Tote Objekte – Lebendige Geschichte(n)

Tote Objekte – Lebendige Geschichte(n)

Organisatoren
Emil-von-Behring-Bibliothek; Arbeitsstelle für Geschichte der Medizin, Philipps-Universität Marburg
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.11.2012 - 24.11.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Sabine Salloch, Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin, Ruhr-Universität Bochum

Reichhaltige Einblicke in wissenschaftshistorische und kulturelle Aspekte universitärer Sammlungen gewährte eine interdisziplinäre Tagung mit Sonderausstellung, die am 23. und 24. November 2012 anlässlich des 200jährigen Jubiläums der Anatomischen Sammlung am Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg stattfand. Ausrichterin war die Emil-von-Behring-Bibliothek / Arbeitsstelle für Geschichte der Medizin. Das 200jährige Jubiläum wurde zum Anlass genommen, sowohl die Anatomische Sammlung als auch weitere Sammlungen der Philipps-Universität am Beispiel einzelner Objekte vorzustellen. Unter Bezugnahme auf aktuelle Strömungen der Objektgeschichte kamen dabei neben wissenschafts- und kulturhistorischen auch museumspraktische und didaktische Aspekte zur Sprache. Besonders gelungen war das „Experiment“, Teile der Anatomischen Sammlung in einen breiteren wissenschaftlichen Kontext einzubetten, indem sie in kontrastierender Weise mit Objekten weiterer universitärer Sammlungen der Philipps-Universität zusammengebracht wurden. Leitgedanke dieser innovativen Form der Präsentation war der Bezug der ausgewählten Objekte sowohl zur hessischen, als auch zur europäischen und außereuropäischen Medizingeschichte. Die Vermittlung des sammlerischen Bestandes und die Gegenüberstellung der Objekte aus unterschiedlichen Kulturen und universitären Wissensgebieten erfolgte im Rahmen der Tagung in zweifacher Weise: In Einzelvorträgen wurden ausgewählte Objekte in ihrer historischen Einbettung sowie ihrer wissenschaftlichen Bedeutung dem Publikum nahegebracht. Zugleich ermöglichte die zum Jubiläums-Anlass zusammengestellte Sonderausstellung, die Objekte im Anschluss an die Vorträge unmittelbar in Augenschein zu nehmen. Durch diese „doppelte Vermittlung“ kam es für die Besucher zu einer kontinuierlich wachsenden Vertrautheit mit den ausgestellten Objekten, die im Verlaufe der Konferenz durch die erläuternden Vorträge mit Bedeutung versehen wurden.

Irmtraut Sahmland hob in ihrer Begrüßung hervor, dass es Ziel der Veranstaltung sei, die „Jubilarin“ im Kontext der anderen Sammlungen zu zeigen – ein Experiment, welches neue Formen der Kooperation, aber auch neue Perspektiven in wissenschaftlicher Hinsicht ermögliche. GERHARD AUMÜLLER (Marburg) thematisierte in seinem einführenden Referat die Leistungen Christian Heinrich Büngers, mit dessen Berufung nach Marburg die Anatomische Sammlung 1812 ihren Anfang gefunden hatte. Durch die Vorstellung verschiedener Korrosionspräparate Büngers wurde deutlich gemacht, inwiefern diese überaus sorgfältigen Arbeiten nicht nur der Vorbereitung chirurgischer Eingriffe, sondern auch der medizinischen Lehre und Ausbildung dienten. Die Demonstration anatomischer Exponate wurde fortgesetzt durch den Beitrag von KORNELIA GRUNDMANN (Marburg), die anhand zweier Schädel hingerichteter Verbrecher sowohl die Lebensgeschichten der Verstorbenen im Kontext des Strafvollzuges im 19. Jahrhundert als auch die Praxis der Abgabe von Leichen an die Marburger Anatomie detailreich aufzeigte.

Das im Anschluss vorgestellte Objekt entstammte der Zoologischen Sammlung und bildete einen gelungenen Kontrast zu den anatomischen Präparaten, indem auf diese Weise die vergleichende Anatomie, welche sowohl als Fachgebiet der Medizin als auch der Biologie verstanden werden kann, zum Gegenstand gemacht wurde. Am Beispiel des Skelettes des Zirkuselefanten „Jack“, der 1863 in Kirchhain zu Tode kam, erläuterte HANS-WILHELM BOHLE (Marburg) die Anatomie des Elefanten in ihrer evolutionären Entwicklung sowie auch das Verhältnis der Marburger Institute für Anatomie und Zoologie im 19. Jahrhundert. Stärker quellenkundlichen Charakter hatte der Vortrag von PATRICK STURM (Marburg), der die Bedeutung von Leichenpredigten für die medizinhistorische Forschung diskutierte. Anhand ausgewählter Beispiele aus der Forschungsstelle für Personalschriften wurde der Wert von Leichenpredigten als serielle Quelle diskutiert, die neben Stellungnahmen zeitgenössischer Ärzte auch das Krankheitsverständnis medizinischer Laien repräsentieren. Den Abschluss des Tages bildete der öffentliche Abendvortrag von REINHARD HILDEBRAND (Münster), der unter dem Titel „Das Herz im Glas“ die Ambivalenz in der Wahrnehmung dieses zentralen Körperorgans zwischen archaischer Leibeserfahrung und mechanischem Pumpensystem darstellte. Wilhelm Hauffs Erzählung „Das kalte Herz“ diente dabei als Folie einer kulturgeschichtlichen Analyse des Verschwindens der Herz-Metaphorik, das die Identität von Leib und Person in der Moderne in Frage stellt.

Den Auftakt des zweiten Konferenztages bildete das Referat von RITA AMEDICK (Marburg), die anhand ausgewählter Skulpturen und Reliefs der Archäologischen Sammlung die Bedeutung einer Darstellung fehlgebildeter Menschen in der antiken Kunst analysierte. Dabei wurde aufgezeigt, dass die Darstellung von Menschen mit körperlicher Behinderung in der antiken Kunst eng mit deren Charakterisierung und sittlich-moralischen Bewertung in Verbindung steht, so dass der Versuch retrospektiver Diagnosen hier schnell an eine Grenze geraten muss. Aktuelle Forschungsergebnisse aus der Medizingeschichte stellte IRMTRAUT SAHMLAND (Marburg) mit Hilfe eines Präparates aus der Anatomischen Sammlung vor. Als Ergebnis umfangreicher Recherchen konnte sie die Lebensgeschichte des „hockenden Skeletts“, des Ganzkörper-Bänderskeletts eines in Hockhaltung verstorbenen Menschen, rekonstruieren. Dabei kamen neben der Pflege psychisch Kranker im 19. Jahrhundert auch forschungsethische Aspekte bei der Aufarbeitung konkreter Patientenschicksale zur Sprache. Ein nur auf den ersten Blick unscheinbares Objekt der Anatomischen Sammlung beleuchtete ULRIKE ENKE (Marburg) in ihrem Beitrag über die embryologische Wachstafel Josef Benedikt Kurigers, die in kunstvoller Ausarbeitung die Embryonalentwicklung im Sinne einer Gestaltentwicklung (und damit im Gegensatz zur Präformationslehre) darstellt. Einzelne Objekte der Geburtsmedizinischen Sammlung wurden von MARITA METZ-BECKER (Marburg) im Zusammenhang mit der geburtshilflichen Praxis im Marburger „Accouchierhaus“ des frühen 19. Jahrhunderts vorgestellt. Der „Reigen“ von Objekten der Marburger Sammlungen wurde dann von KATJA TRIPLETT (Göttingen) fortgesetzt. Das Rollbild eines Medizinbuddha aus der Religionskundlichen Sammlung diente als Hintergrund einer Vorstellung der Lehren und Praxis der traditionellen tibetischen Medizin. Nach Südamerika führte schließlich der Vortrag von DAGMAR SCHWEITZER DE PALACIOS (Marburg), die andine Schamanen und deren Heilaltäre vor dem Hintergrund des Erwerbs und der Verwendung von Machtobjekten vorstellte. Der Referentin gelang es dabei, Perspektiven auf religiöse Kultgegenstände jenseits einer Dichotomie von Materialität und Personalität zu entwickeln. Ebenfalls außereuropäischer Herkunft ist das Strophantin, das als afrikanische Gift- und Heilpflanze zu den Ausstellungsobjekten der Pharmacognostischen Sammlung gehört. BARBARA RUMPF-LEHMANN (Marburg) erläuterte Herstellung und Anwendung des Strophantins, welches in Afrika als Pfeilgift zu Zwecken der Jagd eingesetzt wurde, in Deutschland aber bis in die 1970er-Jahre als schnell wirksames Herzglykosid in der Kardiologie Verwendung fand. Der Schlussvortrag von DRIES BARGHEER (Marburg) war erneut zwei Objekten der Anatomischen Sammlung gewidmet. Im Rahmen aufwändiger interdisziplinärer Recherchen konnte der Referent einige Hypothesen zu Herkunft und Datierung zweier aus Ozeanien stammender Schädel entwickeln, wobei auch forschungs- und sammlungsethische Aspekte, etwa die Frage einer Rückgabe von Exponaten an indigene Völker, zur Sprache kamen.

Ihren Abschluss fand die Tagung mit einer Podiumsdiskussion, an der neben Leiterinnen und Leitern der Marburger Sammlungen auch Joachim Schachtner als Vizepräsident der Philipps-Universität teilnahm. Gemeinsam wurden Perspektiven des Bewahrens, der Nutzung in Lehre und Forschung sowie der öffentlichkeitswirksamen Präsentation der Objekte diskutiert. Mit ca. 30 universitären Sammlungen kann die Philipps-Universität auf einen für das Land Hessen einmaligen Fundus zurückgreifen, der nach einhelliger Meinung großes Potential zur Weiterentwicklung bietet. Im Rahmen der Podiumsdiskussion wurden jedoch auch die Herausforderungen in der Entwicklung zukünftiger Projekte nicht ausgespart, allem voran der Mangel an einer finanziellen Ausstattung, die es ermöglichen würde, qualifiziertes Personal für den Erhalt und die Weiterentwicklung der Sammlungen einzustellen.

Zusammenfassend kann ein Bericht über diese Tagung mit einem positiven Fazit schließen. Den etwa 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde ein ausgezeichneter Einblick in die Vielfalt universitärer Sammlungen am Standort Marburg ermöglicht, wobei das Herausgreifen einzelner Objekte jeweils schlaglichtartig erfolgte. Die Faszination und die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten „toter“ Objekte unter dem Oberbegriff der Medizingeschichte konnten in umfassender Weise vermittelt werden. Die innovative Präsentation im Rahmen einer Sonderausstellung, innerhalb derer die Aspekte unterschiedlicher Fachgebiete zusammengeführt wurden, bildete einen gelungenen interdisziplinären Ansatz in der universitären Sammlungslandschaft, der auf zukünftige Projekte mit einem größeren Umfang hoffen lässt.

Konferenzübersicht:

Gerhard Aumüller (Marburg): Was sagen uns die Bünger-Präparate heute? Historische Präparationstechniken und ihre Ergebnisse

Kornelia Grundmann (Marburg): „… durch das Schwert vom Leben zum Tode bringen…“ – Schädel und Totenmasken von Verbrechern und Hingerichteten in der Anatomischen Sammlung

Hans-Wilhelm Bohle (Marburg): Der Elefant der Zoologischen Sammlung. Die vergleichende Anatomie zwischen Zoologie und Medizin

Patrick Sturm (Marburg): Leiden – lernen – heilen. Leichenpredigten als Quelle zur Medizingeschichte

Reinhard Hildebrand (Münster): Das Herz im Glas – Ein anatomisch-kulturgeschichtlicher Blick auf die „materielle Seele“ des lebenden Körpers

Rita Amedick (Marburg): Hungerleider beim Festmahl. Darstellungen fehlgebildeter Menschen in der antiken Kunst

Irmtraut Sahmland (Marburg): Das Elend der menschlichen Kreatur: Das hockende Skelett der Anatomischen Sammlung

Ulrike Enke (Marburg): Wissen für alle: Josef Benedikt Kurigers embryologische Wachstafel nach Soemmerring

Marita Metz-Becker (Marburg): Die „Kaisergeburtsgeschichte“ der Maria Sophia Dickscheidt (1782). G. W. Steins Kaiserschnittbistouri im Marburger Museum Anatomicum

Katja Triplett (Göttingen): Körperbilder des Heils: Kultur- und religionswissenschaftliche Perspektiven auf Lehren und Praxis der tibetischen Medizin

Barbara Rumpf-Lehmann (Marburg): Strophantus, ein Pfeilgift aus Afrika als Herzmittel

Dagmar Schweitzer de Palacios (Marburg): Die Macht liegt in den Werkzeugen: Andine Schamanen und ihre Heilaltäre

Dries Bargheer (Marburg): Kopfjagd in Ozeanien. Die Untersuchung der Ozeanischen Schädel des Museum Anatomicum

Abschlussdiskussion:
Perspektiven der universitären Sammlungen in Marburg


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Deutsch
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