Regimenting Unfree Labour in Europe During the Second World War / Die Ordnung unfreier Arbeit im Europa des Zweiten Weltkrieges

Regimenting Unfree Labour in Europe During the Second World War / Die Ordnung unfreier Arbeit im Europa des Zweiten Weltkrieges

Organisatoren
Unabhängige Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Reichsarbeitsministeriums in der Zeit des Nationalsozialismus; Elizabeth Harvey, University of Nottingham; Kim Christian Priemel, Humboldt-Universität zu Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.12.2015 - 05.12.2015
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Von
Daniel Benedikt Stienen, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Nachdem sich die erste Jahrestagung der 2013 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingesetzten Unabhängigen Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Reichsarbeitsministeriums1 mit den Kontinuitäten und Diskontinuitäten der deutschen Sozialpolitik beschäftigt hatte2, war die zweite, von Elizabeth Harvey (Nottingham) und Kim Christian Priemel (Berlin) organisierte Jahrestagung der Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkrieges gewidmet. Unbestritten konnte sich das nationalsozialistische Deutschland auch deshalb über sechs lange Kriegsjahre behaupten, weil es das sich ihm dort bietende Arbeitskräftepotential in den besetzten Gebieten ausbeutete. Die Forschung der vergangenen Jahrzehnte hat dazu eine stattliche Literatur über die verschiedenen Besatzungsregime hervorgebracht. Die Tagung diente der Zusammentragung der bisherigen Ergebnisse unter besonderer Berücksichtigung von Geschlecht, Alter und Ethnizität unfreier Arbeit. Die Panels waren regional gegliedert.

HENRY MARX (Berlin) schilderte anschaulich, wie im Protektorat der Zielkonflikt zwischen einer Heranziehung der Arbeitskräfte in das Reich hinein und der Belassung der Arbeiter in den Betrieben vor Ort zu Gunsten der letzteren Option entschieden wurde. Hierfür führte Marx mehrere Ursachen an: Da die westlichen Gebiete der ehemaligen Tschechoslowakei hochindustrialisiert waren und überdies kaum ein Reservoir für landwirtschaftliche Saisonkräfte boten, schien eine Ausnutzung der tschechischen Bevölkerung in den heimischen Betrieben sinnvoller. Daneben war das Protektorat durch seine Lage in Mitteleuropa erst spät durch Kriegshandlungen betroffen, sodass im Laufe des Krieges zahlreiche Betriebe ihre Produktion aus dem Altreich in das Protektorat verlagerten und damit die Nachfrage noch verstärkten. Schließlich hatte der Plan, das Protektorat nach Kriegsende zum Exerzierplatz für die nationalsozialistische Germanisierungs- und Volkstumspolitik zu machen, die Folge, dass man sowohl darauf verzichtete, Volksdeutsche ins Reich anzuwerben, als auch Zwangsarbeiter/innen aus Drittländern ins Protektorat zu vermitteln. Waren auch die Werbemaßnahmen von Druck und Zwang der Besatzer begleitet, so blieb doch die arbeitende Kriegsgesellschaft im Vergleich zur Vorkriegsgesellschaft männlicher und ethnisch homogener als in anderen Ländern Europas.

Ähnlich verhielt es sich im Fall der niederländischen Gesellschaft, wie RALF FUTSELAAR (Amsterdam) zeigte. Im Gegensatz zum Protektorat besaß die niederländische Arbeitsmigration in die westlichen Industriezentren des Reiches eine lange Tradition, die nur in dem Zeitraum zwischen Kriegsausbruch und Invasion eine kurze Unterbrechung erfuhr. Neben den Fremdarbeiter/innen aus dem westlichen Nachbarland, die ins Reich gezogen wurden, sollte auch die niederländische Wirtschaft selbst den Bedürfnissen der deutschen Industrie unterworfen werden. Dazu wurde mit verschiedenen Formen der Arbeitsorganisation experimentiert, wie etwa dem „Opbouwdienst“, in den 60.000 demobilisierte Soldaten eingegliedert wurden. Er wurde vom „Arbeidseinsatz“ abgelöst, dem neben ehemaligen Soldaten überwiegend Studenten und Arbeiter aus der Luxusindustrie angehörten. Im Verlauf des Krieges wurde die Arbeit im Reich immer weniger attraktiv, weswegen die Besatzer die Zwangsmaßnahmen stetig verschärften. 1942 erreichte die Entsendung niederländischer Arbeiter/innen in das Reich mit 162.000 Personen ihren Spitzenwert. Tausende junger Männer flüchteten sich in irreguläre Beschäftigungsverhältnisse, um den Werbekommandos zu entkommen. Trotzdem wurde darauf verzichtet, das Arbeitskräftepotential der weiblichen Bevölkerung auszuschöpfen. Zwar stand den Frauen der Arbeitsdienst offen; zwangsweise zum Arbeitseinsatz wurden sie jedoch nicht herangezogen.

Ganz anders verhielt es sich im Donbass und Südrussland, wie TANJA PENTER (Heidelberg) untersuchte. Da in den ersten zwei Jahren nach dem Überfall auf die Sowjetunion hunderttausende Arbeitskräfte in das Reich deportiert worden waren, wurde ab 1943 der Einsatz weiblicher Arbeitskräfte immer wichtiger. Das galt nicht nur für den Reichseinsatz, sondern auch für die Arbeit vor Ort. Diese Frauen wurden nicht nur in der Verwaltung eingesetzt, sondern auch zur Arbeit in der Schwerindustrie und im Bergbau „unter Tage“ herangezogen; einer Arbeit, die im Reich den Männern vorbehalten blieb. Für die Frauen bedeutete der Arbeitseinsatz einen Schutz vor Verschleppung und eine halbwegs gesicherte Versorgung. Zwang und Freiwilligkeit gingen dabei Hand in Hand. Durch den Rückgriff auf weibliche Arbeitskräfte wurde in manchen Gruben, die nach den Zerstörungen der sich zurückziehenden Roten Armee erst wieder in Stand gesetzt werden mussten, bereits im Sommer 1943 das Produktionsniveau der Vorkriegszeit erreicht. Bereits im Februar 1943 sollten die Frauen durch eine neue Lohnverordnung ihren männlichen Kollegen in der Bezahlung gleichgestellt werden. Wenngleich die Frage nach der tatsächlichen Umsetzung offen bleiben muss, stellte bereits das Versprechen der Lohnverordnung ein „gewisses emanzipatorisches Moment für die Frauen“ dar.

Nicht weiblicher, aber dafür ethnisch heterogener war der Einsatz von Zwangsarbeitern in Norwegen, die MATS INGULSTAD, HANS OTTO FRØLAND und GUNNAR HATLEHOL (Trondheim) in den Fokus rückten. Die Aufrechterhaltung der freundschaftlichen Beziehungen war ebenso ein Ziel der Besatzer wie die Ausbeutung der Aluminium- und Magnesium-Förderung und ab 1942 der Ausbau kriegswichtiger Infrastruktur. Wie in anderen Ländern profitierten die deutschen Behörden auch in Norwegen von der anhaltenden Arbeitslosigkeit der Vorkriegszeit. Ab dem Frühjahr 1941 konnten nicht mehr ausreichend freiwillige Arbeitskräfte angeworben werden, sodass auch Formen unfreier Arbeit Anwendung fanden. Durch die unterschiedlichen Zielsetzungen der verschiedenen deutschen Akteure und der zeitlich wechselnden norwegischen Regierungen schwankte der Zustand stets zwischen Chaos und Kooperation. Dem Arbeitseinsatz von Frauen widersetzte sich die norwegische Regierung weitestgehend erfolgreich. Er blieb die Ausnahme. Stattdessen wurde für die von der Organisation Todt umgesetzten Infrastrukturmaßnahmen eine Vielzahl ausländischer Arbeitskräfte nach Norwegen verbracht. Deren Status umfasste die gesamte Bandbreite von freiwilliger und unfreiwilliger Arbeit. Im Zweiten Weltkrieg wurde Norwegen also ein Ziel von Zwangsmigration; eine Erfahrung, die in der Nachkriegszeit vergessen wurde, weil sie sich nicht in das Masternarrativ vom norwegischen Widerstand einfügen ließ und erst allmählich wiederentdeckt wird.

In seinem Abendvortrag leistete ULRICH HERBERT (Freiburg) einen Beitrag zur eigenen Historisierung. Retrospektiv schilderte er den Zuhörern die Entstehungsgeschichte seiner bahnbrechenden, nunmehr dreißig Jahre alten Studie zur NS-Zwangsarbeit und wie sie in den nationalen und internationalen Kontext der Forschung und ihrer Konjunkturen eingebettet ist.3 Ein anderer Teil des Vortrages war den Traditionssträngen der Zwangsarbeit gewidmet, an die die Nationalsozialisten anknüpfen konnten. Die Sklaverei in der islamischen Welt und anderen Weltteilen, die Fortdauer oder Neuinstallation der Sklaverei in den Kolonien, der Einsatz gefangener Soldaten und die Zwangsrekrutierung von Zivilarbeitern im Ersten Weltkrieg sowie die Deportationen und Zwangsarbeiterlager in der Sowjetunion, die ihrerseits Anknüpfungen an zaristische Methoden darstellten, bildeten Wissensbestände, die sich die nationalsozialistischen Besatzer bei der Organisation der Zwangsarbeit zu eigen machen konnten. Daran, dass der deutsche Fall exzeptionell sei, ließ Herbert keinen Zweifel aufkommen. Um das NS-spezifische der Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg jedoch überhaupt erst herausarbeiten zu können, mahnte er eine intensivere Beschäftigung mit anderen Systemen massenhafter Zwangsarbeit an.

In der ersten Zusammenfassung der Tagung betonte DIETER POHL (Klagenfurt) unter anderem die Auswirkung rassistischer Stereotype auf die Einschätzung zur Arbeitsfähigkeit. Durch die Handlungsspielräume bei den Selektionen erlangten diese Stereotype eine reale Bedeutung, etwa wenn die ukrainische Verwaltung erst die Angehörigen der polnischen, die lettische Verwaltung dagegen erst die Angehörigen der russischen Minderheit als Arbeitskräfte ins Reich schickte. Daneben unterstrich Pohl die multikausale Bedeutung geographischer Dynamiken: So haben rassistische Überlegungen wie Germanisierungs- und Kolonisierungsutopien ebenso einen Einfluss auf die Arbeitsverwaltung geübt wie Sicherheitsfragen in Form des Frontverlaufs oder der Partisanenbekämpfung und Versorgungsfragen, indem die Lebensmittelversorgung an den Arbeitseinsatz gekoppelt wurde. Zwar existierte eine Parallelität von Freiwilligkeit und Zwang bei der Arbeitsaufnahme. Trotzdem dürfe, so Pohl, nicht vergessen werden, dass die deutsche Arbeitsverwaltung im Zweiten Weltkrieg zunächst einmal ein Zwangssystem gewesen ist, das Hunger und Arbeitslosigkeit ausnutzte, um Unrecht und massive Gewalt bis hin zum Judenmord zu üben. Als zweckdienlich für die weitere Forschung des Phänomens „Zwangsarbeit“ nannte Pohl die Perspektive auf Hitlers Europa als Gesamtsystem und die Erforschung von Erfahrungswerten. Zu letzteren gehörten sowohl das Lernen aus den Kolonien und dem Ersten Weltkrieg wie auch ein möglicher Wissensaustausch mit den Verbündeten sowie der Vergleich mit anderen Zwangsarbeitssystemen jener Zeit, namentlich der Sowjetunion, Japan und dem franquistischen Spanien.

In einer zweiten Zusammenfassung hob JOHANNES-DIETER STEINERT (Wolverhampton) die Bedeutung von Alter und Geschlecht hervor. Eindrücklich beschrieb er die Lebenswirklichkeit eines dreizehnjährigen, weißrussischen Mädchens, das allein, schlecht versorgt und ohne ausreichenden Schutz vor sexueller Ausbeutung als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verbracht wurde. In seinen Augen sei ein solches Mädchen die typische Zwangsarbeiterin im Zweiten Weltkrieg gewesen. Vorsichtig – andere Schätzungen liegen darüber – bezifferte Steinert die Zahl der allein aus Polen und der Sowjetunion verschleppten Kinder auf über 1,5 Millionen, weswegen er die Zwangsarbeiterrekrutierung eine „organisierte Kinderentführung“ nannte. Für die zukünftige Forschung wünschte er eine stärkere Berücksichtigung der Korrelation von Ethnie und Geschlecht. In Westeuropa hatten die Kirchen Erfolg mit ihrem Protest gegen die Anwerbung bzw. Zwangsarbeit von Frauen; im Osten war dies undenkbar. Daneben empfahl Steinert, die Volksdeutschen ins Blickfeld zu nehmen, die dem auf sie ausgeübten Zwang zu widerstehen versuchten, sich in die Volkslisten einzutragen.

Am Ende der Tagung stand die Erkenntnis, dass die Tragfähigkeit der Kategorie „Zwangsarbeit“ heute in Frage gestellt werden muss. Zu moralisch und politisch aufgeladen scheint der Begriff durch die Entschädigungsdebatte. Ulrich Herbert wies darauf hin, dass die „freie Arbeit“ und „Sklavenarbeit“ lediglich zwei Idealtypen seien, zwischen denen es unendlich viele Abstufungen gebe und deren Rechtsqualität nur eine geringe Aussage über die tatsächliche Leidensqualität liefere. Tanja Penter riet, anstatt neue Kategorien zu bilden, zur dichten Beschreibung, um das Problem der Grauzonen zu umgehen. Einstimmigkeit herrschte bei den Teilnehmer/innen der Abschlussdiskussion, dass eine Erforschung der zeitgenössischen Kategorien von Arbeit und ihrer Semantiken weiterhelfen könnte. Ähnlich verlief die Diskussion über die Bereitwilligkeit zur Arbeitsaufnahme: Da diese nicht allein von ideologischen Gesichtspunkten geleitet war, sondern erheblich von den äußeren Lebensumständen in den besetzten Gebieten abhing, wurde auch im Fall von „Widerstand“ und „Kollaboration“ für ein dynamischeres Begriffskonzept plädiert. Der Blick auf Geschlecht und Ethnie der Arbeitskräfte hat gezeigt, welchen analytischen Mehrwert der regionale Vergleich der unterschiedlichen Besatzungsregime im Zweiten Weltkrieg hat. Dadurch lieferte die Tagung wichtige Anstöße für eine weitere Erforschung der NS-Zwangsarbeit. Die dritte Jahrestagung der Unabhängigen Historikerkommission, die im März 2016 in Berlin stattfindet, wird die Rolle des Reichsarbeitsministeriums bei der Internationalisierung der nationalsozialistischen Arbeits- und Sozialpolitik zum Thema haben.

Konferenzübersicht:

Welcome, Introduction
Elizabeth Harvey (Nottingham)

Panel 1
Chair: Alfons Adam (Prag)

Mark Buggeln (Berlin), Altreich

Bertrand Perz (Wien), Österreich

Henry Marx (Berlin), Protektorat Böhmen und Mähren

Panel 2
Chair: Sandrine Kott (Genf)

Patrice Arnaud (Caen), Frankreich

Elizabeth Vlossak (Brock), Elsass

Fabian Lemmes (Bochum), Italien

Keynote Lecture

Ulrich Herbert (Freiburg)

Panel 3
Chair: Kiran Klaus Patel (Maastricht)

Jens Thiel (Berlin) und Nico Wouters (SOMA), Belgien

Ralf Futselaar (NIOD Amsterdam), Reichskommissariat Niederlande

Mats Ingulstad, Hans Otto Frøland und Gunnar Hatlehol (Trondheim), Reichskommissariat Norwegen

Panel 4
Chair: Ingo Loose (Berlin)

Ryszard Kaczmarek (Katowice), Oberschlesien

Karsten Linne (Hamburg), polnische Arbeit im Warthegau und Generalgouvernement

Andreas Mix (Berlin), jüdische Arbeit im Warthegau und Generalgouvernement

Panel 5
Chair: Ulrike Schulz (Berlin)

Tilman Plath (Greifswald), Reichskommissariat Ostland, Baltikum

Babette Quinkert (Berlin), Reichskommissariat Ostland, Weißrussland

Swantje Greve (Berlin), Reichskommissariat Ukraine

Tanja Penter (Heidelberg), Donbass und Südrussland

Panel 6
Chair: Tatjana Tönsmeyer (Wuppertal)

Zoran Janjetovic (Belgrad), Serbien

Christoph Schölzel (Berlin), Kroatien

Sabine Rutar (Regensburg), Slowenien

Forum 1
Rapporteur: Dieter Pohl (Klagenfurt)

Forum 2
Rapporteur: Johannes-Dieter Steinert (Wolverhampton)

Abschlussrunde
Neil Gregor (Southampton), Ulrich Herbert (Freiburg), Tanja Penter (Heidelberg), Carola Sachse (Wien)

Anmerkungen:
1 Unabhängige Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Reichsarbeitsministeriums in der Zeit des Nationalsozialismus: <http://www.historikerkommission-reichsarbeitsministerium.de> (06.01.2016).
2 Tagungsbericht: Kontinuitäten und Diskontinuitäten der deutschen Sozialpolitik bis 1945, 11.12.2014 – 12.12.2014 Berlin, in: H-Soz-Kult, 30.03.2015, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5905>. (06.01.2016)
3 Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin 1985.


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