HT 2016: Ökonomische Glaubensfragen. Strukturen und Praktiken jüdischen und christlichen Kleinkredits im Spätmittelalter

HT 2016: Ökonomische Glaubensfragen. Strukturen und Praktiken jüdischen und christlichen Kleinkredits im Spätmittelalter

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2016 - 23.09.2016
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Von
Christoph Cluse, FB III - Arye Maimon-Institut, Universität Trier

Die von den Kieler Wirtschafts- und Sozialhistorikern Gerhard Fouquet und Sven Rabeler organisierte Sektion bezog sich auf den Begriff „Glaubensfragen“ in mehrfacher Weise. Erstens ist Kredit, wie schon J. G. Krünitz in der Oekonomischen Encyklopädie bemerkte1, buchstäblich eine Frage des Glaubens; der Begriff beschreibt Aspekte wirtschaftlichen Verhaltens angesichts unsicheren Ausgangs. Zweitens geht es um das Verhältnis von Juden und Christen auf einem alltäglichen und gerade deshalb wichtigen Feld ihrer Begegnung im Mittelalter. Mit den unzähligen Vorgängen der Aufnahme kleiner Kredite, als Darlehen und in anderen Formen, die zumeist als reine Konsum- und Überbrückungskredite anzusehen sind, geraten Akteure in den Blick, die sonst in den Quellen weniger Spuren hinterlassen. Gerade im Hinblick auf das christlich-jüdische Verhältnis ist das Bild von diesen Strukturen und Vorgängen aber drittens noch immer stark von den im späten 19. Jahrhundert geprägten Sichtweisen bestimmt. Unter dieser Perspektive ist auch die gegen Schluss der Sektion nochmals aufgeworfene Frage des Kredits an Bedürftige im Rahmen einer christlich gerahmten „moral economy“ zu betrachten. An den überkommenen Stereotypen hat die aktuelle Forschung bereits wichtige Korrekturen vorgenommen; die Dynamik der gegenwärtigen Entwicklung spiegelt sich nicht zuletzt in den Beiträgen der hier zu besprechenden Sektion.

Im ersten Beitrag stellte CHRISTIAN HAGEN (Kiel) erste Befunde aus einem von ihm bearbeiteten DFG-Projekt über christlich-jüdische Kreditbeziehungen im Spiegel dreier ausgewählter Gerichtsbuch-Überlieferungen (Konstanz, Wien, Babenhausen) vor. Er griff dafür das Registrum des Konstanzer Amman-Gerichts heraus, mit dessen Judenbetreffen sich bislang vor allem Hektor Amman (1949, 1952) näher befasst hat. Diese Betreffe dürfen freilich nicht isoliert werden, denn auf jeden Kredit eines jüdischen Geldverleihers kommen vier Kredite, die von Christen vergeben wurden (1423). Das Konstanzer Registrum enthält im Übrigen nur wenige ausgesprochene Kleinkredite (83 Prozent betrafen Summen über 10 fl. und mehr); aber auch sehr vermögende Konstanzer gingen mit ihren Geschäften selten an das Ammangericht (ein ursprünglich bischöfliches Gericht, das im Verlauf des 15. Jahrhunderts von der Stadt übernommen wurde). Bemerkenswert ist der Umstand, dass ein Drittel der Kredite als Waren- bzw. Dienstleistungskredite anzusprechen sind. Insgesamt scheint das Register aber trotz seines Umfangs nur einen Teil des Kreditmarkts abzubilden – es fehlen ganz kleine Beträge, und auch der Rentenmarkt mit seinen teils beträchtlichen Kreditgrößen darf nicht völlig ignoriert werden. So zeichnet sich die Aufgabe ab, den Befund in einen nochmals größeren Zusammenhang zu stellen.

Ein neues Licht auf das Verhältnis zwischen jüdischem und christlichem Geldverleih warf auch TANJA SKAMBRAKS (Mannheim) in ihrem Vortrag über die öffentlichen Monti di Pietà in den italienischen Städten, wofür sie aus den ca. 200 bekannten Einrichtungen dieser Art die Beispiele Perugia, Florenz und Rom wählte. Der Vortrag hinterfragte speziell das von der franziskanischen Historiographie entworfene Bild, nach dem die Gründung der Monti zur Verdrängung der jüdischen Geldverleiher aus den jeweiligen Städten geführt habe. Tatsächlich unterstreichen zwar die Gründungsurkunden in ihrer Rhetorik die Absicht, durch die Fundierung einer auf Barmherzigkeit gründenden Leihanstalt das Übel des „jüdischen Wuchers“ abzuschaffen. Allerdings treten schon bei der Ausstattung mit Grundkapital sowie auch im Verlauf der folgenden Jahrzehnte große Finanzierungsprobleme zu Tage, die dazu führten, dass weitere, auch jüdische Geldverleiher sich auf dem Markt für Kleinkredite behaupten konnten. In Venedig blieben die Versuche zur Gründung eines Monte ganz erfolglos. Die von Skambraks untersuchten Kassenbücher und Pfandregister offenbaren zudem, dass Juden und Jüdinnen in vielfachen Beziehungen zu den Monti standen, indem sie beispielsweise verfallene Pfänder übernahmen.

In seinem Kommentar unterstrich ALFRED HAVERKAMP (Trier) die Zusammenhänge zwischen den Befunden nördlich und südlich der Alpen, die auch in den länger währenden Familien- und Geschäftsbeziehungen von Juden in Konstanz und Treviso Ausdruck fanden. Offenkundig waren die Unterschiede zwischen den Standorten, auch hinsichtlich der Geschäftspraxis, „überwindbar“. Auf ein Übergewicht des Kleinkredits deuteten schon die Befunde in den Geschäftsbüchern eines jüdischen Konsortiums von Vesoul (Grafschaft Burgund) und in den Rothenburger Gerichtsbüchern in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts hin. Es gebe keinen Grund für die Annahme, dass die Bedeutung dieses Kreditsegments nach 1350 angestiegen sei. Hinsichtlich der Monti sei die Frage noch unbeantwortet, warum sie in Italien (und teils in Spanien) verbreitet waren, nicht aber nördlich der Alpen.

Die Diskussion der ersten Sektionshälfte machte nochmals deutlich, dass nur der Vergleich möglichst vieler Kreditangebote und Überlieferungen zu angemessenen Aussagen über den Stellenwert des jüdischen Kredits und über das Verhältnis zwischen Christen und Juden am jeweiligen Ort führen kann. In den zeitgenössischen Debatten, die auf gesellschaftliche Krisenlagen verweisen, lassen sich dabei unterschiedliche Akteurs- und Interessengruppen identifizieren.

Teil II der Sektion wurde mit dem (vertretungsweise von Sven Rabeler verlesenen) Vortrag von DAVID SCHNUR (Trier) über die Beziehungen zwischen Juden und Handwerkern im Spiegel der Frankfurter Gerichtsbücher eröffnet. Diese Akten sind zwar 1943/44 restlos verbrannt, doch wurden die Judenbetreffe von Isidor Kracauer in dessen Urkundenbuch zur Geschichte Juden in Frankfurt am Main (1914) „annähernd lückenlos“ dokumentiert.2 Die seit 1330 überlieferten Protokolle werden seit ca. 1370 ausführlicher; die Sprache wechselt ins Deutsche. Von den rund 10.500 Belegen betreffen ca. 90 Prozent die Klagen jüdischer Gläubiger gegen säumige Schuldner. Zu den christlichen Kunden sind in fast 2.500 Fällen Berufsbezeichnungen überliefert, wobei knapp 1.800 auf 30 Gewerbe entfallen. Schnur hat diese nochmals in „Hauptgewerbe“ zusammengefasst – allen voran „Nahrung“, gefolgt von „Metall“, „Leder“ und „Textil“. Zwischen der ersten und der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zeichnen sich Schwerpunktverlagerungen ab. Der „Handel“ dürfte insgesamt wohl unterrepräsentiert sein; doch weist Schnur nach, dass Juden durch das Instrument der Schadennahme auch in die Clearing-Vorgänge der Frankfurter Messen eingebunden waren. Eine regelmäßige Verschuldung bei Juden lässt sich für die Fischer konstatieren, wobei nicht weniger als 92 Belege auf vier Personen entfallen, die häufig auch für einander bürgten. Umgekehrt sind mehr als 60 Fälle bezeugt, in denen Juden ihre Schulden bei christlichen Handwerkern nicht rechtzeitig bezahlt haben und deshalb gerichtlich belangt werden.

Auf eine weitaus breitere, funktional differenzierte Überlieferung konnte GABRIELA SIGNORI (Konstanz) ihren Beitrag über die Basler Geldleihe im 15. Jahrhundert stützen, der zugleich einen Einblick in die Ergebnisse ihrer Monographie Schuldenwirtschaft (2015) bot3. In Basel, wo nach 1397 keine jüdischen Geldverleiher mehr ansässig waren, bezeugt ein exzeptionell dichter Bestand städtischer Gerichtsbücher die Allgegenwart von Schulden und Kredit unter der christlichen Bevölkerung, gerade auch in den unteren Schichten. Der Vortrag ging näher ein auf „Verbotsbücher“ und „Beschreibbüchlein“, die sich häufig mit dem Nachlass verstorbener Schuldner befassten, sowie auf die „Vergichtbücher“ mit öffentlichen Konfessaten, die bei Säumigkeit des Schuldners unmittelbar Sanktionen ermöglichten. Schrift erweise sich damit als effizientes Sicherungsinstrument. An Beispielen verdeutlichte Signori, dass die Nachlassarreste hauptsächlich „Geldforderungen im unteren Schillingbereich“ dokumentieren, die nur zum Teil als „geliehenes Geld“ markiert sind und die aus Krediten resultierten, die horizontal, häufig im nachbarschaftlichen Umfeld vergeben worden waren. Dagegen lassen sich in den Vergichtbüchern auch vertikale Kreditbeziehungen nachweisen; in den älteren Bänden dieser Reihe finden sich auch noch viele Warengeschäfte, die später eher in die „Kaufhausbücher“ eingetragen wurden. Die Einträge in den Gerichtsbüchern konzentrieren sich im Verlauf des 15. Jahrhunderts zunehmend auf „eine Armada kleiner Leute“, während Mittel- und Oberschicht ihre Geldgeschäfte anders organisierten.

Im Kommentar zur zweiten Sektionshälfte hob HANS-JÖRG GILOMEN (Zürich) zunächst hervor, dass die Omnipräsenz von Kredit in der spätmittelalterlichen Gesellschaft nicht als Indifferenz gegenüber den kirchlichen Normen zu werten sei. Legale Kreditgeschäfte seien nicht allein von Zinsdarlehen, sondern auch von verschleierten Wuchergeschäften grundsätzlich zu unterscheiden. Im teils rigiden Vorgehen städtischer Obrigkeiten gegen unlautere Kredite zeige sich jene „religiöse Grundierung“ im wirtschaftlichen und sozialen Denken der Zeit, die sich auch in der Wahrnehmung des jüdischen Kredits äußere (nicht widerspruchsfrei übrigens, denn christliche Lombarden und Kawertschen genossen dieselben Privilegien wie Juden). Die Grenze und zugleich funktionale Verzahnung werde in den mehrfach erwähnten Schadennahmen sichtbar. Im Hinblick auf „Glaubensfragen“ seien schließlich auch die von Signori unterschiedenen „horizontalen“ und „vertikalen“ Kreditbeziehungen zu thematisieren; die neuere Forschung betone hier eine „christliche Modellierung“, die von späteren, kapitalistischen Formen des Kredits zu unterscheiden sei.

Die hiermit angesprochene Frage, ob die Kreditverhältnisse des Spätmittelalters als „vorkapitalistisch“ von denen der kapitalistischen Ökonomie abgegrenzt werden können, wurde in der anschließenden Diskussionsrunde nochmals aufgegriffen. Signori sprach sich dafür aus, auch hier den Blick auf die Akteure zu richten: So verliehen Basler Kaufleute einerseits kleine Kredite ohne begründete Hoffnung auf Rückzahlung, während sie zugleich profitorientiert in Bergwerks-Kuxen investierten. Allerdings warnte sie vor sozialromantischen Blickweisen. Auch Gilomen räumte die Existenz „präkapitalistischer“ Formen ein.

In seiner Zusammenfassung unterstrich GERHARD FOUQUET (Kiel), dass Fortschritte beim Verstehen spätmittelalterlicher Kreditbeziehungen „nur über die Epistemik gleichsam des massenhaften Buchstabierens“ zu erreichen seien. Damit schloss er sich der Forderung an, den Fokus der Untersuchung auf die beteiligten Personen, auf die invididuellen Risiken des Lebens „auf Pump“ zu richten. Die vorgestellten Befunde zeigten „teilweise paradoxe Ambivalenzen in der Gegenüberstellung von Christen und Juden in den Verschränkungen von Norm und Praxis“. In der Zusammensetzung der Sektion wie auch in den einzelnen Vorträgen wurde nachdrücklich vor Augen geführt, dass die isolierte Betrachtung des jüdischen Darlehensgeschäfts den komplexen Verhältnissen von Verschuldung und Kredit im Spätmittelalter nicht gerecht wird.

Sektionsübersicht :

Sven Rabeler (Kiel): Einführung

Christian Hagen (Kiel): Christliche und jüdische Darlehensverträge im Konstanzer Ammanngerichtsbuch (1423–1434)

Tanja Skambraks (Mannheim): Zwischen Kooperation und Konkurrenz. Jüdische Pfandleihe und Monti di Pietà in Italien

Alfred Haverkamp (Trier): Kommentar I

David Schnur (Trier): Jüdische Wirtschaftspraxis im spätmittelalterlichen Frankfurt – Strukturen innerstädtischer Geld- und Pfandleihe im 14. Jahrhundert

Gabriela Signori (Konstanz): „Gelihen geltz“. Christliche Geldleihe aus dem Blickwinkel spätmittelalterlicher Gerichtsbücher

Hans-Jörg Gilomen, Zürich: Kommentar II

Gerhard Fouquet (Kiel): Zusammenfassung

Anmerkungen:
1 Johann Georg Krünitz u.a., Oeconomische Encyclopädie. Allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft in alphabetischer Ordnung, Berlin 1773–1858.
2 Urkundenbuch zur Geschichte der Juden in Frankfurt am Main von 1150 - 1400 / bearb. von I. Kracauer. Frankfurt am Main 1914.
3 Gabriela Signori, Schuldenwirtschaft. Schuldenwirtschaft: Konsumenten- und Hypothekarkredite im spätmittelalterlichen Basel, Konstanz 2015.


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