Offene Geheimnisse. Die Staatliche Filmdokumentation des DDR-Filmarchivs (1970-1986)

Offene Geheimnisse. Die Staatliche Filmdokumentation des DDR-Filmarchivs (1970-1986)

Organisatoren
Institut für Zeitgeschichte, Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.11.2013 - 15.11.2013
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Von
Inga Selck, DFG-Projekt „Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1945-2005“ Universität Konstanz

Das dokumentarische Filmschaffen der DDR ist ein kaum erforschtes Gebiet an der Schnittstelle zwischen Filmwissenschaft und Geschichtswissenschaft. Ein bis heute nahezu unbekannter Produktionsbereich der DDR-Filmproduktion war die Staatliche Filmdokumentation (SFD), deren Filmdokumente nicht für die Öffentlichkeit, sondern für Archivzwecke produziert wurden. ANNE BARNERT (Berlin) vom gastgebenden Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in Berlin hat die Bestände der Staatlichen Filmdokumentation in einem Forschungsprojekt erhoben und untersucht. Mit Förderung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur konnte bereits ein Teil der Produktion restauriert und digitalisiert werden und soll Basis eines Dokumentarfilms unter der Regie von HOLGER METZNER (Dresden) werden. So sollen die Ergebnisse des Projekts nicht nur der Fachöffentlichkeit, sondern auch einem größeren Publikum bekannt gemacht werden.

Im Rahmen dieses Forschungsprojekts lud das Institut für Zeitgeschichte zu einem zweitägigen Kolloquium mit Referent/innen aus Film- und Geschichtswissenschaft. Darüber hinaus kamen Zeitzeugen und Filmemacher, die aus ihrer Erfahrung berichteten. Nach einer Begrüßung durch den Leiter der Berliner Abteilung des IfZ, Hermann Wentker (Berlin), führte Anne Barnert kurz in das Projekt ein. Ungefähr 300 Filme sind innerhalb der Existenz der Staatlichen Filmdokumentation 1970-1986 entstanden. Die Abteilung, die dem DDR-Filmarchiv angegliedert war, sollte als Korrektiv der staatlichen Zensur des öffentlichen dokumentarischen Filmschaffens aus DEFA und Fernsehen dienen, um zukünftigen Gesellschaften einen Blick in die Anfänge der sozialistischen Gesellschaftsrealität zu ermöglichen. Daran anknüpfend stellten sich schon zu Anfang des Kolloquiums einige filmwissenschaftliche Fragen: Was bedeutet es, filmische Quellen für zukünftige Publika zu produzieren? Welche ästhetischen Konsequenzen hat die Konzeption der SFD für ihre Filme? Kann man überhaupt von Dokumentarfilmen in diesem Zusammenhang sprechen oder handelt es sich vielmehr – so die Selbstbeschreibung der SFD – um „filmische Akten“?

Es folgte ein erster Beitrag von MATTHIAS BRAUN (Berlin), Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR (BStU). Sein Arbeitsgebiet „Zensurforschung“ wurde hier im Ergebnis langjähriger Forschungen in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zum ersten Mal zusammengefasst. Matthias Braun beschrieb in seinem Beitrag die offiziellen und inoffiziellen Strukturen von Zensur und Selbstzensur in der DDR als „Mittel der sozialen Kontrolle“ und als „komplexer Prozess der gesellschaftlichen Kommunikation“. Zur Wirksamkeit der Zensur gehörten wesentlich ihre Unbestimmtheit und die Einflechtung von Kontrolle und Selbstkontrolle in die Institutionen der Kultur selbst. Schlupflöcher bot die Zensur durch ihre „Wortfixierung“ – dagegen waren ihr die möglichen Verselbständigungen des bewegten Bildes im Prozess der Rezeption fremd.

Anne Barnert führte ihre Thesen und Ergebnisse in einem längeren Vortrag weiter aus und teilte die Arbeit der SFD in drei Phasen ein. Der erste Leiter der SFD war Bernhard Musall. Eine eigenständige erste Phase begann mit Klaus-Detlef Bausdorf, der ein eigenes Filmteam mit ans Filmarchiv brachte. In dieser ersten Phase der „Universalen Dokumentation“ (1972-1977) wurden die angestrebten „dokumentarischen Zeugnisse ungestellter gesellschaftlicher Realität“ durch Sach-, vor allem aber durch Personendokumentationen zu erreichen versucht. Auftraggeber der Filme, die die Lücken des öffentlich sichtbaren DDR-Films füllen sollten, war die Hauptverwaltung Film im Kulturministerium. Immer wieder gab es Diskussionen um das Unterfangen und seine Durchführung. Sollte die SFD besser beim DEFA-Dokumentarfilmstudio untergebracht werden und wie viel Kontrolle war nötig? Die Unzufriedenheit mit den Grenzen der bisherigen Produktion brachte 1977/78 einen Konzept- und Leitungswechsel hervor. Der neue Leiter Karl-Heinz Wegner begründete das Langzeitprojekt „Berlin-Totale“ – eine dokumentarische Langzeitstudie, die bis 1992 angelegt war und am Beispiel Berlins ein „repräsentatives Bild“ der DDR zeigen sollte. Diese zweite Phase der ständig in ihrer Existenz bedrohten SFD-Produktionseinheit beendete 1980 ein letzter Führungswechsel. Mit Peter Glaß begann die dritte Phase der SFD, „Sozialistische Lebensweisen“ (1980-1985). Sie war ein letzter Versuch, das zu dokumentieren, was anderen Filmemachern verboten war aufzunehmen. Das Ende kam mit dem Vorwurf des fehlenden „politischen Verantwortungsbewusstseins“ der SFD. Das offizielle Misstrauen führte dazu, dass der SFD immer mehr Möglichkeiten der Produktion und Produktionsmittel entzogen wurden. Im November 1985 trat Peter Glaß zurück, 1986 wurde die Abteilung abgewickelt. Die Filme blieben bis zum Ende der DDR unter Verschluss. Die einzigen Veröffentlichungen des Materials sind bis heute THOMAS HEISEs (Berlin) Filme „DAS HAUS“ (DDR, 1984) und „VOLKSPOLIZEI“ (DDR, 1985).

Der am meisten diskutierte Komplex ist das schon erwähnte Selbstverständnis der SFD ihre Filme selbst als „kunstlos“ zu betrachten. Durch den Verzicht auf die Autorenzentriertheit und die damit verbundene Ersetzung des „Regisseurs“ durch den verantwortlichen „Redakteur“ und das Weglassen traditioneller künstlerischer Stile wie Off-Kommentar, Musik oder starke Betonung von Kamera und Montage seien die Filme eher als „audiovisuelle Akten“ denn als Dokumentarfilme zu verstehen. Dieses Selbstverständnis der Produktionsgruppe wurde im Auditorium vor allem von filmwissenschaftlicher Seite im Verlauf des Kolloquiums immer wieder stark in Zweifel gezogen. URSULA VON KEITZ (Konstanz) und Tobias Ebbrecht-Hartmann sprachen sich für einen starken ästhetischen Charakter der gesehenen Filmbeispiele aus, der sich an internationalen Traditionen des Dokumentarfilms und weniger an der Kulturfilmtradition orientiert. Im Anschluss an die Diskussion zeigte Filmemacher Holger Metzner zwölf Filmbeispiele aus der Produktion des SFD zu je ca. fünf Minuten.

Mit WOLFGANG KLAUE (Berlin) trat der erste Zeitzeuge ans Mikrofon und lieferte einen sehr detaillierten Bericht seiner Erinnerungen zur SFD als Abteilung des Staatlichen Filmarchivs der DDR, dessen Leitung er von 1969 bis 1990 innehatte. Er verdeutlichte, dass die Idee der Gründung der SFD seinerzeit vom Filmarchiv selbst kam und durch Institutionen wie etwa das Institut für Wissenschaftliche Filme in Göttingen inspiriert wurde. Wolfgang Klaue schildert das „Schattendasein“ dieses Archivs, welches zugleich ein gewisses Maß an „Autonomie“ erlaubte. Sichtbar wurde, dass mit der Staatlichen Filmdokumentation auch Spielräume getestet wurden: „Weder subversiv noch oppositionell“ befand sie sich, so Klaue, stets „auf der Grenze des Erlaubten“.

Eine erste fachwissenschaftliche Kontextualisierung erfolgt durch den Kirchenhistoriker AXEL NOACK (Halle). Mit Blick auf die Kirchengeschichte der DDR stellte er mehrere SFD-Filme zum Thema Kirche in das Umfeld der 1980er-Jahre. Besonders anhand eines Filmes zur Bundessynode der evangelischen Kirchen der DDR 1984 in Greifswald würdigte er die Staatliche Filmdokumentation als seltene Quelle, stellte aber zugleich auch die Notwendigkeit umfassender historischer Kenntnisse heraus: Ohne diese könne nicht gesehen werden, was der Zensur im Einzelnen „abgerungen“ worden sei. Als Anregung für weitere Forschungen nannte Axel Noack Vergleiche mit den westdeutschen Medienberichten zur Synode sowie mit den vorliegenden gedruckten Überlieferungen.

Am Freitagmorgen begann ein Tag, der im Zeichen des filmischen Materials stand. Ursula von Keitz, Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz, warf einen filmanalytischen Blick auf einige Filme der SFD und stellte die Ambivalenz des Nichtvorhandenseins eines zu imaginierenden öffentlichen Rahmens der Vorführung der Filme dar. Sie stellte fest, dass keine einheitlichen dokumentarfilmischen Modi im Material auszumachen sind. Referenz und kommunikative Konstellation unterschieden sich je nach Produktion. Die Methode der „Talking Heads“ als Modus der Erinnerungserzählung seien in den 1970er-Jahren ein dominantes Mittel im künstlerischen Dokumentarfilm – das gilt sowohl für Ost- als auch für Westdeutschland und hat sich offenbar auch in die Filme der SFD eingeschrieben. Ein Ausschnitt aus dem SFD-Film „SCHORNSTEINFEGER“ (DDR, 1978), Teil der Berlin-Totale, wurde vorgeführt als Beispiel für starke künstlerische Autorschaft in einem SFD-Film. Das gilt ebenso für den freien Umgang mit der Bild-Ton-Korrelation, der sich in der Voice-Over des Protagonisten über eine längere Plansequenz hinweg zeigt. Ursula von Keitz postulierte, wie zuvor schon angedeutet, dass sich der soziale Raum und das Klima des Verhältnisses von Filmemacher und Gefilmten in den Filmen abzeichnet.

ROLF AURICH (Berlin), Deutsche Kinemathek, unterzog die Staatliche Filmdokumentation einem Vergleich mit entsprechenden westdeutschen Einrichtungen – Institut für den Wissenschaftlichen Film Göttingen (IWF) und Landesbildstellen – sowie mit dem frühen Vorgänger „Filmarchiv der Persönlichkeiten“ am Reichsfilmarchiv 1942-1944. Unter dem Titel „Historische Quellen produzieren“ wurde über die Grenzen und über die Zeit hinweg die Entwicklung der Idee verfolgt, historische Quellen für spätere Nutzer zu produzieren. Nach 1945 stand am IWF Göttingen, wie schon bei den Filmen aus dem Reichsfilmarchiv, der wissenschaftliche Ertrag der Filme im Vordergrund. P.E. Schramm schlug vor, das IWF solle nun selbst zum Produzenten filmischer Quellen werden. Diese Entwicklung und ihre Verbindung zu ähnlichen Bestrebungen in der DDR sind bis heute unerforschtes Gebiet – sowohl in Bezug auf die Institutionen, die Filmbestände wie auch auf die wesentlichen Akteure.

Als letzter Redner stand der Zeitzeuge und Filmemacher THOMAS HEISE (Wien) auf dem Tagungsprogramm und stellte sein Filmschaffen in Verbindung mit seiner Tätigkeit bei der SFD, bei der er nach seiner Exmatrikulation an der HFF Potsdam tätig war. Heise hat dort die beiden Filme „DAS HAUS“ (DDR, 1984) und „VOLKSPOLIZEI“ (DDR, 1985) gedreht. Die treibende Frage seines Filmschaffens war von Beginn an: Wie redet der Staat mit seinen Bürgern. Diese Frage findet sich auch heute noch in seinem Filmen wieder, beispielsweise in „DIE LAGE“ (DE, 2012), den Heise als seinen dritten SFD-Film bezeichnete und aus dem er zum Vergleich einen Ausschnitt zeigte.

Das Kolloquium zeigte insgesamt ein sehr starkes und breites Interesse an den Forschungsergebnissen des Instituts für Zeitgeschichte zur Staatlichen Filmdokumentation (SFD). In den Diskussionsbeiträgen wurden mehrfach Wunsch und Absicht hervorgehoben, dieses neue Quellenmaterial zur Gesellschafts- und Alltagsgeschichte der DDR in Forschung, universitärer Lehre und historisch-politischer Bildung zu nutzen. Die große Resonanz, auf die das Kolloquium stieß, kann darauf zurückgeführt werden, dass die Staatliche Filmdokumentation sich von allen anderen Filmquellen zur DDR unterscheidet. Es liegt hier ein Filmbestand vor, der das heutige Bild der DDR-Gesellschaft in den 1970er- und 1980er-Jahren erweitern und ergänzen kann.

Konferenzübersicht:

Hermann Wentker (Berlin): Begrüßung

Anne Barnert (Berlin): Einführung

Matthias Braun (Berlin): Zensur in Kunst und Kultur der DDR

Anne Barnert (Berlin): Die Staatliche Filmdokumentation am DDR-Filmarchiv. Geschichte und Idee

Holger Metzner (Dresden) / Anne Barnert (Berlin): Filmbeispiele „DDR dokumentieren – ein staatliches Selbstporträt für spätere Generationen“

Wolfgang Klaue (Berlin): Die Staatliche Filmdokumentation – Erinnerungen

Axel Noack (Halle): Jenseits der ‚zeitbedingten Vertraulichkeit’? Staatliche Filmdokumentation und die Sonderöffentlichkeit Kirche

Ursula von Keitz (Konstanz): Filmische Archivalien. Zur Ästhetik des Filmdokuments

Rolf Aurich (Berlin): Historische Quellen produzieren. Deutsche Filmtraditionen von Reichsfilmarchiv bis Landesbildstelle

Thomas Heise (Wien): „Mit Abstand gesehen“. Thomas Heises „Das Haus/1948“ (1984) / Filmausschnitt „Die Lage“ (2011). Filmvorführung und Kommentar


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