Forum: Interview mit Thomas Meyer (LMU München) und Rachel Heuberger (Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg der Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Von
Rachel Heuberger, Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg der Goethe-Universität Frankfurt am Main; Thomas Meyer, Ludwigs-Maximilians-Universität München

H-Soz-Kult: Herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft zu unserem Gespräch über die entstehenden Fachinformationsdienste (FID). Herr Meyer, Sie als Fachwissenschaftler für unter anderem Jüdische Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert möchten wir zuerst einmal um eine Einschätzung zum FID Jüdische Studien bitten. Welche Zielstellungen des FID Jüdische Studien begrüßen Sie und welche schätzen Sie eher kritisch ein?

Thomas Meyer: Nun, schon die Tatsache, dass Frau Heuberger für das FID Jüdische Studien zuständig ist, verspricht allerhöchste technische und intellektuelle Standards. Und diese Erwartungshaltung wird in dem Entwurf unbedingt eingelöst. Wer auch nur im Entferntesten mit den Problemen von Datenanpassungen aus verschiedenen Systemen (Sprachen, Erfassungen, Verwaltungen etc.) vertraut ist, kann die geplanten Maßnahmen (Kooperation, Abstimmung etc.) nur begrüßen. Sollten die in Aussicht gestellten Lösungen tatsächlich greifen, hätten wir es mit einer ungemein innovativen und für Wissenschaftler entscheidenden Zusammenführung von Datenmengen, also Informationen, zu tun, wovon man in meiner Generation nur träumen durfte.

H-Soz-Kult: Für unsere Leserschaft möchten wir Sie zunächst bitten, uns Ihre aktuellen Forschungsthemen etwas näher vorzustellen. Dabei sind wir insbesondere daran interessiert zu erfahren, wie ihre persönlichen Recherchestrategien aussehen und welche Rolle die bisher zur Verfügung stehenden Informationsangeboten von Bibliotheken und Informationsdienstleistern spielen. Welche forschungspraktische Bedeutung haben die bisherigen Sondersammelgebiete Wissenschaft vom Judentum und Israel für Sie?

Thomas Meyer: Ich arbeite zunächst einmal ganz naiv auf der Basis von ungedruckten und gedruckten Quellen. Weil ich mich auf das 19. und 20. Jahrhundert konzentriere, bin ich „relativ“ gut versorgt, sobald ich in Bibliotheken und Archive gehe. Da ich mich zudem in der Regel mit sogenannten „Mainstream“-Autoren beschäftige, sind meine Probleme an Materialien zu kommen äußerst übersichtlich.

Ich arbeite schon seit mehreren Jahren an einer intellektuellen Biographie von Leo Strauss, die, wie man so gerne schreibt, „aus den Quellen“ geschrieben wird. Dazu sind die seit einigen Jahren unter „Judaica Frankfurt“ versammelten Informationsplattformen (natürlich in erster Linie „Compact Memory“) unerlässlich. Aber auch die Datensammlungen der Nationalbibliothek Jerusalem, des Leo Baecks Instituts New York mit ihren Digitalisierungen. Wenn ich es recht bedenke, denn neben Strauss ist die „Wissenschaft des Judentums“ ein weiteres Forschungsgebiet, bin ich mit den sämtlichen Angeboten des entsprechenden Sammelgebietes recht gut vertraut.

H-Soz-Kult: Welche Online-Dienste für Jüdische Studien oder Jüdische Geschichte sind derzeit besonders gefragt und wie verorten Sie den neuen FID Jüdische Studien in diesen Angeboten?

Thomas Meyer: Da fehlt mir, da ich in der Regel in der Philosophie unterrichte, tatsächlich die Kompetenz, um das beurteilen zu können. Nach allem, was ich aus Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen erfahre, ist es jedoch, dass der FID Jüdische Studien im Hinblick auf die Bedürfnisse der Forschung hin ausgerichtet ist. Frau Heuberger ist dermaßen gut vernetzt, dass die Konzeption eindeutig als „Nachfrageorientiert“ bezeichnet werden kann. Was will man mehr?

Rachel Heuberger: Das von Herrn Meyer ja bereits erwähnte Fachportal Compact Memory, das kontinuierlich mit weiteren jüdischer Zeitschriften aus dem deutschsprachigen Raum ergänzt wird, sowie unsere weiteren digitalen Angebote erfahren eine außerordentlich hohe Nutzung. Textdatenbanken, die den Wissenschaftlern umfangreiches Quellenmaterial in digitalisierter Form bieten und viel Zeit und Mühe bei der Recherche sparen, zählen generell zu den wichtigsten e-Ressourcen. Gegenwärtig liegt das Problem vorrangig darin, dass die kaum noch überschaubare Vielzahl von e-Ressourcen unterschiedlichster Qualität, die im Netz vorhanden sind, zu großer Unübersichtlichkeit der verfügbaren Information führen. Hier fällt dem FID Jüdische Studien vor allem die Aufgabe zu, als fachspezifische Orientierungshilfe zu dienen und den Wissenschaftlern eine zentrale und verlässliche Anlaufstelle für ihre Recherchen zu bieten.

H-Soz-Kult: In den Geschichtswissenschaften gibt es nun kaum die Jüdischen Studien an sich, sondern eher differenzierte Forschungen, sei es zum Antisemitismus, zu jüdischer Kultur oder eben zur Philosophie. Die in Deutschland angesiedelten Institute in diesem Bereich haben daher auch unterschiedliche regional und fachlich ausgerichtete Schwerpunkte. Wie werden in einem so disparaten Forschungsfeld zentrale Dienste genutzt?

Thomas Meyer: Die Ausdifferenzierung entspricht dem Gegenstand – die verschiedenen Judentümer mit ihren Traditionen. Gleichwohl ist das, was Sie in Ihrer Frage „disparates“ Forschungsfeld nennen, eine Tatsache, die von den Forscherinnen und Forschern als Herausforderung begriffen wird. Das heißt, dass es die vermeintlichen Einzelgebiete ohne einen Blick auf die komplexe Ganzheit der Judentümer nicht geben kann. Nicht umsonst haben große Vorhaben, etwa die jetzt abgeschlossene, am Dubnow-Institut Leipzig erarbeitete „Jüdische Enzyklopädie“, auf das plurale Judentum zu reagieren versucht.

Rachel Heuberger: Es geht einerseits darum, eine Informationsinfrastruktur zu etablieren, die Wissenschaftlern unabhängig ihrer unterschiedlichen Forschungsschwerpunkte optimierte Recherchemöglichkeiten bietet, so z. B. die Bereitstellung eines fachspezifischen virtuellen Verbundkatalogs verschiedener Bibliotheken oder umfangreicher digitaler Sammlungen zum gesamten Spektrum des Thema Judentum. Andererseits fördert die zentrale Plattform den interdisziplinären Diskurs und kann mit Angeboten wie z. B. der Einbindung von Fachbibliographien Impulse für weitere Projekte erzeugen.

H-Soz-Kult: Der FID richtet sein Hauptaugenmerk auf die Literaturerschließung, besonders der hebräischen Publikationen, die in älteren Umschriftvarianten verzeichnet ist. Ein Teilprojekt widmet sich dem Problem der Schriftkonversion, im FID-Portal selbst sollen verschiedene Kataloge zusammengeführt werden, auch Bibliografien sind zu erwarten. Wie schätzen Sie diese Vorhaben und die damit verbundenen Rechercheinstrumente ein? Sehen Sie forschungsbezogene Probleme bei der Vereinheitlichung/ Angleichung? Wie wird diese spezifische Herausforderung in anderen Ländern gelöst und inwiefern stellt der FID eine Brücke in die internationale Historiografie zum Judentum?

Thomas Meyer: Soweit ich die von Ihnen angesprochene Szene überhaupt kenne, ist die Planung des FID genau auf die Brückenfunktion hin ausgerichtet. Zurzeit laufen ja verschiedene Vereinheitlichungsbestrebungen von Datenerfassungen bzw. der Umwandlung bereits vorhandener Daten auf internationaler Ebene. Es ist in diesem Zusammenhang beim Gelingen der FID-Vorhaben möglicherweise sogar von einer Pilotfunktion ausgehen, denn die mehrfach angesprochene Disparatheit der vorhandenen Informationen stellt eine Herausforderung dar, die für andere Problemstellungen Modellcharakter haben könnte.

Man muss auch einwerfen, dass es sich in diesem Zusammenhang sehr wohl lohnen würde, eine umfassende Geschichte jüdischer Bibliografien zu schreiben. Dazu gibt es seit der Weimarer Republik eindringliche Ansätze, einen wichtigen Aufsatz von Guido Kisch (1970) und seit einigen Jahren gewichtige Monografien. Gleichwohl würde eine noch weitergehende umfassende internationale Aufarbeitung der spezifischen Rolle des FID Jüdische Studien für die Sondersammelgebiete die erwähnte Pionierrolle nur noch weiter herausstellen.

Rachel Heuberger: Für die Forschung ist die Vereinheitlichung der Metadaten, d. h. der Titelaufnahmen zu den print- und e- Ressourcen und vor allem ihre Normierung nach internationalen Regelwerken, die Voraussetzung für den Zugriff auf internationale Repositorien. Nur wenn Namen oder Begriffe identisch sind oder aber automatisch in ihrer unterschiedlichen Schreibweise zu einem identischen Namen zusammengeführt werden, kann in unterschiedlichen online-Katalogen erfolgreich recherchiert, nur so können Ressourcen mit abweichenden Metadaten für eine Suchanfrage zusammengeführt werden. Mittlerweile gibt es internationale Normdateien z. B. für Personennamen mit dem Ziel, weltweit Informationen über Autoren zu vernetzen. Mit dieser Vereinheitlichung werden die in Deutschland vorhandenen Quellen international sichtbar und fördern internationale Kooperationsprojekte. Dies trifft insbesondere für die hebräischen Quellen zu, diese werden durch den Nachweis in der Originalschrift leichter auffindbar und damit in den internationalen Diskurs eingebunden.

Im föderalen Deutschland gibt es ja keine Zentralbibliothek wie die Library of Congress oder die British Library, die Spezialabteilungen für Publikationen in nichtlateinischen Schriften oder außereuropäischen Sprachen besitzen. Die entsprechenden Entwicklungen müssen dann von den FIDs, und in diesem Fall vom FID Jüdische Studien angestoßen werden.

H-Soz-Kult: Frau Heuberger, im FID ist der Aufbau einer Plattform für Wissenschaftsinformation geplant, ihrem Text nach in einer Form, „wie sie von der Fachcommunity gewünscht wurde“. Was ist hier zu erwarten?

Rachel Heuberger: Zum einen hat die Umfrage ergeben, dass Bedarf an einem Portal besteht, welches einen aktuellen Überblick über die fachwissenschaftlich relevanten Materialien und Ressourcen vermittelt, vor allem über neue e-Publikationen sowie frei verfügbare als auch lizensierte Datenbanken und e-journals. Hierzu zählen auch laufende und geplante Digitalisierungsprojekte. In den Wissenschaftsdiskurs sollen auch die Social Media als Austauschplattform einbezogen werden.

Zum anderen will der FID Jüdische Studien ein Forscherverzeichnis für das Fach aufbauen – bislang ein Desiderat –, das unter anderem Forschungsschwerpunkte, Kontaktdaten und aktuelle Forschungsvorhaben , z. B. Dissertationsvorhaben, listet.

H-Soz-Kult: Sie betonen auch die enge Verzahnung mit den Fachverbänden für jüdische Studien, können Sie uns hier vielleicht noch einen Einblick in die Zusammenarbeit geben? Wie finden beteiligte Bibliotheken und Fachverbände zusammen und welche Angebote sind bereits aus dieser Zusammenarbeit entstanden?

Rachel Heuberger: Fachkonferenzen und die entsprechenden Veröffentlichungen bieten ein hervorragendes Forum, um das Zusammenwirken von Wissenschaft und Bibliotheken zu fördern. So habe ich in den letzten Jahren stets auf nationalen und internationalen Tagungen die Entwicklungen in den Sondersammelgebieten Wissenschaft vom Judentum und Israel präsentiert und auf Neuerungen aufmerksam gemacht. Eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit und aktive Werbung in der Fachcommunity ist wichtig und natürlich ist der enge Kontakt zwischen dem Fachreferenten und den Vertretern der Wissenschaft für eine erfolgreiche Absprache unerlässlich. Zahlreiche Bestandsergänzungen und Erwerbungen der UB Frankfurt, unter anderem auch die Lizenzierung von Datenbanken, gehen auf die Initiative der Wissenschaftler zurück. Ebenso fließen Vorschläge und Hinweise in unsere fortlaufenden Digitalisierungsprojekte ein.

H-Soz-Kult: Welche Veränderungen erwarten sie nach der Bereitstellung der neuen FID-Angebote und welche Wünsche und Vorschläge würden Sie für eine Weiterentwicklung des FID Jüdische Studien unterbreiten?

Thomas Meyer: Inzwischen gilt unter ganz jungen Menschen das Email-Schreiben bereits als vollkommen veraltet. Und das nicht zuletzt deshalb, weil darin in der Regel die Kommunikationsformen konserviert werden, die zuvor anderen Medien übertragen waren.

Nimmt man das ernst, dann kann man einerseits einen optimistischen, andererseits einen pessimistischen Ausblick wagen.

Optimistisch kann man sein im Hinblick auf die Teilhabe- und Zugangsmöglichkeiten von Informationen. Hier sehe ich in dem FID Jüdische Studien tatsächlich ein exemplarisches Großunternehmen, dem man nur alles Gute wünschen kann. Standardisierungen und deren Aufbereitung helfen allen, die sich informieren wollen. Das muss naturgemäß klug überlegt sein, damit der Eigensinn und das Eigenrecht der jeweiligen Informationen, die niemals „neutral“ sind, beachtet werden.

Pessimistisch bin ich beim Blick auf die riesigen Probleme, die es bezüglich der „Big Data“-Fragen und vor allem langfristiger Speichermedien gibt. Hier gibt es nach wie vor mehr Fragen als Antworten, die auch von einem einzigen Sammelgebiet nicht beantwortet werden können. „Internationalisierung“ reicht hier allein nicht, zumal es schon viele nationale Alleingänge gegeben hat und gibt, die jetzt wieder eingefangen werden müssten. Aber nicht einmal national – ein besonderes Problem in Deutschland, anders in Frankreich – ziehen alle an den gleichen Strängen. Hier wären Kooperationen mit anderen Institutionen, die sich enger in einem Forschungsverbund zusammenschließen möchten, etwa die drei großen Archive Marbach, Weimar und Wolfenbüttel, gewiss gewinnbringend.

Rachel Heuberger: Die Fokussierung auf innovative informationstechnologische Entwicklungen, wie sie im FID Jüdische Studien geplant sind, wird, so hoffe ich, in Zukunft dazu beitragen, dass sich mehr Wissenschaftler den noch ungeahnten Möglichkeiten der Einbindung von Ressourcen, die sich in den Bibliotheken befinden, zuwenden und dadurch die Digital Humanities in Deutschland auch im Bereich der Jüdischen Studien neue Impulse erhalten. Zukünftig sollten Bibliotheken als gleichberechtigte Partner der Wissenschaft verstanden und mehr als bisher aktiv in die Planung neuer Forschungsvorhaben einbezogen werden, so dass ihre Anforderungen und Arbeitsprozesse auch bei der Finanzierung Berücksichtigung finden. Die Veröffentlichung der Ergebnisse als Open Access Publikationen über ein noch zu schaffendes FID-eigenes Fachrepositorium wäre hierfür nur ein Beispiel.

Gleichzeitig wird die noch stärkere Vernetzung mit Institutionen im Ausland die Anerkennung der Jüdischen Studien als eigenständige Disziplin stärken, was wiederum auch Rückwirkungen auf Entwicklungen der Literaturerschließung in den Bibliotheken haben wird.

Sorge bereitet mir die neue, von der DFG intendierte Ausrichtung der FIDs auf die Bereitstellung von Informationsdienstleistungen, die sich eng an den gegenwärtigen wissenschaftlichen Forschungsvorhaben ausrichten. Gerade in den Geisteswissenschaften ist eine langfristige und umfängliche Erwerbungspolitik sinnvoll, entstandene Erwerbungslücken sind ebenso wenig zu schließen wie mangelnde Erschließung auf Grund von Personalkürzungen.