Gedenkstätte Bergen-Belsen, Dauerausstellung

Gedenkstätte Bergen-Belsen, Dauerausstellung

Veranstalter
Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Gedenkstätte Bergen-Belsen <http://www.stiftung-ng.de> <http://www.bergen-belsen.de/de/ausstellung/> (16504)
rda_hostInstitution_reex
16504
Ort
Lohheide (seit Oktober 2007)
Land
Deutschland

Publikation(en)

Stiftung niedersächsische Gedenkstätten (Hrsg.): Gedenkstätte Bergen-Belsen 2007. Begleitheft zur Dauerausstellung. Lohheide 2007 , ISBN 978-3-9811617-2-4 72 S., zahlr. Abb. € 4,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katja Köhr, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Wir befinden uns in einer „Epoche des Gedenkens“1, in der die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen eine zentrale Rolle spielt. Die geplante Aufnahme von vier weiteren NS-Gedenkstätten in die anteilige institutionelle Förderung des Bundes ist dafür ein starker Indikator.2 Eine dieser Gedenkstätten ist Bergen-Belsen.3 Mit hohem kreativem, administrativem und finanziellem Aufwand wird hier seit dem Jahr 2000 ein zweistufiger „Masterplan“ verfolgt, der darauf abzielt, Bergen-Belsen als Gedenkort von internationaler Bedeutung zu etablieren. Die erste Stufe wurde am 28. Oktober 2007 vollendet. An diesem Tag wurde das neue Dokumentationszentrum mit der Dauerausstellung zur Geschichte der dortigen Lager eröffnet.

Die Gedenkstätte Bergen-Belsen hat ein historisch bedingtes Problem. Es fehlt ihr weitgehend an dem, was Gedenkstätten so besonders macht, was ihnen eine starke erzählerische und bezeugende Kraft verleiht: die materiellen Überreste der Orte, an denen Unfassbares, Verbrecherisches geschah. Nachdem bereits kurz nach der Befreiung des Lagers im April 1945 aus Gründen der Seuchenhygiene die Häftlingsbaracken abgebrannt worden waren, planierte man das Gelände im Herbst 1945 komplett, um den von der britischen Militärbehörde in Auftrag gegebenen Friedhof zu gestalten.4 Das Ergebnis prägt bis heute das Aussehen und die Atmosphäre der Gedenkstätte, die vor allem ein leer wirkender Gedenkort, ein Friedhof mit Massengräbern ist.

Dieser Situation begegnet das neue Dokumentationszentrum mit großer Professionalität und Einfühlung. Die Ausstellung besticht durch ein klares Konzept in einer klaren Architektur und Raumgestaltung. Entstanden ist ein schlichter, langgezogener, minimalistischer Bau aus Glas und Beton, der unaufdringlich mit der Topographie des Geländes korrespondiert und das Fehlen von baulichen Überresten nicht durch vordergründige Effekte zu vertuschen sucht. Fast nachdenklich wirkt die Präsentation der Grabungsfunde, die auf dem Lagergelände gemacht wurden und in Bodenvitrinen ausgestellt sind. Ebenso unaufdringlich schiebt sich das Gebäude mit einem Überhang in das ehemalige Lagergelände und gibt durch eine die gesamte Stirnseite des Ausstellungsraumes einnehmende Glasfront den Blick auf den Ort frei, an dem das geschehen ist, wovon die Dokumente, Objekte und vor allem die Überlebenden in der Ausstellung erzählen. Wie ein hartnäckiger Stachel, der nicht – wie die Lagerbaracken – zu entfernen ist, bohrt sich die Erzählung in die Erinnerung der heutigen Besucher.

Erzählt wird chronologisch und in drei Teilen: Im ersten Teil wird die Geschichte des Kriegsgefangenenlagers der Wehrmacht (1939–1945) thematisiert; hier liegt der Schwerpunkt auf den russischen Kriegsgefangenen. Den zweiten und größten Teil bildet die Ausstellung zum Konzentrationslager Bergen-Belsen (1943–1945). Im letzten Teil wird dann die Geschichte des Lagers als Displaced Persons Camp dargestellt (1945–1950). Alle drei (Teil-)Ausstellungen werden durch Prolog und Epilog gerahmt, wobei dem Epilog noch die Thematisierung der strafrechtlichen Verfolgung der Täter vorangeht. Der Prolog legt nicht nur den Startpunkt der Ausstellung fest, er verweist auch auf das zentrale Konzept der Ausstellung: die Individualisierung und Personalisierung.

In einem zweigeschossigen Raum von ca. 25 Quadratmetern Grundfläche werden Sequenzen aus Interviews mit Überlebenden gezeigt, in denen sie über ihr Leben vor dem Holocaust und der ersten Erinnerung an die schrittweise Entrechtung und Verfolgung erzählen. Ähnliche Maße und dieselbe turmähnliche Architektur weist der „Filmturm“ auf, der sich am Übergang zum zweiten Ausstellungsteil befindet, „im räumlichen Zentrum des Ausstellungs- und Wegesystems“ (Begleitheft, S. 14), und hinter schweren dunklen Vorhängen historisches Filmmaterial von Leichenbergen und ausgezehrten menschlichen Gestalten birgt. Die Barriere der Vorhänge und die Hinweise auf die Intensität der Bilder sind wegen der Gefahr einer emotionalen Überwältigung nachvollziehbar. Andererseits weckt diese Inszenierung aber auch Neugier und zieht die Aufmerksamkeit eher auf sich. Vielleicht wäre – wenn man sich aus Achtung vor der Würde der Opfer nicht sogar ganz gegen das Zeigen dieses Material entscheidet – eine einfache Sichtbarriere vor den Bildschirmen eine geeignete Alternative gewesen. Andererseits ist die gewählte Darstellung in sich und in Bezug auf das architektonische Konzept schlüssig. Denn sie zieht eine klare Verbindung zwischen den anonymen Opfern (im „Filmturm“) und den Überlebenden (im Prolog). So unterstreicht auch die Raumgestaltung die zentrale Perspektive der Ausstellung auf die Ermordeten und die Überlebenden. Die Geschichten letzterer, ihre Erzählungen, prägen die Ausstellung. Insgesamt werden Ausschnitte aus 90 Interviews auf zwei Ebenen präsentiert. Zum einen werden – getrennt von den eigentlichen Ausstellungsdisplays – zwölf übergreifende biographische Erzählungen an Medienstationen gezeigt, zum anderen Erzählungen und Interviewsequenzen thematisch in das Ausstellungsnarrativ und Display eingebunden.

Es gelingt überzeugend, die nationalsozialistischen Verbrechen nicht als abstrakten Prozess von Strukturen und Funktionen darzustellen, sondern als reales Geschehen mit individuellen Erfahrungen. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass die Ausstellungsmacher in Bergen-Belsen die personalisierte Perspektive nicht nur auf die Opfer beziehen – wie dies in anderen Ausstellungen häufig geschieht –, sondern auch auf Täter und Zuschauer. So werden an Vertiefungsstationen zum Beispiel biographische Angaben und Archivmaterialien zu den Tätern angeboten. Bemerkenswert sind aber vor allem die Interviewsequenzen, in denen frühere Anwohner des Lagers zu Wort kommen. Ihre Erzählungen sind es, die ein hohes pädagogisches Potenzial besitzen. An sie knüpft sich unmittelbar die Frage: Wie hätte ich reagiert? Wie hätte ich mich verhalten?

Auch bei den gezeigten Objekten fällt auf, dass die Ausstellung auf autobiographisch relevante Exponate zurückgreift. Neben neu recherchierten Dokumenten, die erst durch die Öffnung russischer Archive zugänglich wurden, wie etwa die am Beginn des ersten Ausstellungsteils gezeigte Gefängniskartei russischer Kriegsgefangener, und zahlreichen Fotografien werden auch Koffer, Spielzeug, kleine Handwerksarbeiten, Tagebuchauszüge ausgestellt. Vor allem ein Objekt sticht dabei heraus: In einer Vitrine, herausgehoben und hell ausgeleuchtet, liegt ein Paar Handschuhe. Es sind die Handschuhe von Yvonne Koch, die als Kind im Lager war und diese Handschuhe von einer unbekannten Frau geschenkt bekam.

Es ist ein Topos, dass die Bedeutung historischer Orte wachse, wenn die Zeitzeugen sterben. Die Ausstellung beweist, dass es umgekehrt sein kann: Erst durch die Geschichten der Menschen bekommt ein Ort seine Bedeutung – vor allem dann, wenn wie im Fall von Bergen-Belsen die Orte der Verbrechen nur noch zu erahnen sind. Eine Gefahr dieses Ansatzes ist jedoch, dass die Eindrücke vereinzelt bleiben und entkontextualisiert werden. So wird es mit wachsendem Abstand zur NS-Vergangenheit auch umso nötiger, konkretes historisches Wissen zu vermitteln. Die Ausstellung fühlt sich deshalb einer konsequenten regionalen und lokalen Kontextualisierung und einer quellenkritischen Präsentation verpflichtet. Allerdings sind Verweise auf den größeren historischen Kontext sehr knapp und erfordern von den Besuchern ein nicht unerhebliches Vorwissen.

Die zahlreichen Dokumente und Fotografien dienen nicht als bloße Beweismittel oder zur Illustration, sondern werden als Quellen gekennzeichnet. Auch wenn die Autorenschaft der Ausstellungsmacher aufgrund des starken Dokumentationscharakters nicht immer deutlich wird, ist es ein Verdienst der Ausstellung, dass sie von einem starren Narrativ weit entfernt ist. Es klingt merkwürdig, aber es mag die große Chance der Nachfolgegenerationen der Täter sein, vielschichtigere Erzählweisen zu entwickeln als ein geschlossenes Opfer- oder Befreier-Narrativ.

Wie viel Anschaulichkeit ist wirklich nötig? Verlorene Relikte und Dokumente kann bzw. sollte man nicht nachbilden, aber man kann die Lücken sichtbar machen, so wie es im Dokumentationszentrum der Gedenkstätte Bergen-Belsen und mittlerweile auch an vielen anderen Gedenkorten geschieht. Die Herausforderung besteht darin, die Grenzen des Verstehens und der Nachvollziehbarkeit zu erhalten und die unaufhebbare Distanz zum Geschehen trotz scheinbarer (räumlicher) Nähe zur Vergangenheit nicht zu negieren. Aus dieser Perspektive ist das Fehlen baulicher Überreste des Lagers kein Defizit mehr, sondern eine Chance.

Anmerkungen:
1 Pierre Nora, Gedächtniskonjunktur, in: Transit 22 (2002), S. 18-31, hier S. 23.
2 Vgl. die Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes vom 19.6.2008, die der Bundestag am 13.11.2008 verabschiedet hat. Vgl. <http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/098/1609875.pdf> (5.11.2008).
3 Die anderen drei sind die KZ-Gedenkstätten in Dachau, Neuengamme und Flossenbürg.
4 Zur Geschichte und Nachgeschichte des Lagergeländes vgl. u.a. Joachim Wolschke-Bulmahn, 1945–1995. Zur landschaftsarchitektonischen Gestaltung der Gedenkstätte Bergen-Belsen, in: Die Gartenkunst 7 (1995), S. 325-340; Jo Reilly u.a. (Hrsg.), Belsen in History and Memory, London 1997; Thomas Rahe, Die museale und mediale Darstellung der nationalsozialistischen Verfolgungsgeschichte in der Gedenkstätte Bergen-Belsen, in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 6 (2001), S. 82-96; Wilfried Wiedemann, „Earth Conceal Not The Blood Shed on Thee“. Neues Informations- und Dokumentationszentrum in Bergen-Belsen, in: Gedenkstätten-Rundbrief Nr. 143 (2008), S. 3-13. Wiedemann war Leiter des Projektes der Neugestaltung der Gedenkstätte Bergen-Belsen.

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