Eingangsstatements von: Andreas Wirsching (München), Ulrike Ludwig (Münster), Wolfgang Knöbl (Hamburg)
Moderation: Matthias Pohlig
Termin: Montag, 18.11.2022, 17.15-18.45
„Was Friseure können, können nur Friseure“, lautete früher ein bekannter Werbeslogan. Lässt sich das gleiche auch für Historiker:innen sagen? Können, was Historiker:innen können, wirklich nur Historiker:innen? Was ist das Alleinstellungsmerkmal der Geschichtswissenschaft?
In Ausbildung wie Praxis der Geschichtswissenschaft spielen verschiedene Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten eine zentrale Rolle: etwa das Identifizieren und Formulieren von Forschungsfragen, die extensive und intensive Lektüre von Forschungsliteratur, die Recherche und Auswertung von Quellenmaterial, die Quellenkritik, eine bestimmte Art, ein Thema zu strukturieren, die Fähigkeit zur historischen Kontextualisierung und zur multiperspektivischen Analyse, schließlich eine bestimmte Form der narrativen Darstellung. Nun sind nicht alle diese Kompetenzen und Praktiken der Geschichtswissenschaft vorbehalten, sondern charakterisieren große Teile der Geistes- und Kulturwissenschaften generell.
Deshalb möchten wir in der zehnten Diskussionsveranstaltung unserer Reihe „Geschichtliche Grundfragen“ über die Frage diskutieren, was Historiker:innen besonders auszeichnet. Unsere Frage zielt erstens auf die innerakademische Abgrenzung der Geschichtswissenschaft von anderen Disziplinen. Gerade für die Zeitgeschichte ist es eine drängende Frage, wie sich die historische Erkenntnis von politik-, wirtschafts-, sozial-, medien- oder kulturwissenschaftlicher unterscheidet. Doch auch für die älteren Epochen ist zu beobachten, dass historische Forschungen auch in anderen Disziplinen (etwa der Literatur- oder Kulturwissenschaft) stattfinden. Bisweilen beklagen Historiker:innen allerdings fehlende methodische oder handwerkliche Kompetenz, wenn sich Vertreter:innen anderer Fächer mit historischen Fragen befassen. Auch wenn man – im Sinne des interdisziplinären Arbeitens – grundsätzlich gegen diese Art von Abgrenzungsdiskursen sein kann, bleibt doch die Frage bestehen, worin eigentlich der spezifische Beitrag der Geschichtswissenschaft im interdisziplinären Gespräch der Fächer liegt. Liegt dieser Beitrag im Thematischen, oder sind es bestimmte Methoden, die unser Fach besonders auszeichnen? Oder schließlich bestimmte praktische Kompetenzen?
Zweitens zielt unsere Frage auf die Rolle der Geschichtswissenschaft in der und für die Gesellschaft. Welche Funktionen erfüllt die Geschichtswissenschaft in unserer Gesellschaft, und noch wichtiger: Welche spezifischen Fähigkeiten und Kompetenzen werden im Geschichtsstudium eigentlich vermittelt, die für das (Berufs-)Leben jenseits des Studiums wichtig sind? Warum soll jemand heute (noch) Geschichte studieren? Welche Kompetenzen sollten Fachvertreter:innen in Ausbildung und Praxis besonders betonen: die Fähigkeit, Quellen kritisch zu lesen, komplexe Zusammenhänge jenseits disziplinärer Wissensgrenzen zu erfassen oder nach Interessen und Ideologien zu fragen? Wächst der Kompetenz der Quellenkritik gerade angesichts von Fake News und künstlicher Intelligenz derzeit eine neue, auch politische Bedeutung zu? Oder entwerten die Möglichkeiten digitaler Quellenerzeugung auch mit KI-Tools die klassischen Methoden der Quellenkritik genauso wie die Kompetenzen zur Textproduktion, die einst im Studium gelernt werden sollten? All dies soll uns in unserer Diskussion beschäftigen. Was also können Historiker:innen, was andere nicht können?
Zur Diskussionsreihe „Geschichtliche Grundfragen“:
Mit den sozial-, geschlechter-, kultur- und globalgeschichtlichen Erweiterungen der Geschichtswissenschaft vor allem seit den 1970er Jahren sind ihre Themen vielfältiger, die theoretischen Ansätze und Methoden pluraler und Forschungsdesigns multiperspektivischer geworden. Dementsprechend hat die Komplexität des Fachs zugenommen, das heute in seiner Vielgestaltigkeit gerade auch über die Epochengrenzen hinweg kaum noch zu überblicken ist. Angesichts dieser Pluralisierung scheinen die Konturen der Geschichtswissenschaft zu verschwimmen, was von den einen als „anything goes“ beklagt und von anderen als notwendige Diversitätssteigerung begrüßt wird. Unserer Ansicht nach stellen sich aber auch angesichts der Vervielfältigung von Perspektiven, Zugängen und Quellenkorpora auf einer ganz basalen Ebene des historischen Arbeitens noch immer gleiche oder zumindest ähnliche Grundfragen: Was ist eine gute historische Frage? Gibt eine Einheit der Geschichte oder nur partiale Geschichten? Wie politisch kann, darf und muss Geschichte sein? Ist historische Erkenntnis objektiv? Wie sollen die räumlichen und zeitlichen Bezüge unserer Forschungen gestaltet sein?