Freiheit, Menschenwürde, Solidarität. Das Erbe der Revolutionen von 1989

Freiheit, Menschenwürde, Solidarität. Das Erbe der Revolutionen von 1989

Organisatoren
Botschaft der Republik Polen, Wien; Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, Wien; „Forschungsplattform Wiener Osteuropaforum“; Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
17.11.2014 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Lukas Becht, Promotionskolleg „Polen und Deutschland im modernen Europa“, Ludwig-Maximilians-Universität München/Universität Wrocław

Neben den Sozialwissenschaften hat sich auch die Zeitgeschichte in den vergangenen Jahren zunehmend den Folgeprozessen der im Jahr 1989 in Mittel- und Osteuropa angestoßenen Revolutionen zugewandt.1 Während das Wendejahr und seine Interpretation selbst Gegenstand einer bereits länger andauernden historisierenden Debatte ist, stellt sich mit dem Heranwachsen von Generationen, die keine subjektiven Erinnerungen mit den Ereignissen von damals verbinden, zunehmend die Einordnung der post-sozialistischen Geschichte als Forschungsdesiderat dar. Großartig inszenierte Gedenkveranstaltungen und zugleich sichtlich enttäuschte Bevölkerungsgruppen, die sich antiliberalen Parolen zuwenden, machen deutlich, dass 25 Jahre nach dem Fall des Kommunismus die Frage nach den Versprechen, dem Preis und dem Erbe der Revolutionen und der Transformation zu Demokratie und Marktwirtschaft die Gesellschaften in Polen, Tschechien, Ungarn, der ehemaligen DDR und weit darüber hinaus beschäftigen.

Den Umbrüchen von 1989 wurde von bundesrepublikanischen Intellektuellen ein Mangel an zukunftsweisenden Ideen attestiert, sodass die sozialwissenschaftliche Transformationsforschung ihren Ausgang von der Diagnose einer „Revolution ohne revolutionäre Theorie“2 nahm. Angesichts der anhaltenden Auseinandersetzungen über die Rechtfertigungen und Ideale der neuen Ordnungen erscheint aber die Frage nach einer erneuten ideengeschichtlichen Bewertung der Revolutionen von 1989 und ihrem ideellen Erbe als Desiderat. Dieses griff ein Workshop auf, zu dem die Botschaften der Republik Polen und der Bundesrepublik Deutschland in Wien gemeinsam mit dem Wiener Osteuropaforum der Universität Wien am 17. November 2014 junge Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler des Imre-Kertesz-Kollegs der Universität Jena, des Willy-Brandt-Zentrums der Universität Wrocław sowie der Forschungsplattform „Wiener Osteuropaforum“ der Universität Wien und der diplomatischen Akademie Wien eingeladen hatten.

Zentrale Werte der Revolution von 1989 wurden in Panels unter den jeweiligen Leitbegriffen Freiheit – Menschenwürde – Solidarität diskutiert. Im Rahmen einer öffentlichen Abendveranstaltung wurden deren Ergebnisse anschließend einem Podium zur Diskussion gestellt. Die Leitfragen der internationalen Tagung lauteten: Was ist geblieben von den Werten „Freiheit“, „Menschenwürde“ und „Solidarität“? Welche Ideale des Jahres 1989 wurden im Laufe der Transformation umgesetzt (oder auch nicht umgesetzt)? Worin liegt ihre Relevanz für das heutige Europa?

RAPHAEL UTZ (Jena) eröffnete das erste Panel zur Problematik der Revolutionen von 1989 und dem Ideal der Freiheit, indem er historisch-kritisch die Frage aufwarf, ob das Jahr 1989 in der langen Geschichte unzähliger Versuche, das Ideal der Freiheit zu verwirklichen, nicht eher einer unter vielen und somit kein annus mirabilis im Sinne einer revolutionären Wende gewesen sei. In Mittel- und Osteuropa, die ehemalige DDR eingeschlossen, fragten sich die Menschen heute verstärkt, ob sie tatsächlich in Freiheit leben.

In der anschließenden Diskussion war eine generationelle Wahrnehmungsdiskrepanz feststellbar, die FLORIAN HASELSTEINER (Wien) auf der Abendveranstaltung begrifflich mit der Differenzierung von Befreiung und Freiheit einzuholen versuchte. Für die Generation, die den Umbruch miterlebt hat, bestehe eine enge Verbindung beider Begriffe – während die Folgegeneration sich zwar einer für politisches Engagement weiterhin motivierenden affirmativen Befreiung als Ergebnis – und Versprechen – der Umbrüche bewusst sei, mit Freiheit aber vielmehr die ambivalente Erfahrung zahlreicher neuer Begrenzungen und diffuser Widerstände sowie das Gefühl einer Bürde verbinde. Aufgrund eines primär ökonomischen Verständnisses von Freiheit im Zuge der postsozialistischen Transformationen treten heute ungleiche Verteilungen der ökonomischen Voraussetzungen der Freiheit und damit einhergehend ein Gefühl kulturell-moralischer Depravation stärker hervor.

Zu beobachten waren Ambivalenzen der retrospektiven Deutung auch im Rahmen der öffentlichen Podiumsdiskussion. Das von Florian Haselsteiner zur Debatte gestellte Diktum, nach dem die „Freiheit der Wölfe den Tod der Lämmer“ bedeute3, wurde von PHILIPP THER (Wien) in seinem Referat ebenso aufgegriffen, wie von FRANZ BERTELE (Berlin), dem ehemaligen Botschafter der BRD in Ost-Berlin – aber unterschiedlich gedeutet. Der Zeitzeuge Bertele unterstrich die ökonomische Verwerfungen rechtfertigende Rolle knapper Zeitfenster für Reformen; während Ther kritisch zu bedenken gab, dass der Preis der raschen wirtschaftlichen Liberalisierung in Gestalt der ungleichen Verteilung der Früchte der Freiheit zu einem anhaltend großen Maß an Unzufriedenheit und Verlustempfinden geführt habe. Überdies wurde die Tatsache unterstrichen, dass die Konzeption von Freiheit vom gesamten diskursiven Rahmen abhängt: Unter den Bedingungen eines totalitären Regimes erscheint der Zugewinn von Freiheit im Jahr 1989 zu kulminieren, während die Retrospektive unter veränderten Bedingungen dieser Freiheit eine ambivalente Bedeutung zwischen Verheißung, Verpflichtung und Bürde zuweist.

In den zweiten Themenkomplex der Revolutionen von 1989 und dem Ideal der Menschenwürde führte MAREK A. CICHOCKI (Warschau) mit einem Referat ein, in dem er mit philosophischen Argumenten dafür plädierte, von einer allen Menschen aufgrund ihres Menschseins zukommenden Qualität der Würde auszugehen, die jedoch weniger als ein Recht denn als unveräußerliche Integrität der Persönlichkeit verstanden und anerkannt werden müsse. Auf die Spannung zwischen einer philosophischen Definition der Menschenwürde und jener Indifferenz, mit der im lokalen wie globalen Maßstab entwürdigende Leiderfahrungen stattfinden, wurde im Zuge der anschließenden Diskussion hingewiesen.

Als Zwischenfazit kristallisierte sich heraus, dass vor allem von Leiderfahrungen, also der Negativfolie her die Problematik der Menschenwürde auch historisch greifbarer wird. Die Entwicklungen, die zu dem verhandelten Systemwechsel von 1989 geführt haben, basierten auf dem Gefühl eines geteilten Leids, welches das Eintreten für Menschenwürde – für godność und ludzkość im Kontext der polnischen Solidarność, für ludzkost im Kontext der tschechoslowakischen Opposition – eindeutig als moralische Entscheidung sichtbar gemacht habe. Diese moralisch-dezisionistische Komponente – Menschenwürde als Problem von Entscheidung und Verantwortung – in Verbindung mit der ethischen Überzeugung, dass die Nichtanerkennung bzw. das Übersehen der Würde anderer dem Verlust der eigenen Würde als Mensch gleichkommt, könnte man nach den Diskussionen des Workshops als das Erbe der Revolutionen von 1989 bezeichnen.

Hinsichtlich der Wirksamkeit dieses Erbes allerdings neigte der Workshop zu der Einschätzung, die SARAH KUNTE und CORNELIA BRUHN (beide Jena) in ihrem Referat im Rahmen der öffentlichen Diskussionsveranstaltung vortrugen: Demnach könne gegenwärtig eher von der Dominanz einer positivistischen Vorstellung gesprochen werden, nach der Menschenwürde als zwar unveräußerliches aber dennoch nur in positivierter Rechtsform schutzbefohlenes Gut gelte. Als Folge würde jenes 1989 praktizierte, solidarische Hinsehen auf das Leid anderer viel zu selten verwirklicht, wie gegenwärtig an den EU-Außengrenzen und im Umgang mit Asylsuchenden beobachtbar. Diesbezüglich bestehe die ideen- und zeitgeschichtliche Herausforderung darin, das 1989 mit neuen Bedeutungsschichten angereicherte Ideal der Menschenwürde erneut und genauer zu rekonstruieren. Zumal diese Reflexion von weiteren Problemfeldern aufgedrängt wird, die Marek A. Cichocki mit den Schlagworten „digitale Gesellschaft“, „Bioethik“, „Abtreibung“ und „würdiges Sterben“ andeutete.

Eine vergleichbare Forderung nach Re-Interpretation formulierte DIETER SEGERT (Wien) hinsichtlich der Problematik der Solidarität als dem Erbe der Revolutionen von 1989. Er diagnostizierte gegenwärtig eine Diskrepanz zwischen der internationalen Solidarität, wie sie von den Dissidenz- und Oppositionsbewegungen der 1980er-Jahre aber auch vom Staatssozialismus postuliert worden sei, und zunehmenden Nationalismen. Die Vorgeschichte der Revolutionen von 1989 habe gezeigt, dass Solidarität gerade auf grenzüberschreitenden Leiderfahrungen und gegenseitiger Hilfe (insbesondere unter den Bedingungen der Mangelwirtschaft) basierte – also Status- und Berufsgruppen, Weltanschauungen und Generationen, sowie Ländergrenzen transzendierte.

Diese Kritik an Renationalisierungstendenzen implizit relativierend lieferte Segert unmittelbar eine Erklärung nach: Die Erfahrungen und Horizonte, die sich in den Bedeutungsschichten des Begriffs Solidarität 1989 sedimentiert haben, seien von Land zu Land jeweils andere und deshalb die Kultivierung dieses Ideals als geteiltem Erbe der Revolutionen von 1989 keine leichte Aufgabe. Heute habe Solidarität primär mit Gerechtigkeit zu tun, und in dieser Hinsicht falle die Bilanz 25 Jahre nach den Umbrüchen kritisch aus. Die davon aufgeworfene Frage, welche Gesellschaft die Menschen 1989 wollten, erscheint so inzwischen als Frage an die Geschichtswissenschaft.

Ansetzend bei der diesbezüglich von David Ost beobachteten Eigentümlichkeit4, dass 1989 im Moment der Öffnung des Zukunftshorizontes für politische Gestaltung das Bewusstsein für die eigenhändige Bestimmung der eigenen Belange im Kontext der polnischen Solidarność verloren gegangen sei, konstatierten MATEUSZ MATUSZYK (Breslau) und LUKAS BECHT (München/Breslau) in ihrem Beitrag zum Erbe der Solidarität, dass die Generation der Nachgeborenen mit dem Begriff primär jene Solidarność-Bewegung, die den Umbruch herbeigeführt habe, verbinde. Solidarität steht als Symbol für den Befreiungskampf gegen das kommunistische Regime, für eine nationale Bewegung. Schwache Konturen haben hingegen heute die programmatischen politischen Konzeptionen der Solidarność. Der Workshop identifizierte hier als weiter zu konkretisierende Leitideen die moralische Wiedergeburt der nationalen Gemeinschaft, Verteilungsgerechtigkeit, intra- und intergesellschaftliche Verständigung und eine liberale pluralistische Öffentlichkeit als Basis demokratischer Mitbestimmung.

Die für den Umbruch von 1989 jedoch maßgebliche Bedingung der Möglichkeit sei die Grunderfahrung einer Überwindung von Angst vor Repressionen oder Krisentendenzen durch gemeinsames Handeln und gemeinsamen Protest gewesen. Dieser Gedanke erschien bis in die Gegenwart hinein als das durch Diskurse, die politische Handlungsmacht von externen Notwendigkeiten und Sachzwängen eingeschränkt sehen, eingehegte Erbe der Revolutionen. Ideengeschichtliche Forschung könnte also darin ein Anliegen sehen, diesen Konnex zwischen dem Bewusstsein politischer Gestaltungsmacht und jenen unter Solidarität verstandenen Idealen der Moralität, gerechten Verteilung, politischen Teilhabe und des Pluralismus zu rekonstruieren.

Wie das Abschlussstatement von Philipp Ther noch einmal hervorhob, steht die Zeitgeschichte angesichts der zunehmend ambivalenten Bilanz der Transformationen in Mittel- und Osteuropa aus Sicht der jeweiligen Gesellschaften vor einer Reihe relevanter Forschungsfragen und Probleme. Ihre Aufgabe kann es sein, durch eine Historisierung der Entwicklungen um und insbesondere nach 1989 zu einer Pluralisierung und Ausgewogenheit dieser politisierten Debatten beizutragen.

Die Benennung der zentralen Herausforderungen dieses Unterfangens kann zusammenfassend als Ertrag der Tagung für die weitere Forschung festgehalten werden. Der Versuch, die ideengeschichtliche Bedeutung von 1989 zu beurteilen, konnte neben den skizzierten Einschätzungen nämlich vor allem Folgendes verdeutlichen: Erstens, hat zeitgeschichtliche Erforschung der Transformationen die Differenz zwischen generationellen Erfahrungen zu reflektieren, die unterschiedliche Bedeutungshorizonte von Begriffen, unterschiedliche Erinnerungsorte und -praktiken nach sich ziehen. Ebenso gilt es, zweitens, im Hinblick auf unterschiedliche Sprachräume Differenzen zu reflektieren. Das Erbe der Revolutionen von 1989 dürfte ohne den transnationalen Vergleich und den Blick auf grenzüberschreitende Austauschprozesse kaum erforscht werden können. Drittens, erscheint es von Bedeutung, die unterschiedlichen Geschwindigkeiten des Wandels zu reflektieren. Nicht nur multiple Zeitwahrnehmungen, sondern auch unterschiedliche Erwartungshorizonte post und ante 1989 finden in den Begriffen und Sinnwelten von Akteuren und Institutionen nach 1989 Niederschlag. Zur damit, viertens, einhergehenden Politisierung muss sich eine zeitgeschichtliche Erforschung schließlich ebenfalls verhalten. Sie bezieht daraus und aus den angedeuteten Horizontverschiebungen zugleich gute Gründe, die Historisierung der Zeit nach 1989 zu betreiben.

Konferenzübersicht:

Workshop:
Raphael Utz (Jena), Die Revolutionen von 1989 und das Ideal der Freiheit

Marek A. Cichocki (Warschau), Die Revolutionen von 1989 und das Ideal der Menschenwürde

Dieter Segert (Wien), Die Revolutionen von 1989 und das Erbe der Solidarität

Öffentliche Abendveranstaltung:

Florian Haselsteiner (Wien), Das Erbe der Freiheit

Sarah Kunte / Cornelia Bruhn (Jena), Das Erbe der Menschenwürde

Mateusz Matuszyk (Breslau) /Lukas Becht (München/Breslau), Das Erbe der Solidarität

Franz Bertele (Berlin), Die Revolutionen von 1989 aus Sicht eines Zeitzeugen

Marek A. Cichocki (Warschau), Die Revolutionen von 1989 aus philosophischer Sicht

Philipp Ther (Wien), Die Revolutionen von 1989 aus der Sicht zeithistorischer Forschung

Anmerkungen:
1 vgl. Philipp Ther, Das „neue Europa“ seit 1989. Überlegungen zu einer Geschichte der Transformationszeit, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 6 (2009), S. 105-114, <http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2009/id=4729> (04.02.2015); ders., Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des Neoliberalismus in Europa nach 1989, Frankfurt am Main 2014.
2 Claus Offe, Das Dilemma der Gleichzeitigkeit. Demokratisierung und Marktwirtschaft in Osteuropa, in: Merkur 4 (1991), S. 279-292, hier S. 279.
3 i. Orig. „Freedom for the pike is death for the minnows”, R.H. Tawney zit. n. Isaiah Berlin, Two Concepts of Liberty, in: ders. (Hrsg.), Four Essays on Liberty, Oxford 1969, S. 118-172, hier S. 124.
4 David Ost, Reflections on 1989. When Poland’s future opened up, Solidarity’s sense of agency disappeared, in: Focaal – Journal of Global and Historical Anthropology 58 (2010), S. 105-108.