Religionsfrieden im Kontext des frühneuzeitlichen Europa

Religionsfrieden im Kontext des frühneuzeitlichen Europa

Organisatoren
Christopher Voigt-Goy, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz; Irene Dingel, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz; Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt
Ort
digital (Mainz)
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.02.2022 - 05.02.2022
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Von
Andreas Zecherle, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz

Die interdisziplinäre und internationale Tagung bildete die Auftaktveranstaltung für das Langzeitvorhaben „Europäische Religionsfrieden Digital – EuReD“, eine Kooperation zwischen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz), dem Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (Mainz) und der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt. Die Beiträge und Diskussionen gingen der Frage nach, welche Bedeutung Religionsfrieden für Verfassung und Recht im frühneuzeitlichen Europa hatten und inwiefern diese sich auf Theorie und Praxis der religiösen Toleranz auswirkten.

Zu Beginn stellten THOMAS STÄCKER (Darmstadt) und CHRISTOPHER VOIGT-GOY (Mainz) das Vorhaben „Europäische Religionsfrieden Digital – EuReD“ vor, das im April 2020 die Arbeit aufgenommen hat. Es hat sich zum Ziel gesetzt, ein umfangreiches Konvolut europäischer Religionsfrieden, das heißt vorkonstitutionelle politisch-rechtliche Regelungen konfessioneller Koexistenz, digital zu erschließen, zu edieren und open access zur Verfügung zu stellen. Die in zwölf Module geordneten Religionsfrieden reichen zeitlich vom Kuttenberger Landtagsabschied von 1485 bis zur Constitution Française von 1791, wobei die unterschiedlichen lokalen, territorialen und auch herrschaftsübergreifenden Regelungsebenen systematisch dokumentiert werden. Das Vorhaben will die Möglichkeiten des neuen digitalen Mediums bewusst nutzen. Der Begriff der Edition verschiebt sich dadurch mehr und mehr in Richtung der Herstellung eines digitalen Referenzkorpus, das als Grundlage für möglichst viele Formen der digitalen Auswertungen zur Verfügung steht.

Die erste Sektion befasste sich mit der Bedeutung von Religionsfriedensregelungen für Recht und Verfassung. MACIEJ PTASZYŃSKI (Warschau) referierte über die Vorgeschichte der Warschauer Konföderation von 1573. Im Fokus seines Vortrags standen die religiösen Kompromisse, die in Polen-Litauen zwischen 1550 und 1572 geschlossen wurden. Er vertrat die These, dass ihre Bestimmungen einen Beitrag zur Entstehung der Warschauer Konföderation leisteten. Die Aussagen der Warschauer Konföderation über den Religionsfrieden waren nach seiner Analyse tief verwurzelt in einer langen Debatte über die konfessionelle Koexistenz, sie blieben aber hinter den vorherigen Regelungen weit zurück.

Die rechtshistorische Wertung des Augsburger Religionsfriedens von 1555 diskutierte MATTHIAS SCHMOECKEL (Bonn). Anstatt ein Verfassungsgesetz avant la lettre darzustellen, so wichtig eine solche Vorstellung ab dem 17. Jahrhundert auch war, steht dieser Friede seiner Ansicht nach doch eher in der Tradition der Landfrieden, vor allem des Ewigen Landfriedens von 1495. Die Beschränkung auf so alte, bekannte und transparente Vorstellungen trug eher zur Befriedung in der Bevölkerung bei als alle neuen Vorstellungen eines Ausgleichs in Religionssachen. Die Vorgaben des Friedens, etwa der Geistliche Vorbehalt, erwiesen sich jedoch in der Sicht von Altgläubigen und Protestanten als rechtlich ganz unterschiedliche Maximen, was über 1555 hinaus zu endlosen Diskussionen über Interpretationsfragen und Anwendungsproblemen führte.

Die Entstehung des Geistlichen Vorbehalts in den Verhandlungen des Augsburger Reichstags von 1555 zeichnete ARMIN KOHNLE (Leipzig) nach. Er legte die unterschiedlichen Textstufen offen, die als Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen den Konfessionsparteien und dem König betrachtet werden müssen. Der Geistliche Vorbehalt liefert ein Anschauungsbeispiel für die Tatsache, dass Friedensregelungen keineswegs immer den Abschluss eines Konflikts, sondern oft genug den Auftakt zu neuen Auseinandersetzungen bedeuteten. Mit ihrem Protest gegen den Vorbehalt stellten die evangelischen Stände einen zentralen Baustein des Religionsfriedens bereits nach wenigen Monaten wieder in Frage.

Im Zentrum des Vortrags von SIGRID WESTPHAL (Osnabrück) stand die Rijswijker Klausel, eine Schutzregelung des Rijswijker Friedens von 1697, welche die Religionsausübung der Katholiken in den ehemals von den Franzosen besetzten Gebieten der Kurpfalz sicherte. Da der Rijswijker Frieden gleichzeitig den Westfälischen Frieden und damit die Normaljahrsregelung (1624) wiederherstellte, entstand über diesen Widerspruch eine heftige Kontroverse zwischen evangelischen und katholischen Reichsständen, die in den 1720er Jahren in eine schwere Krise der Reichsverfassung mündete. Als wichtige Folge benannte Westphal die Verfestigung des Corpus Evangelicorum auf dem Reichstag sowie den Versuch, den Reichstag als Austragungsort von Religionskonflikten zu etablieren.

Der Abendvortrag von EIKE WOLGAST (Heidelberg) gab einen Überblick über die Entwicklung des Toleranzprinzips vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Wolgast behandelte zunächst die verschiedenen Formen von Religionsfrieden im 16./17. Jahrhundert und differenzierte dabei zwischen gleichberechtigten Friedensschlüssen, imparitätischen Mandaten (Toleranzedikten) und innerkonfessionellen Übereinkünften. Für die Toleranzvorstellungen dienten die Kolonialverfassungen in Nordamerika und preußische Verlautbarungen als Beispiel. Die Religionsfreiheit wurde von der ersten Formulierung während der Französischen Revolution anhand der konstitutionellen Entwicklung im 19./20. Jahrhundert bis in die Gegenwart dargestellt.

Die zweite Sektion der Tagung untersuchte die Bedeutung von Religionsfriedensregelungen für die Friedenspraxis. MICHAEL ROHRSCHNEIDER (Bonn) widmete sich den historiographischen Urteilen über das zeitgenössisch als „Kuhkrieg“ verspottete militärische Vorgehen des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm gegen Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg (1651). In der Forschung besteht zwar Konsens darüber, dass dieser „Normaljahrskrieg“ trotz seines primär regionalen Zuschnitts die Gefahr einer erheblichen mächtepolitischen Ausweitung in sich trug und Friedrich Wilhelm das Odium eines Friedensstörers einbrachte. Anders als die an national- und machtstaatlichen Idealen orientierte ältere borussische Historiographie zeichnet die neuere Forschung aber ein stärker an den Strukturen und Konfliktregulierungsmechanismen des Reiches orientiertes Bild des Geschehens, das in eine Übergangszeit fiel, in der es die konfessionellen Bestimmungen des Friedensschlusses von 1648 erst noch in der regionalen Praxis konkret umzusetzen galt.

Anhand der Instruktionen und Finalrelationen der päpstlichen Nuntien und Legaten am Kaiserhof sowie in Frankreich untersuchte MATTHIAS SCHNETTGER (Mainz) die Positionierung der Kurie gegenüber den Religionsfrieden im Reich und in Frankreich. Auch wenn die auf politischer Ebene geschlossenen Religionsfrieden nach kanonistischen Maßstäben ungültig waren, praktizierte die päpstliche Diplomatie einen pragmatischen, flexibel an die spezifischen Umstände angepassten Umgang mit ihnen. Dem Augsburger Religionsfrieden (1555) wurde lange ein begrenzter Wert als eine Art Schutzschild für die katholischen Restbestände im Reich zugebilligt. Ausgesprochen negativ wurden dagegen die – angeblich – desaströsen Folgen des Toleranzedikts von Nantes (1598) für die politische Einheit Frankreichs gezeichnet.

Die dritte Sektion analysierte die Bedeutung von Religionsfriedensregelungen für Theorie und Praxis der Toleranz. HENNING P. JÜRGENS (Mainz) und JOHN WOLFFE (Milton Keynes) berichteten über das von der EU-Kommission im Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 geförderte Projekt „RETOPEA – Religious Toleration and Peace“. Das Projekt möchte europäische Teenager heute zu einer kritischen Auseinandersetzung mit religiöser Toleranz anleiten. Dazu wurden rund 400 kurze Informationseinheiten erarbeitet. Sie enthalten eine Auswahl von historischen Religionsfriedensregelungen der letzten 2.500 Jahre und Beispiele dafür, wie religiöse Toleranz in heutigen europäischen Diskursen thematisiert wird. Anhand dieses Materials können Schülergruppen sich dem Thema annähern und ihre eigenen Beiträge in Form von Filmen dazu erstellen. Jürgens und Wolffe betonten, wie wichtig eine verlässliche Quellengrundlage für diesen Ansatz ist und wieviel Aktualität das Thema der religiösen Toleranz heute hat.

WAYNE TE BRAKE (New York) interpretierte die zahlreichen Religionsfriedensvereinbarungen in Europa als anpassbare Schablonen, die den Umgang mit religiöser Vielfalt und deren Erhaltung ermöglichen. Vor diesem Hintergrund verspricht der sehr umfassende Ansatz des Projekts „Europäische Religionsfrieden Digital“ aufzuzeigen, dass kein einzelnes Dokument oder eine Untergruppe von Dokumenten den religiösen Frieden in Europa als Ganzes repräsentiert. Vielmehr haben die Bemühungen dreier Jahrhunderte – einige davon effektiv und dauerhaft, andere ineffektiv und vorübergehend, aber dennoch lehrreich – in ganz Europa zu der allgemein akzeptierten Einsicht geführt, dass sichtbare und rechtlich anerkannte religiöse Vielfalt eine unabdingbare Voraussetzung für eine friedlichere Zukunft ist. Die Analyse der religiösen Friedensstiftung im Europa der frühen Neuzeit kann nach der Überzeugung te Brakes in der Gegenwart dabei helfen, religiösen Frieden wahrzunehmen und seine Wiederherstellung dort zu fördern, wo er derzeit durch religiöse Kriege gestört wird.

PATRICK PASTURE (Leuven) verglich die religiöse Toleranz im vormodernen Christentum und in islamischen Reichen. Für beide waren religiöse Vielfalt und Pluralismus problematisch. Das Christentum propagierte zwar eigentlich religiöse Homogenität, sah sich aber gezwungen, Wege zu finden, um der Vielfalt Raum zu geben. Die islamischen Reiche zogen es hingegen vor, der Vielfalt mit einem im Wesentlichen hierarchischen Ordnungskonzept zu begegnen.

VIOLET SOEN (Leuven) befasste sich mit der Gemeinde Bourg-Fidèle, die der calvinistische Fürst Antoine de Croÿ zwischen 1565 und 1566 in den Ardennen gründete, nachdem 1563 das Friedensedikt von Amboise erlassen worden war. Das Dorf sollte als sicherer Hafen für Calvinisten dienen, die dort ihren Glauben ausüben durften. Anhand der calvinistischen Besiedlung des Niemandslandes zwischen der Festungskette der Habsburger und der Valois lassen sich wichtige Fragen zu Religionskrieg und -frieden in Grenzgebieten untersuchen. In diesen trug die Mobilität von Adligen mit verstreuten Herrschaften zu einer Verschärfung der Religionskriege bei, sie zeigte aber auch die geopolitischen Hintergründe von Religionskrieg und -frieden auf.

RISTO SAARINEN (Helsinki) zeichnete die Entwicklung des theologischen Toleranzgedankens seit der Aufklärung nach und richtete seinen Fokus auf die Konzeption der Toleranz, die Andersartigkeit positiv wertschätzt. Der Aufklärungstheologe Johann Joachim Spalding begründete Toleranz mit der Achtung der gemeinsamen Natur und Würde des Menschen. Die Wertschätzungskonzeption bildete sich erst bei Friedrich Schleiermacher heraus, der davon ausging, dass jede Frömmigkeit immer unvollkommen und einseitig sei, sodass sie durch andere Frömmigkeitsformen zum Teil korrigiert werden könne. In einem Ausblick auf die ökumenische Diskussion der Gegenwart plädierte Saarinen dafür, Ökumene als Weg zur Anerkennung und Wertschätzung anderer Konfessionen zu verstehen, wobei deren Lehren und Praktiken als Bereicherung rezipiert werden, ohne sie kulturell zu appropriieren.

In einem Nachwuchspanel wurden Forschungen zu Toleranz, Religionsfrieden und Religionsfreiheit vorgestellt: OLGA WITMER (Cambridge) hielt einen Vortrag über Protestantismus und Toleranz in den niederländischen Kolonialgebieten in Batavia, auf Ceylon und auf dem Kap der guten Hoffnung. Sie regte an, die niederländischen Überseegebiete als Schauplatz für religiöse Koexistenz in Betracht zu ziehen und die Interaktion zwischen christlichen Religionsgemeinschaften innerhalb der europäischen kolonialen Bevölkerung näher zu untersuchen. ANNABELLE MEIER (Göttingen) beleuchtete die grundrechtliche Dimension und Genese religiöser Freiheit in der Herausbildung einer subjektiven Rechtsposition. Wie der Heidelberger Staatsrechtler Georg Jellinek bereits 1895 in seiner berühmten These formulierte, findet sich der Ursprung des Grundrechts der Religionsfreiheit in den nordamerikanischen Kolonien: Reformationstheologische Gewissensvorstellungen bildeten sich zu einer individuellen Rechtsposition (liberty of conscience) fort, die – jedenfalls strukturell – als Vorläufer der grundrechtlichen Religionsfreiheit gelten kann.

Konferenzübersicht:

Thomas Stäcker (Darmstadt) / Christopher Voigt-Goy (Mainz): Vorstellung des Projekts „Europäische Religionsfrieden Digital – EuReD”

Sektion I: Die Bedeutung von Religionsfriedensregelungen für Recht und Verfassung

Maciej Ptaszyński (Warschau): Die Vorgeschichte der Warschauer Konföderation

Matthias Schmoeckel (Bonn): Erneuerter Landfrieden oder erstes Verfassungsgesetz? Der Augsburger Reichsfriede von 1555 und seine rechtshistorische Wertung

Armin Kohnle (Leipzig): Das Reservatum ecclesiasticum und seine Wirkungsgeschichte

Sigrid Westphal (Osnabrück): Die Rijswijker Religionsklausel und ihre Wirkung auf die Reichsverfassung

Eike Wolgast (Heidelberg): Religionsfrieden und Religionsfreiheit. Zur Entwicklung des Toleranzprinzips vom 16. bis zum 20. Jahrhundert

Sektion II: Die Bedeutung von Religionsfriedensregelungen für die Friedenspraxis

Michael Rohrschneider (Bonn): Normaljahrsregel und regionale Praxis: Der Düsseldorfer „Kuhkrieg” 1651 in historiographischer Perspektive

Matthias Schnettger (Mainz): „una propositione vana et erronea“. Religionsfrieden aus kurialer Perspektive

Sektion III: Die Bedeutung von Religionsfriedensregelungen für Theorie und Praxis der Toleranz

Henning P. Jürgens (Mainz) / John Wolffe (Milton Keynes): Religious Toleration and Peace – RETOPEA – Projektvorstellung

Wayne te Brake (New York): Religious Peace Settlements: Templates for Managing and Maintaining Diversity in an Changing World

Patrick Pasture (Leuven): Beyond Identity Rules: Religious Toleration in Premodern Christendom and Islamicate Empires

Violet Soen (Leuven): Protestant Princes on the Fringes: The Peace of Amboise and the culte de fief in the Borderlands

Risto Saarinen (Helsinki): Religion, Sympathie und Anerkennung. Die Entwicklung des theologischen Toleranzgedankens seit der Aufklärung

Nachwuchspanel: Forschungen zu Toleranz, Religionsfrieden und Religionsfreiheit

Olga Witmer (Cambridge): Protestantismus und Toleranz in den niederländischen Kolonialgebieten in Batavia und dem Kap der guten Hoffnung

Annabelle Meier (Göttingen): Von der kolonialen Gewissensfreiheit zur grundrechtlichen Religionsfreiheit