Im September 2019 publizierte die Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen (UEK) ihren Schlussbericht. Im Zentrum des Berichts stehen Anstaltsversorgungen von Erwachsenen im Zeitraum vor 1981. Administrative Versorgungen und andere fürsorgerische Zwangsmassnahmen stellen aus heutiger – und zumindest teilweise auch aus zeitgenössischer – Perspektive Eingriffe in die elementaren Grundrechte der Betroffenen dar. Die Untersuchungen der UEK zeigen, dass auch in einem demokratischen Rechtsstaat bestimmten Menschen grundlegende Rechte vorenthalten werden konnten. Rechtlosigkeit und Rechtsstaat schliessen sich offensichtlich nicht aus.
Die Forschungsergebnisse der UEK sind, abgesehen von der Tagesberichtserstattung und einigen Rezensionen in wissenschaftlichen Zeitschriften, bislang kaum rezipiert worden. Die Empfehlungen der UEK beziehen sich primär auf die Rehabilitation der ehemaligen Betroffenen. Eine breitere öffentliche Diskussion der Forschungsergebnisse und die kritische Reflexion ihrer Bedeutung für Demokratie und Rechtsstaat blieben bislang aus. Dabei bestehen zahlreiche offensichtliche Aktualitätsbezüge, etwa zur ausländerrechtlichen Administrativhaft, zur Sozialhilfe, zum Erwachsenenschutzrecht oder zum Strafvollzug, um nur einige Bereiche anzusprechen. Die Frage stellt sich auch, inwiefern die Erfahrungen der aktuellen COVID-19-Pandemie dem Zwangsaspekt eine neue Dimension geben.
Zur Diskussion stehen folgende mögliche Fragestellungen:
- Was bedeutet die historische «Aufarbeitung» durch die UEK und andere Forschungsgruppen für das heutige Rechtsverständnis und die politische Kultur in der Schweiz?
- Inwieweit führt der Fokus auf vergangenes Unrecht zu einer Verrechtlichung und teilweise auch Moralisierung historischer Narrativen? Inwieweit wird dadurch die Trivialisierung historischer Erkenntnis gefördert? Inwieweit ergeben sich (neue) blinde Flecken?
- Inwieweit bestehen Kontinuitäten zwischen historischen und gegenwärtigen Formen der Rechtlosigkeit und Entrechtung? Welchen Personengruppen werden heute wesentliche Rechte aufgrund ihres administrativ-juristischen Status vorenthalten? Welche Institutionen und Prozesse sind daran beteiligt?
- Unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen gelten Grundrechtseingriffe heute als legitim? Wie haben sich diese Auffassungen im Lauf der Zeit, aber auch unter Eindruck der historischen Forschung verändert? Wie beinflussen rechtliche Kategorien und Massstäbe Gerechtigkeitsvorstellungen in der Vergangenheit und Gegenwart?
- Inwieweit kann die Forschung zur Identifizierung von Grundrechtsverletzungen und zur Rehabilitierung der Betroffenen beitragen, ohne den historischen Rückblick zu nutzen?
Zielpublikum: Wissenschaft, relevante Praxisbereiche, Medienschaffende, interessierte Öffentlichkeit
Sprachen: Deutsch und Französisch (ohne Übersetzung)