Geschlecht und Geschlechterordnung in mittel- und osteuropäischen akademischen Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts

Geschlecht und Geschlechterordnung in mittel- und osteuropäischen akademischen Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Iwona Dadej, Historisches Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften, IH PAN; Ruth Leiserowitz, DHI Warschau
Ort
Warschau
Land
Poland
Vom - Bis
19.04.2017 - 21.04.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Sophie Schwarzmaier, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Was kann eine Wissenschaftsgeschichte aus Geschlechterperspektive leisten, die Wissenschaft als Ort untersucht, der auf Geschlechterordnungen aufbaut und Geschlechtsidentitäten produziert? Welche Erkenntnisse und Konzepte ergeben sich diesbezüglich aus der Erforschung akademischer Kulturen und Akteure des mittel- und osteuropäischen Raums? Diese Fragen waren Ausgangspunkt einer internationalen Konferenz, die vom 19. bis 21. April 2017 am Deutschen Historischen Institut Warschau stattfand. Etablierte und „Nachwuchs“-WissenschaftlerInnen aus Deutschland, Polen und Tschechien kamen zusammen, um das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Geschlecht in Mittel- und Osteuropa zwischen 1850 und 1950 zu beleuchten und im gesamteuropäischen Kontext zu verorten. Dabei rückten vor allem die Biographien derjenigen in den Fokus, die bis heute in der Wissenschaftsgeschichte kaum sichtbar sind oder immer gleichbleibend perzipiert werden, und deren Handlungsräume auf Wissenschaft als gegenderte Institution verweisen – Wissenschaftlerinnen. Die internationale Tagung war von Iwona Dadej (Historisches Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften, IH PAN) und Ruth Leiserowitz (DHI Warschau) konzipiert worden und fand in Kooperation mit dem IH PAN statt.

In ihrer Keynote erörterte CLAUDIA KRAFT (Siegen), wie im Jahr 2017 eine „Geschlechtergeschichte des Wissens im östlichen Europa“ aussehen kann, die zu einer Dezentrierung der „allgemeinen“ europäischen Geschichte beiträgt. Wenn die neue Wissensgeschichte alternative Erzählrahmen jenseits der Zentrum-Peripherie-Matrix und etablierter Wissensbestände biete, zeige erst die Einführung der Wissenskategorie Geschlecht auf, wie Geschlechterordnungen schon immer in Wissen, Wissenskollektive und -institutionen eingeschrieben seien. Der Mehrwert einer regionsbezogenen Geschichtsschreibung bestehe darin, dass sie durch die Untersuchung der lokalen Kontexte und Erfahrungswelten den ständigen Rekonfigurationen von entsprechenden Diskurs- und Institutionenordnungen gerecht werden könne.

Im Laufe der Tagung wurde erkennbar, dass ein solches Programm Grundlagenforschung erfordert, um wissenschaftlich tätige Frauen in ihrem Umfeld sichtbar zu machen, deren Biographien, Wirken und Wahrnehmung aufgrund der Quellenlage jedoch meist schwer zu rekonstruieren sind. Die Vorträge der sechs Panels umfassten individual- und kollektivbiographische Untersuchungen zu Wissenschaftlerinnen aus Mittel- und Osteuropa.

Das erste Panel zeigte beispielhaft auf, welche strukturellen und kulturellen Hindernisse Frauen überwinden mussten, um seit den 1860er-Jahren in Europa schrittweise Zugang zu Universitäten und akademischen Berufen zu bekommen. Das öffentliche Feld der Rechtsberufe war eine der männlichsten und kulturell umkämpftesten Domänen, wie MARION RÖWEKAMP (Berlin) aufzeigte. Schon gegen das Jurastudium seien die Unfähigkeit zur Rationalität und die Bedrohung des Familienlebens ins Spiel gebracht worden. Für viele der feministisch engagierten Juristinnen erwiesen sich neue Betätigungsfelder wie das Familienrecht als Einfallstore. Auf die Bedeutung von neuen Disziplinen und außeruniversitären Institutionen verwies auch ANNETTE VOGT (Berlin) in ihrem Vortrag über deutsche Naturwissenschaftlerinnen: In Preußen, wo Frauen erst ab 1908 studieren durften, seien die Institute der 1911 gegründete Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft für Akademikerinnen leichter zugänglich gewesen als die Universitäten. Hier seien noch unbekannte Fächer gefördert worden und neue wissenschaftliche Mitglieder nach dem sogenannten Harnack-Prinzip durch Etablierte nominiert worden, was vielen Wissenschaftlerinnen zugute gekommen sei.

Die folgenden zwei Panels kreisten um die methodische Frage, wie und mit welchem Ziel Biographien über Frauen in der Wissenschaft geschrieben werden sollten. Dabei wurde immer wieder davor gewarnt, sie ausschließlich über ihre Besonderheit zu definieren und die institutionellen Strukturen zu vernachlässigen, was nicht nur ihrer Marginalisierung Vorschub leistet, sondern auch das erkenntnisbringende Potential biographischer Arbeit nicht ausschöpft. MARIA SOLARSKA (Poznań) plädierte dafür, die Biographien von Wissenschaftlerinnen aus einer neuen Perspektive zu schreiben und so das Bild der männlichen Wissenschaft zu korrigieren. Sie kritisierte, dass Wissenschaftlerinnen meistens auf ihre Wahrnehmung durch männliche Kollegen oder auf ihren Beitrag zu deren Erfolgen reduziert würden. Nach Ansicht Solarskas sollten Wissenschaftlerinnen in ihrer Ganzheit dargestellt werden, was das Privatleben impliziere. Die letzte Forderung kontrastierte mit den Ergebnissen EWA WRÓBLEWSKA-TROCHIMIUKs, ANNA KUROWICKAs und EWA SERAFIN-PRUSATORs (Warschau), die die Autobiographien zweier polnischer Slavistinnen untersucht hatten: Weder Ewa Rzetelska-Feleszko (1932–2009) noch Iryda Grek-Pabisowa (geboren 1932) thematisierten im Rückblick auf ihre Erfahrungen als Professorinnen Spannungen zwischen Familien- und Berufsleben oder institutionelle Hindernisse, wodurch sie sich einseitig als starke Superfrauen inszenierten. Ein ähnliches, fast hagiographisches Bild schuf wiederum LILIA ZABOLOTNAJA (Chisinău )von Anna Tumarkin (1875–1951), der ersten Doktorin und Dozentin der Philosophie in Europa. Deren multiple Identitäten als Osteuropäerin, Jüdin, Philosophin, Feministin und Frau fordern dazu heraus, so das Ergebnis der Diskussion, sie in ihrem Umfeld und als Teil unterschiedlicher (marginalisierter) Gruppen zu untersuchen.

Die Verflochtenheit der Kategorie Geschlecht mit anderen Identitätskategorien, die nicht weniger wirksam in akademischen Strukturen sind, wurde auch im vierten Panel thematisiert, das Interventionen feministisch motivierter Wissenschaftlerinnen nach 1945 gewidmet war. ALEKSANDRA BAK-ZAWALSKI (Gießen) präsentierte zwei Wissenschaftlerinnen jüdischer Herkunft, Ruth Klüger (geboren 1931) und Bożena Umińska-Keff (geboren 1948), die in ihren Publikationen die doppelte Diskriminierung aufdeckten, mit der sie als jüdische Frauen an Universitäten in den USA, Österreich und Polen zu kämpfen hatten. In den zwei weiteren Beiträgen rückten Feministinnen im postsozialistischen Polen in den Fokus: KATHARINA KINGA KOWALSKI (Frankfurt (Oder)) zeigte auf, wie diese einen neuen Denkstil entwickelten, der nach 1989 die dortigen Gender Studies begründete. In der Analyse der eigenen Erfahrungen bedienten sich die einen westlicher Kategorien, andere versuchten auf empirischer Basis neue Rahmungen zu entwickeln. KATRIN STOLL (Warschau) stellte die polnische Literaturwissenschaftlerin Maria Janion (geboren 1926)als universelle Intellektuelle vor, die regelmäßig aus der Wissenschaft heraustretend in der polnischen Öffentlichkeit interveniert.

Die letzten beiden Panels waren gruppenbiographisch orientierten Forschungen gewidmet und beleuchteten zunächst die Handlungsräume jüdischer Wissenschaftlerinnen in Polen und Tschechien zur Zwischenkriegszeit. ANNA SMYWIŃSKA-POHL (Krakau) präsentierte ihre Nachforschungen zu den insgesamt zwölf Jüdinnen, die bis 1933 an der Krakauer Jagiellonen-Universität einen Doktortitel in Philosophie erlangten. Dabei wies auch sie auf das Problem der doppelten Diskriminierung hin: Zwar habe es an der Philosophischen Fakultät keinen Numerus Clausus für jüdische Studierende gegeben, doch im Vergleich zu nicht-Jüdinnen seien Jüdinnen abhängiger von der Unterstützung einzelner Professoren gewesen und hätten keine feste Anstellung an der Universität gefunden. Ein ähnliches Bild zeichnete MARTINA BEČVÁŘOVÁ (Prag) von jüdischen Mathematikerinnen der 1882 gegründeten Deutschen Universität in Prag. Dort promovierten bis 1945 insgesamt drei Frauen in Mathematik im Verhältnis zu 40 Männern. Alle drei entstammten teilweise gut situierten jüdischen Familien, hatten das deutsche Prager Mädchengymnasium besucht und trotz anerkannter Forschungsleistungen ihre akademischen Karriere aufgegeben – aus familiären, politischen oder ökonomischen Gründen. Die Spuren der in den beiden Präsentationen vorgestellten jüdischen Forscherinnen verlieren sich größtenteils im Zweiten Weltkrieg; nur vier überlebten die Shoah.

Das sechste Panel gab Einblick in die Karrieren polnischer Wissenschaftlerinnen in der Volksrepublik Polen. JOLANTA KOLBUSZEWSKA (Łódź) beschäftigte sich mit habilitierten Historikerinnen, denen sich erst nach 1945 der Weg zur Professur eröffnete: In der Volksrepublik erhielten insgesamt 12 Frauen eine Geschichtsprofessur, wobei sich ihnen die besten Chancen an den direkt nach dem Krieg gegründeten Universitäten (Lublin, Łódź, Toruń, Wrocław) boten. Über Statistiken hinaus gingen BARBARA KLICH-KLUCZEWSKA (Krakau) und KATARZYNA STAŃCZAK-WIŚLICZ (Warschau), die ihr Projekt über Soziologinnen als Teil einer Geschlechter- und Gesellschaftsgeschichte der Volksrepublik Polen präsentierten. Das Interesse galt deren biographischen Erfahrungen, Arbeitsthemen und ihrer Rolle als aktive Expertinnen im öffentlichen Raum, was sie am Beispiel Barbara Tryfans (1928–2012) und Magdalena Sokołowskas (1922–1989) illustrierten.

In allen Panels kam die Notwendigkeit zur Sprache, Einzel- und Kollektivbiographien in einem breiteren sozialen und geographischen Kontext zu analysieren, was neben weiterer Grundlagenforschung vergleichend angelegte Studien impliziert. Darauf verwiesen auch die KommentatorInnen der Abschlussdiskussion DIETLIND HÜCHTKER (Berlin / Leipzig), JAN JAKUB SURMAN (Erfurt) und MARIA SOLARSKA (Poznań).Vorgeschlagen wurden Vergleiche zwischen den Erfahrungen und Biographien von Wissenschaftlerinnen in unterschiedlichen Ländern und Regionen, sowie in unterschiedlichen Disziplinen; nicht zuletzt auch zwischen den Handlungsräumen und der Wahrnehmung von Frauen und Männern in der Wissenschaft. Eine Wissenschaftsgeschichte aus Geschlechterperspektive müsse zudem die Intersektionalität von Exklusion berücksichtigen, also das Zusammenspiel der Differenzkategorien Geschlecht, Ethnizität und Religion. In diesem Zusammenhang wurde zu mehr Selbstreflexion über die Zielsetzungen von historischer Forschung über Frauen in der Wissenschaft angeregt und einer davon ausgehenden verstärkten theoretischen Fundierung.
Die Konferenz war gesättigt mit empirischen Beispielen, die erahnen ließen, wie viele weiße Flecken es noch in der Erforschung akademischer Kulturen in Mittel- und Osteuropa und ihrer Akteure gibt. Um dabei Geschlechterordnungen auf die Spur zu kommen, müssen die Personen unter neuen Fragestellungen in den Kollektiven, Diskursen und Institutionen verortet werden, in denen sie sich bewegten. Ein so geschaffenes Narrativ kann den heuristischen Wert biographischer Arbeit ausschöpfen und, verbunden mit breiter angelegten Studien, zur Dezentrierung einer geschlechtsblinden und ausschließlich auf Westeuropa ausgerichteten Wissenschaftsgeschichte beitragen.

Konferenzübersicht:

Keynote

Claudia Kraft (Siegen): Wissensräume und Geschlechterordnungen: Von der doppelten Marginalisierung zu einer Geschlechtergeschichte des Wissens im östlichen Europa

PANEL I: Conditions and Mechanisms of Access to Science

Marion Röwekamp (Berlin): Between law and customary law: women’s access to legal professions in Europe

Annette Vogt (Berlin): Mechanisms of exclusion and inclusion of women scientists and knowledge production at the Kaiser Wilhelm Society (1911–1945)

Chair and comment: Ruth Leiserowitz (Warszawa)

PANEL II: Biography and Autobiographical Reflection

Maria Solarska (Poznań): „The edge of reason“: gender – biography – science („W pogoni za rozumem”: płec – biografia – nauka)

Ewa Wróbłewska-Trochimiuk / Anna Kurowicka / Ewa Serafin-Prusator (Warsaw): Male academic? Female academic? Creating the image of women in academia based on memoirs by Slavic studies scholars working in the Polish Academy of Sciences (Naukowiec? Naukowczyni? Kreowanie wizerunku kobiety w nauce na podstawie wspomnień slawistek pracujących w Polskiej Akademii Nauk)

Chair and comment: Iwona Dadej (Warszawa)

PANEL III: Biographical Approaches
Lilia Zabolotnaja (Chisinău): Anna Turmarkin, 1875–1951: The first female doctor of philosophy in Europe (Anna Tumarkin, 1875–1951: pierwsza doktorka filozofii w Europie)

Chair and comment: Olga Linkiewicz (Warszawa)

PANEL IV: Intervening Thinkers, New Paradigms

Katarina Kinga-Kowalski (Frankfurt/Oder): A new style of thinking? The development of women’s and gender studies in Poland (Nowy styl myślowy? Rozwój studiów kobiecych i genderowych w Polsce)

Aleksandra Bak-Zawalski (Gießen): „Any form of discrimination I encountered caused me harm”. Gender and gender hierarchy in West European ad East European academic cultures. The university careers of the writers Ruth Klüger and Bożena Umińska-Keff („Każda forma dyskryminacji szkodziła i mnie“. Płeć i hierarchia płci w zachodnio i wschodnio-europejskich kulturach akademickich na przykładzie karier Ruth Klüger i Bożeny Umińskiej-Keff)

Katrin Stoll (Warszawa): Towards a genuinely humane society. Maria Janion as an intervening thinker (By społeczeństwo było prawdziwie ludzkie. Maria Janion jako myślicielka zaangażowana)

Chair and comment: Karsten Holste (Halle)

PANEL V: Biographies of Professional Groups 1

Anna Smywińska-Pohl (Kraków): Jewish women philosophers at the Jagiellonian University, 1918–1939 (Żydowskie filozofki związane w uniwersytetem Jagiellońskim w latach 1918–1939)

Martina Bečvářová (Prague): Women in mathematics at the German University in Prague, 1882–1945

Chair and comment: Maria Solarska (Poznań)

PANEL VI: Biographies of Professional Groups 2

Jolanta Kolbuszewska (Łódź): May history be feminine: Polish female historians and their struggle for scientific independence after 1945 (Aby historia była kobietą: polskie badaczki dziejów i ich walka o samodzielność naukową po 1945 roku)

Barbara Klich-Kluczewska (Kraków) / Katarzyna Stańczak-Wiślicz (Warszawa): Between production of knowledge and social activism. Female sociologists in post-war Poland (Między kreowaniem wiedzy a aktywizmem społecznym. Socjolożki w powojennej Polsce)

Chair and comment: Iwona Dadej (Warszawa)

Concluding Discussion

Dietlind Hüchtker (Berlin/Leipzig) / Jan Jakub Surman (Erfurt) /Maria Solarska (Poznań)