Funktionalität von Geschichte in der Spätmoderne. Konzepte – Methoden – Forschungsperspektiven

Funktionalität von Geschichte in der Spätmoderne. Konzepte – Methoden – Forschungsperspektiven

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Warschau
Ort
Warschau
Land
Poland
Vom - Bis
17.09.2015 - 18.09.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Florian Peters, Institut für Zeitgeschichte, Berlin

Die Erinnerungsforschung ist tot, es lebe die Forschung zur Funktionalität von Geschichte – so ließe sich der programmatische Ausgangspunkt der vom Deutschen Historischen Institut in Warschau organisierten Konferenz zur „Funktionalität von Geschichte in der Spätmoderne“ launig zusammenfassen. Die Tagung, mit der das Institut zugleich den Startschuss für seinen gleichnamigen neuen Forschungsschwerpunkt gab, beschrieb eine konzeptionelle Suchbewegung mit dem Ziel, produktive Perspektiven für die Erforschung der gesellschaftlichen Gegenwart von Geschichte zu entwickeln, die über die Fragen und Methoden bisheriger Erinnerungsforschung hinausweisen.

Als Hausherr und Gastgeber gab der Direktor des DHI MILOŠ ŘEZNÍK (Warszawa) in seiner Einführung die Richtung der zweitägigen, in fruchtbarer Workshop-Atmosphäre verlaufenden Diskussionen vor. Das von manchen bereits gefällte Todesurteil über die in den letzten beiden Jahrzehnten boomenden „memory studies“ führte er auf die vor allem in konzeptioneller Hinsicht unbefriedigenden Ergebnisse dieses interdisziplinären Forschungszweigs zurück. Dieser habe zwar eine Vielzahl semantischer Einzelfallanalysen konkreter Ausdrucksformen von Erinnerung hervorgebracht, grundlegende Entwicklungstendenzen zeitgenössischer historischer Kultur hingegen vernachlässigt. In einem Versuch, solche fundamentalen Trends zu umreißen, postulierte Řezník für unsere Gegenwart das „Ende des historistischen Zeitalters“. Während Geschichte als Modus universalistischer Weltdeutung immer weniger gesellschaftliche Akzeptanz finde, erst recht in ihrer akademisierten Form, sei die lebensweltliche Relevanz des Historischen sogar gestiegen. Beides stehe mit veränderten Zeitwahrnehmungen und Partikularisierungstendenzen in der „Spätmoderne“, mit dem Bedeutungszuwachs ludischer Kultur und schließlich mit dem radikalen Ökonomismus der neoliberalen Konsumgesellschaft in Verbindung.

Die folgenden Panels der Tagung arbeiteten sich an verschiedenen Dimensionen dieser Standortbestimmung ab. Zunächst untermauerte MAGDALENA SARYUSZ-WOLSKA (Warszawa/ Łódź), die sich in den letzten Jahren als engagierte Gärtnerin im Weinberg der deutsch-polnischen Erinnerungsforschung profiliert hatte, den Befund der konzeptionellen und begrifflichen Kakophonie in diesem interdisziplinären Forschungszusammenhang. Begriffe seien zu beliebigen Metaphern geworden, sodass die „memory studies“ ungeachtet ihrer anhaltenden Konjunktur in Polen an einer problemorientierten Neukonturierung ihres Forschungsfelds nicht vorbeikämen. Anschließend warf ERIK MEYER (Essen) mit seinem Referat über Repräsentationen von Geschichte im Internet weitere neue Fragen auf. Phänomene wie „crowdsourced memory“ oder „gamification“ wertete Meyer als Motoren der zunehmenden Privilegierung von subjektiven Perspektiven auf die Vergangenheit. Was die voranschreitende Digitalisierung der Erinnerungskultur für die Geschichtswissenschaft bedeutet und inwiefern die Algorithmen von Suchmaschinen und Filterblasen die Funktion der untergegangenen „grands narratifs“ für die Rahmung von Geschichtsbildern übernehmen könnten, wurde im Anschluss lebhaft diskutiert.

Mit dem prekär gewordenen Verhältnis akademischer Geschichtswissenschaft zu einer wie auch immer definierten gesellschaftlichen Praxis setzten sich auch JULIANE TOMANN (Jena) und CORD ARENDES (Heidelberg) in ihren Beiträgen zur Positionsbestimmung von „Angewandter Geschichte“ bzw. „Public History“ auseinander. Während Tomann das zivilgesellschaftlich kontextualisierte und auf die Tradition der Geschichtswerkstätten-Bewegung rekurrierende Konzept der „Angewandten Geschichte“ verfocht und dabei vor allem die Dekonstruktion fertiger Geschichten im Blick hatte, plädierte Arendes für eine Institutionalisierung der „Public History“ als akademische Subdisziplin, die sich in erster Linie als prozessorientierte Reflexions- und Vermittlungsinstanz zwischen Forschung und öffentlichem Interesse verstehen müsse. Im Laufe der Diskussion wurde deutlich, dass die unterschiedlichen Ausgangspunkte und Begrifflichkeiten einer konstruktiven Debatte und einer erstaunlich weit reichenden Übereinkunft in praktischen Fragen durchaus nicht im Wege standen.

Nach diesem theoretisch-konzeptionellen Auftakt wandten sich die weiteren Panels konkreten Orten und Medien zu, an und in denen Geschichte auf die eine oder andere Weise für die Gegenwart nutzbar gemacht wird. Im Mittelpunkt stand dabei zunächst die Inszenierung und touristische Inwertsetzung von Historizität. ANGELA SCHWARZ (Siegen) machte anhand historischer Stadtrekonstruktionen auf den Weltausstellungen in Chicago (1893) und Antwerpen (1894) anschaulich, dass es sich bei diesen Phänomenen keineswegs um Erfindungen unserer spätmodernen Gegenwart handelt. Das in Chicago aus Pappmaché errichtete „Alt-Wien“ und das über 70 Häuser im Stil des 16. Jahrhunderts umfassende „Oud Antwerpen“ waren schon im ausgehenden 19. Jahrhundert Publikumsmagneten, die ihren Besuchern eine kommodifizierte Zeitreise in die Vergangenheit boten – ungeachtet der Fiktionalität ihres Authentizitätsversprechens. Die „Touristifizierung“ von Geschichte war hier ebenso greifbar wie in den Ausführungen STEFAN BERGERs (Bochum) über die Musealisierung der architektonischen Überreste der schwerindustriellen Moderne im Ruhrgebiet. Ohne die nostalgischen Züge dieses Prozesses in Abrede zu stellen, zeichnete Berger das Bild eines konsensualen Identitätsstiftungsprojekts, das Geschichtskultur erfolgreich zur Abfederung des industriellen und gesellschaftlichen Strukturwandels genutzt habe. Dies werde besonders im transregionalen Vergleich mit der einstigen britischen Bergbauregion Südwales deutlich, wo der radikale Strukturbruch unter Thatcher eine vergleichbare Bezugnahme auf das industriekulturelle Erbe unmöglich gemacht habe. Schließlich widmete sich MADELEINE BROOK (Oxford) dem Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit im „Re-enactment“ von historischen und insbesondere militärgeschichtlichen Ereignissen. In Anknüpfung an Collingwood betonte sie die enge Verknüpfung von Geschichtsschreibung und geistigem „Re-enactment“ der Vergangenheit, warb aber zugleich für einen differenzierten Blick auf das historische Erkenntnispotenzial der vor allem im angelsächsischen Raum populären rollenspielerischen „Re-enactment“-Bewegung.

Das Panel zur „Vergangenheitsbewirtschaftung“ in Unternehmen bot ebenfalls Gelegenheit zu aufschlussreichen Vergleichen zwischen dem späten 19. Jahrhundert und unserer Gegenwart. Während VEIT DAMM (Saarbrücken) über die Inszenierung und ökonomische Funktionalisierung von Unternehmensjubiläen im Bankwesen referierte, die bis in die 1920er-Jahre noch ganz ohne die Beteiligung professioneller Historiker auskam, lieferte MANFRED GRIEGER (Göttingen/ Wolfsburg) aktuelle Einblicke in Selbstverständnis und „wissenschaftsfundierte“ Arbeitsweise der von ihm geleiteten Abteilung „Historische Kommunikation“ der Volkswagen AG. Grieger räumte ein, dass die kritische Aufarbeitung der Unternehmensgeschichte auch heute in permanentem Konflikt mit der fehlenden Fehlerkultur von Unternehmen stehe – nicht ohne allerdings im Gegenzug darauf hinzuweisen, dass die wachsende Bedeutung von Auftragsforschung und „history consulting“ im Wissenschaftsbetrieb ihrerseits die Unabhängigkeit von Universitätshistorikern und damit letztlich den Marktwert ihrer Reputation gefährde.

Die beiden folgenden Beiträge zur visuellen Geschichtskultur konzentrierten sich auf die neue Hochkonjunktur historischer Stoffe seit Ende der 1980er-Jahre. SIMONA SLANIČKA (Bern) nahm das Genre des Historienfilms in den Blick und spannte den Bogen von den epischen, religiös aufgeladenen „Sandalenfilmen“ der 1950er-Jahre bis hin zu Nico Hofmanns Fernseh-Mehrteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“. Zwar stünden in neueren Produktionen nicht mehr strahlende Helden, sondern eher gebrochene, tragische Figuren im Mittelpunkt; dennoch sei eine Rückkehr eschatologischer Erlösungsgeschichten zu beobachten, in denen die Übermacht der Geschichte die Protagonisten geradezu entmündige. Dies gelte auch für „Unsere Mütter, unsere Väter“, dem Slanička bescheinigte, mit der Inszenierung des osteuropäischen Waldes als bedrohlichem liminalen Ort problematische Konventionen des deutschen Heimat- und Kinderfilms aufzugreifen. Ihr kritisches Urteil blieb in der Diskussion freilich nicht unwidersprochen. Einen Trend zu gebrochenen Figuren und Antihelden machte auch BETTINA SEVERIN-BARBOUTIE (Paris) in neueren historischen Comics aus, die sie als lohnenswerten Forschungsgegenstand für die Geschichtswissenschaft charakterisierte. Ihr besonderes Augenmerk galt dabei dem Segment der anspruchsvollen „graphic novels“, für das sie im Gegensatz zu Slanička keine Rückkehr der „grands narratifs“ konstatierte. Vielmehr sei hier ein Bemühen um größtmögliche „subjektive Authentizität“ genretypisch.

Mit dem historischen Museum kam schließlich eine klassische Institution historistischer Geschichtskultur auf den Prüfstand, die von dem veränderten Status des Historischen in der Gegenwart ebenfalls nicht unberührt geblieben ist. Zunächst analysierte MONIKA HEINEMANN (München) den „polnischen Museumsboom“ der letzten Jahre, der mit einer Reihe von prestigeträchtigen Museumsneugründungen einen grundlegenden Wandel der hergebrachten Ansprüche an historische Museen widerspiegle. Anhand eines Vergleichs des Museums des Warschauer Aufstands mit der Ausstellung in der Krakauer Schindler-Fabrik zeigte sie, dass eine als „modern“ apostrophierte Präsentation, die um Schaffung suggestiver Raumwelten und narrativer Vermittlungsformen bemüht ist, durchaus kein Gradmesser für die Innovativität der vermittelten Geschichtsdeutung sein muss. Sodann näherte sich ELŻBIETA JANICKA (Warszawa) dem vor wenigen Monaten eröffneten Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau, indem sie dessen Standort in der über Jahrzehnte gewachsenen Gedenkkultur auf dem Terrain des einstigen Warschauer Ghettos problematisierte und das Spannungsverhältnis zwischen jüdischer Erinnerung und deren subtiler Umdeutung in ein Projekt der polnischen Staatsräson skizzierte. Janickas mit Nachdruck vorgebrachter Vorwurf an das Museum, ein allzu idyllisches Bild der polnisch-jüdischen Geschichte zu zeichnen, mündete in eine kontroverse Diskussion über die Chancen und Risiken des von den KuratorInnen verfolgten Ansatzes, zeitgenössische Zeugnisse fast durchgehend für sich selbst sprechen zu lassen. Im Anschluss konnten die KonferenzteilnehmerInnen bei einem Spaziergang zum Standort des Museums im Warschauer Stadtteil Muranów selbst in Augenschein nehmen, wie komplex und streitbar die Bezugnahmen auf Geschichte auch in der Spätmoderne noch sein können.

Die produktiven Diskussionen im Verlauf der Warschauer Tagung zeigten eindrucksvoll, dass das Potenzial von Forschungen zur wandelbaren Rolle von Geschichte in gegenwärtigen und historischen Gesellschaften noch keineswegs erschöpft ist. Insbesondere der Ansatz, die Erforschung geschichtskultureller Praxen mit übergreifenden Periodisierungskonzepten wie „Spätmoderne“ zu verknüpfen und damit letzten Endes eine Historisierung des Forschungsparadigmas der Erinnerung anzustoßen, erwies sich als vielversprechende Perspektive. Dabei blieb offen, inwieweit dies auf eine graduelle Abkehr von der programmatischen Interdisziplinarität der hergebrachten Erinnerungsforschung zugunsten genuin historischer Fragestellungen hinausläuft.

Auffällig war während der zwei Tage in Warschau, dass die Tagung im Wesentlichen innerdeutsche Debatten spiegelte und den gegenwärtigen Stand der polnischen und ostmitteleuropäischen Forschungsdiskussion allenfalls am Rande berücksichtigte. Allein die Beiträge zu den neueren Museumsprojekten öffneten Sichtachsen auf die Situation in Polen, wo Fragen der Geschichtskultur weiterhin von höchster gesellschaftlicher und politischer Brisanz bleiben – erst recht nach den jüngsten Wahlerfolgen der Nationalkonservativen. Ein Seitenblick auf die Funktionalisierung von Geschichte im Ukraine-Konflikt führt eindringlich vor Augen, dass Geschichte auch in der „Spätmoderne“ unvermittelt wieder ins Zentrum höchst politischer Deutungskämpfe rücken kann. Wenn der neue Forschungsschwerpunkt am Warschauer DHI mit einem weiten Blick auf ostmitteleuropäische Konstellationen zu einer kritischen Erforschung solcher Funktionalisierungen beitragen kann, wäre deshalb viel gewonnen.

Konferenzübersicht:

Miloš Řeznik (Warszawa): Einführung

Panel 1: Funktionalität von Geschichte – Ansätze / Konzepte: Quo vadis?
Moderation: Katrin Stoll (Warszawa)

Magdalena Saryusz-Wolska (Warszawa/ Łódź): Erinnerungs-/Gedächtnisforschung in der Krise? Auf der Suche nach Alternativen

Erik Meyer (Essen): Erinnerungskultur 2.0: Geschichte in der digitalen Gesellschaft

Juliane Tomann (Jena): Angewandte Geschichte. Erkundungen der Schnittstelle zwischen Geschichtstheorie und Geschichtspraxis

Cord Arendes (Heidelberg): Public History – Forschungsfeld, Praxisbezug und Brücke in die Öffentlichkeit

Panel 2: Geschichte vor Ort
Moderation: Sabine Stach (Warszawa)

Angela Schwarz (Siegen): Zeit – Reise: Die Entwicklung der Vergangenheit als touristisches Ziel in der Moderne

Stefan Berger (Bochum): Industrial Heritage: Landschaft und Identität im Ruhrgebiet in transregionaler Perspektive

Madeleine Brook (Oxford): Geschichte, Geschichtserzählung und „Re-enactment“: Ein Überblick der bisherigen Entwicklungen und Debatten

Panel 3: Geschichte im Unternehmen
Moderation: Miloš Řeznik (Warszawa)

Manfred Grieger (Göttingen/ Wolfsburg): „Vergangenheitsbewirtschaftung“ und Unternehmen: Historische Aufklärung und Geschichtskommunikation der Volkswagen Aktiengesellschaft

Veit Damm (Saarbrücken): Jubiläen und Unternehmensidentität vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart: Zwischen strategischer Kommunikation und historischer Selbstvergewisserung. Systematische Überlegungen am Beispiel des Bankwesens

Panel 4: Geschichte im Bild
Moderation: Michael Zok (Warszawa)

Simona Slanička (Bern): Das Ende der Geschichte im aktuellen Historienfilm. Transzendenzwünsche und Erlösungsformeln als Narrativ, vom Mittelalterfilm bis zum Weltkriegsdrama

Bettina Severin-Barboutie (Paris): Gezeichnete Geschichte oder die Suche nach der Vergangenheit im Comic

Panel 5: Geschichte im Museum
Moderation: Dorothea Warneck (Halle) / Katrin Stoll (Warszawa)

Rosmarie Beier-de Haan (Berlin): Das Museum – Akteur der Geschichtskultur. Annäherungen an eine Positionsbestimmung zu Beginn des 21. Jahrhunderts (Kurzfassung des Vortrags in Abwesenheit der Referentin verlesen)

Monika Heinemann (München): Das historische Museum als Erinnerungsfabrik – aktuelle Entwicklungen im polnischen Museumsboom

Elżbieta Janicka (Warszawa): The Embassy of Poland in Poland. On the redemptive narrative within the former Warsaw Ghetto area

Abschlussdiskussion


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