbistums Paderborn. Die Generaldebatte setzte sich in diesem Jahr mit dem Thema „Katholizismus und Widerstand im Nationalsozialismus“ auseinander.

Den Auftakt am Freitag machte ARNE THOMSEN (Bochum), der sein Dissertationsthema „Katholische Krankenhäuser im Ruhrrevier von 1840 bis zum Ersten Weltkrieg“ vorstellte. Thomsen hob die Motivation der Pfarrer der lokalen Kirchengemeinden, in deren Trägerschaft die meisten Krankenhäuser standen und die der katholischen Frauenkongregationen, deren Schwestern die Krankenpflege in den Häusern übernahmen, hervor. Sie waren für das Entstehen und das wirtschaftliche Überleben der Hospitäler von entscheidender Bedeutung. Finanziert wurden die Krankenhäuser durch Kredite, konfessionsübergreifenden Spenden, Erbschaften und den Verkauf von Abonnements für den Krankheitsfall, da von kommunaler Seite nur wenig unterstützende Mittel zu erwarten waren. Parallel entstandene evangelische Krankenhäuser verbesserten die medizinische Versorgung der durch die Industrialisierung explosionsartig gewachsenen Städte und linderten den enorm gewachsenen Pflegebedarf.

Der Samstag begann mit einem Beitrag von THOMAS GERDES (Erfurt) über „Katholische Soziallehre und Modernisierungsprozesse: Katholizismus, katholische Kirche und die Soziale Frage im Argentinien des orden conservador, 1880-1916“. Darin wurde an Hand der Rezeption der Sozialenzyklika „Rerum novarum“ (1891) in der katholischen Presse der argentinischen Peripherie exemplarisch demonstriert, dass sich das dortige sozialkatholische diskursive Feld entlang der von den beiden Gegensatzpaaren ‚global-lokal’ und ‚materiell-spirituell’ aufgespannten Achsen entfaltete. Für den lokalen Sozialkatholizismus konstituierten dabei weniger die kontemporären ‚materiellen’ Modernisierungsprozesse die eigentliche Ursache für die Soziale Frage. Vielmehr interpretierte man diese als Konsequenz von Säkularisierungsprozessen in den 1880er-Jahren. Dementsprechend propagierte der argentinische Sozialkatholizismus einen integralistischen Lösungsansatz, welcher auf die Rechristianisierung der gesamten Gesellschaft abzielte. Die lokale katholische Antwort auf die Soziale Frage im Argentinien des orden conservador war allerdings weniger Ausdruck einer anti-modernen Grundhaltung als vielmehr die Suche nach einer alternativen katholischen Modernisierung.

Im Anschluss beschäftigte sich MARCO PAOLINO (Viterbo) mit der Vatikanischen Ost-Politik. Paolino hob hervor, dass mit der Öffnung der Katholischen Kirche durch das Zweite Vatikanum eine neue Zeit in der Ost-Politik mit den Pontifikaten von Johannes XXIII. und Paul VI. einsetzte. Die DDR begann die inoffiziellen Kontakte mit dem Heiligen Stuhl 1972. Der Dialog entstand in Genf während der Vorbereitung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki. Gleichzeitig lief eine Annäherung über die Botschaft der DDR in Italien. Bei dem ersten Botschafter der DDR in Rom handelte es sich um Klaus Gysi.

Das nächste Referat stellte ein Dissertationsvorhaben über den „Sonntagsboten“, das Kirchenblatt der deutschen Katholiken in der polnischen Diözese Kattowitz 1925 bis 1939 von MAIK SCHMERBAUCH (Frankfurt am Main) vor. Seit den 1930er-Jahren stieg die Einflussnahme der Nationalsozialisten unter der deutschen Minderheit in der Kattowitzer Diözese, so dass sie gezwungen war, sich mit dem Phänomen auseinanderzusetzen, was aufgrund der großen Anhängerschaft des Nationalsozialismus auch unter den Gläubigen nach 1933 erst schleppend begann. Begriffe wie „Neuheidentum“ und „Irrlehre“ fanden erst 1934/1935 vermehrt Einzug in den „Sonntagsboten“. Mitte der 1930er-Jahre intensivierten sich die ideologischen Auseinandersetzungen im Zuge der sich stark ausweitenden Kirchenverfolgung im Dritten Reich. Ziel des Blattes war es, den Gläubigen dem Zugriff der nationalsozialistischen Ideologie zu entziehen, dessen verheerende Folgen als ernste Bedrohung für den Katholizismus aufzuzeigen und dadurch die deutschen Gläubigen fest an die Kirche zu binden.

EVELYNE A. ADENAUER (Köln) sprach im Anschluss über die katholischen Gemeinden Schlesiens 1945/46. Der Vortrag bot einen kleinen Ausschnitt aus ihrer Dissertation über den Übergang von deutscher katholischer und evangelischer Kirche zu der einen polnischen katholischen Kirche. Er behandelte das schwierige Verhältnis deutscher und polnischer Kleriker und stellte heraus, dass nicht der gemeinsame katholische Glaube zählte, sondern die nationale Zugehörigkeit. Nationalismus bestimmte das Zusammenleben und die Seelsorge. Der Vortrag zeigte aber auch, dass es durchaus menschliches und christliches Verhalten gab – die Übergangszeit war oftmals ein Nebeneinander polnischer und deutscher Katholiken in einer Kirche. Daher fand das Ende des deutschen Kirchenlebens nicht abrupt statt, sondern vollzog sich in einem Prozess.

Im Anschluss stellte CLAUDIO KULLMANN (Jena) sein politikwissenschaftliches Dissertationsprojekt „Religion in der demokratischen Öffentlichkeit. Die Deutschen Katholikentage seit 1978“ vor. Am Beispiel der Katholikentage erforscht er die Kapazität des im Zentralkomitee der deutschen Katholiken organisierten Laienkatholizismus zu politischer Interessenvermittlung. Religionssoziologisch geht er dabei von einer Verortung der Religionsgemeinschaften in der Zivilgesellschaft aus. Anhand der Vorbereitung, Durchführung und Wirkung der Katholikentage untersucht er die Fähigkeit des organisierten Laienkatholizismus, politische Konzepte zu entscheidbaren Forderungen zu aggregieren, diese öffentlich wirksam zu artikulieren und schließlich in den politischen Entscheidungsfindungsprozess einzubringen. Methodisch stützt er sich unter anderem auf die netzwerkanalytische Auswertung eines von ihm erhobenen Datenbestands zu allen Veranstaltungen und Mitwirkenden der untersuchten Katholikentage.

Es folgten zwei auf die Generaldebatte vorgreifende Vorträge. In seinem Referat „Verfolgung und Widerstand von Klerikern während des Nationalsozialismus am Beispiel des Klerus der Erzdiözese München und Freising“ ging THOMAS FORSTNER (München) auf drei Problemkreise ein: 1. Seelsorgliche Tätigkeit von Klerikern, die während des Dritten Reichs durchaus Sanktionen nach sich ziehen konnte, könnte nicht wie oftmals üblich als Widerstandshandeln gewertet werden, da es sich im Regelfall um die Erfüllung von Dienst- und Standespflichten handelte und damit die für eine Widerstandhandlung erforderliche Gewissensfreiheit nicht gegeben gewesen sei. 2. Für die grobe Klassifizierung der Distanzsituation zwischen Klerikern und Nationalsozialismus griff Forstner grundsätzlich auf drei in der Widerstandforschung bereits eingeführte Begriffe zurück, kommentierte diese aber kritisch: Abstand, Selbstbehauptung und politischer Widerstand. 3. Statt auf den Umfang müsse künftig vermehrt auf die Qualität der antikirchlichen Maßnahmen der Nationalsozialisten geblickt werden, um zu einer realistischen Einschätzung der Situation von Priestern während des „Dritten Reichs“ zu kommen. Verfolgung sei im Falle des Klerus im Deutschen Reich überwiegend individueller Natur, von einer systematischen „Priesterverfolgung“ werde man daher nicht sprechen können.

Im Anschluss daran unternahm aus Sicht der Europäischen Ethnologie/Volkskunde EIKE LOSSIN (Würzburg) eine Analyse der Haftumstände katholischer Geistlicher im KZ Dachau in den Jahren 1940 bis 1945. Hierin interessierten vor allem die von den Priestern und anderen Häftlingen angefertigten Monstranzen, die für Messgottesdienste in der Kapelle des Priesterblocks Nr. 26 genutzt wurden. Diese erlaubten einen sachkulturellen Blick auf den Aufbau und die Entwicklung von Organisationsstrukturen innerhalb dieser Häftlingssolidargemeinschaft. Während das erste der fünf präsentierten Exemplare aus „Lagerabfällen“ des KZs hergestellt wurde, ließen bis 1945 veränderte Lagerstrukturen und die sich verbessernde und nahezu privilegierte Position der Priesterhäftlinge sogar die Anfertigung einer vergoldeten und versilberten Monstranz zu. Die gezeigten Gegenstände lieferten die Grundlage zur Diskussion der Anwendbarkeit von Begrifflichkeiten wie der durch Religiosität motivierten Selbstbehauptung und dem widerständischem Verhalten der involvierten (geistlichen) Häftlinge.

Am Sonntag folgte dann die Generaldebatte. Sie wurde von ANTONIA LEUGERS (München) eröffnet. Sie wählte drei Forschungsperspektiven und Forschungsdesiderate zum Verhältnis Katholische Kirche und Nationalsozialismus. Vordringlich sei es zunächst, Katholisches Forschen und Debattieren nach 1945 als solches zu thematisieren. Im Anschluss an Olaf Blaschkes Netzwerkanalyse der Kommission für Zeitgeschichte stehe nun die Erforschung von Schulen, Schülerschaften, Institutionen und deren Strategien im Vordergrund. Leugers deutete mit der „Quellenzugangsbewirtschaftung“ und dem „Kampf um die öffentliche Meinung“ ihre Ergebnisse der Auswertung eines Nachlasses eines katholischen Historikers an. Um aus den Interesse geleiteten Positionen der letzten Jahrzehnte zur Thematik von Schuld und Schweigen des Papstes und der Bischöfe zum Holocaust heraus zu finden, forderte Leugers zweitens die systematische Edition der zahlreichen Quellen aus der Zeit vor 1945, die explizit Schweigen, Schuld, Versagen, Verletzung der Amtspflichten und Kritik an der Kirche beinhalten. So werde dem vom „Apologetenlager“ geforderten Maßstab der jeweiligen Zeit streng Rechnung getragen und diese Schulduntersuchung von der Schulddebatte der sich befehdenden „Lager“ nach 1945 getrennt. Drittens plädierte Leugers für eine Langzeitperspektive 1914 bis 1945 im Hinblick auf die von ihr so benannten „Kriegsfriedensdiskurse“ der Zwischenkriegszeit in ihren Sinngebungs- und Legitimationspotentialen für einen Zweiten Weltkrieg, der auch von Katholiken als erhoffter Weg zum „eigentlichen Frieden“ wahrgenommen wurde.

Im Anschluss stellte JOACHIM KUROPKA (Vechta) seine Thesen zu Formen des Widerstands im Katholizismus vor. Die übliche Unterscheidung zwischen politischem Widerstand und Resistenz hielt Joachim Kuropka für nicht weiterführend, da alle aktiven Widerstandshandlungen erfolglos geblieben seien. Er machte darauf aufmerksam, dass die Einschätzung der religiös-kirchlichen Opposition durch das Regime zum einen mit dessen Verfolgungsmaßnahmen korrespondierte, zum anderen auch mit der Sicht und Einschätzung von Regimegegnern korrespondierte. Während dieser Konflikt von Seiten des Regimes öffentlich zumeist auf Rosenbergs angebliche 'Privatarbeit' abgelenkt wurde, zeigten bisher kaum herangezogene Quellen über die Inhalte der Schulungsarbeit in tausenden von Schulungslagern, dass dort eine intensive Indoktrination betrieben wurde, die die Kirchen als politische und damit staatsfeindliche Institutionen kennzeichnete. Die Kirche widersprach öffentlich der „Umwertung“ der Werte, durch die Nationalsozialisten ohne Hemmungen und Vorbehalte herangezogen werden sollten. Das „Haltet fest am Glauben!“ der Kirche hatte somit nicht nur eine transzendentale, sondern eine politisch aktuelle Zielsetzung, die insofern erfolgreich war, als es dem Regime bei den kirchennahen Katholiken nicht gelang, die angestrebte geistige Revolution umzusetzen, argumentierte Kuropka. Dieser Wertekonflikt bedeutete zugleich eine dauernde Infragestellung der Legitimität des Regimes.

Der letzte Beitrag zur Generaldebatte stammte von FRANZISKA METZGER (Fribourg / Nijmwegen). Sie referierte zum „Schweizer Katholizismus zur Zeit des Nationalsozialismus: Nationalismus – Antisemitismus – Endzeitstimmung: Forschungsperspektiven und Thesen“. Der Beitrag verstand sich als Plädoyer für eine Erhöhung der Komplexität der methodologischen und theoretischen Zugänge in der künftigen Forschung zum schweizerischen Katholizismus zur Zeit des Nationalsozialismus. Die Referentin plädierte für einen verschränkungsgeschichtlichen Zugang auf Diskurse und Semantiken, welcher im Sinne einer entangled history das Verhältnis zum Nationalsozialismus aus den Selbstbeschreibungen der Zeit heraus mit Blick auf Diskurse und deren Verschränkungen, auf Semantiken und Mechanismen, Transfers und Umdeutungen untersucht. Ausgehend von dem Verschränkungsverhältnis der Diskursfelder Religion und Nation und einem darauf aufbauenden religionsgeschichtlichen Blick nahm die Referentin besonders den Diskurskomplex der „geistigen Landesverteidigung“, Überfremdungsdiskurse in Verschränkung mit Antisemitismus und Antijudaismus sowie Krisensemantiken und Endzeitdiskurse im katholischen nationalistisch-heilsgeschichtlichen Deutungszusammenhang des Krieges in den Blick.

In der anschließenden kontrovers geführten Diskussion zeigten sich Unterschiede in der Bewertung verschiedener Zusammenhänge auf. Je nach Perspektive wurde die Verfolgungssituation von Katholiken hervorgehoben und auf die kirchenfeindlichen Unterdrückungsmaßnahmen der NS-Behörden hingewiesen oder das im Alltag auch systemkonforme Verhalten von Katholiken akzentuiert. Mit Blick auf die weitere Erforschung des Themas erscheint es dabei wichtig, nicht über- sondern miteinander zu diskutieren. Auch deswegen ist geplant, die Generaldebatte in einem Tagungsband zu dokumentieren.
Die nächste Jahrestagung findet vom 12. bis 14. November 2010 in Schwerte statt.

Konferenzübersicht:

Arne Thomsen (Bochum), Katholisches Krankenhauswesen im Ruhrrevier 1880-1914

Thomas Gerdes (Erfurt), Katholische Soziallehre und Modernisierung: Katholizismus, katholische Kirche und die Soziale Frage im Argentinien des „orden conservador“, 1880-1916

Marco Paolino (Viterbo), Die Vatikanische Ost-Politik: Die Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und der DDR

Maik Schmerbauch (Frankfurt am Main), Der „Sonntagsbote“ – das Kirchenblatt der deutschen Katholiken in der polnischen Diözese Kattowitz 1925-1939 im Angesicht der Herausforderung des Nationalsozialismus: Probleme und Strukturen

Evelyne Adenauer (Köln), Una sancta catholica et apostolica ecclesia? - Die katholischen Gemeinden Schlesiens 1945/46

Claudio Kullmann (Köln), Religion in der demokratischen Öffentlichkeit: Die Deutschen Katholikentage seit 1978

Thomas Forstner (München): Formen von Verfolgung und Widerstand während des Nationalsozialismus am Beispiel des Klerus der Erzdiözese München und Freising

Eike Lossin (Würzburg), Gott feiern im KZ" - Organisation und Herstellung von Monstranzen im Konzentrationslager Dachau

Generaldebatte: Katholizismus und Widerstand im Nationalsozialismus

Antonia Leugers (München), Neue Perspektiven und Forschungsdesiderate zum Verhältnis katholische Kirche und Drittes Reich

Joachim Kuropka (Vechta), Formen des Widerstands im Katholizismus

Franziska Metzger (Fribourg/Nimwegen): Schweizer Katholizismus zur Zeit des Nationalsozialismus: Nationalismus – Antisemitismus - Endzeitstimmung


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts