Schrumpfung – Niedergang oder Neuschöpfung des Städtischen? Plädoyer für eine Erweiterung des Stadtbegriffs

Von
Anne Brandl, Institut für Städtebau, ETH Zürich

"Häuser zu Steinmehl"1, eine Millionen leer stehender Wohnungen, die perforierte Stadt, rückläufige Einwohnerzahlen, Abriss, "Luxus der Leere"2, "Die schwindende Stadt"3, Entschleunigung, Zwischennutzung, Stadtumbau, die temporäre Stadt – die nicht nur in Ostdeutschland zu beobachtenden Stadtentwicklungsprozesse scheinen alle bisherigen Grundüberzeugungen von Stadttheoretikern und -planern auf den Kopf zu stellen. Es wird nicht auf-, sondern zurückgebaut; Brachen entstehen nicht durch Stilllegung von Industriearealen, sondern durch Abriss; es wird nicht der zehntausendste neue Einwohner begrüßt, sondern das Dableiben des Neuntausendsten umworben.

Schrumpfung ist in kürzester Zeit zum selbstverständlichen Thema in der wissenschaftlichen Diskussion über Fragen der Stadtentwicklung geworden.4 Dabei umfasst Schrumpfung "die folgenden, in gegenseitiger Wechselbeziehung zueinander stehenden Merkmale: Einwohnerrückgang, krisenhafte sozioökonomische Entwicklungen sowie damit verbundene baulich-räumliche Folgen wie z.B. baulicher Leerstand und Verfall. Die Probleme des Einwohnerrückgangs sind dabei vor allem geprägt durch die interregionale Ab- und die selektiven intraregionalen Stadt- und Stadt-Umland-Wanderungen. Die Probleme der krisenhaften ökonomischen Entwicklung sind vornehmlich charakterisiert durch selektive Wohlstandsentwicklungen mit baulich-räumlichem Niederschlag und/oder Entwicklungen der lokalen bzw. regionalen Wirtschaft, die sich aufgrund von Deindustrialisierungs- oder Rationalisierungsprozessen in Arbeitsmarktstrukturen krisenhaft ausprägen." 5 Das Tempo und die Intensität der Schrumpfungsprozesse und ihrer Folgewirkungen verlangen in Ostdeutschland ein schnelles Handeln von Planung und Politik. Das Machbare und nicht das Wünschenswerte bestimmt den stadtentwicklungspolitischen Alltag. Aus mehreren Gründen bedarf es dringend einer Positionierung seitens der Stadttheorie.

Was bedeuten die Schrumpfungsprozesse für das disziplinäre Verständnis von Stadt?
Es fehlt bisher an einer kritischen Auseinandersetzung innerhalb der Stadt- und Planungstheorie über die eigenen Wertvorstellungen. Da es bisher keine Theorie der Schrumpfung gibt, wirken die tradierten planungs- und stadttheoretischen Denkmuster normativ auf die Schrumpfungsprozesse, sodass diese nur als Krise und Niedergang des Städtischen gedeutet werden können.6 So basieren bestehende Stadtkonzepte auf Wachstumsannahmen. Beispielsweise verbinden verschiedene Stadtmodelle Bevölkerungszahl, Siedlungsdichte und Heterogenitätsgrad einer Bevölkerung mit dem Begriff des Städtischen 7 – also mit genau jenen Merkmalen, die bei Schrumpfung abnehmen. Eine stadttheoretische Reflexion darüber, welche Konzepte einen vorurteilsfreien Blick auf die Schrumpfungsprozesse verhindern und welche konstruktiv für eine Theorie der Schrumpfung genutzt werden können, steht noch aus. Weiterhin dominiert in Theorie und Praxis die Vorstellung von Stadt als gebautem Objekt. Diese einseitige Fokussierung auf den baulichen Aspekt ist jedoch deshalb fatal, weil innerhalb der Schrumpfungsprozesse in einem überaus plakativen Prozess ein wesentlicher Wert des Städtischen umgekehrt wird: das Gebaute ist nicht mehr Ausdruck der Repräsentation, das Gebaute wird als Leerstand symbolträchtig zum Ausdruck von Schrumpfung.

Was kann Stadt jenseits von Wachstum und Gebautem bedeuten?
Es fehlt den derzeitigen planungspolitischen Maßnahmen eine sinnstiftende und motivierende Zukunftsperspektive von Stadt, auf die alles Handeln ausgerichtet werden kann. Es fehlt in der Stadttheorie an Konzepten, die die in Wachstumszeiten entwickelten Stadtbegriffe revidieren oder um andere Qualitäten erweitern. Die Schrumpfungsprozesse erfordern die Entwicklung neuer Begrifflichkeiten, Merkmale und Wertvorstellungen. Welche Merkmale und Qualitäten sollen das Städtische einer schrumpfenden Stadt kennzeichnen? Welche Werte sollen mit ihr verbunden werden können? Wie kann eine Stadttheorie der Schrumpfung aussehen? Und inwiefern kann diese Theorie das allgemeine Verständnis von Stadt bereichern?

Tradierte Denkmuster – Niedergang des Städtischen
Das Wachstumsdenken und das Verständnis von Stadt als gebautem Objekt stellen zwei Denkmuster dar, die normativ auf die Schrumpfungsprozesse wirken, sodass diese nur als Verfallserscheinung und als ein Verlust gegenüber dem tradierten Stadtverständnis wahrgenommen werden können. Durch das Fehlen eines veränderten Stadtbegriffs, der Bezug auf die Schrumpfungsprozesse nimmt, können nur die bisherigen Vorstellungen als Maßstab herangezogen werden. In diesem Sinne lassen sich Einwohnerverluste und ein damit verbundener Rückgang der Einwohnerdichte, Überalterung oder durch Abrisse bedingte räumliche Entdichtung nur als Verlust und Krise deuten.

Aus Schrumpfung einen Niedergang des Städtischen zu schlussfolgern ist jedoch einseitig. Bisher lässt sich nur festhalten, dass ein quantitatives Verständnis und eine auf baulicher Kompaktheit beruhende Stadtvorstellung zu hinterfragen sind. Es gilt, die normative Verknüpfung von Stadtentwicklung und Wachstum sowie die Dominanz der mit einem objekthaften Stadtverständnis implizierten Normen aufzuheben und nach Ansätzen für ein verändertes Verständnis des Städtischen zu suchen.

Wachstum = Fortschritt
Das Wachstumsparadigma hat innerhalb der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften seit den 1950er Jahren zu einem Denken geführt, das die Nachkriegsprosperität als normale Phase eines kontinuierlichen Entwicklungsprozesses begreift. Über einen längeren Zeitraum betrachtet, handelt es sich jedoch um eine historisch einmalige Situation. Der Wirtschaftssoziologe Burkhart Lutz hat dies bereits 1984 nachgewiesen und prägnant mit "Der kurze Traum immerwährender Prosperität" betitelt.8 Dennoch dominiert in der öffentlichen Wahrnehmung eine Mentalität, für die Fortschritt und Wohlstand mit Wachstum gleichbedeutend sind. Innerhalb dieser Grundhaltung wurde und wird auch Stadtentwicklung mit Wachstum normativ gleichgesetzt, und Stadtplanung versteht sich als eine Disziplin, die dieses Wachstum steuert und gestaltet.

Ein anschauliches Beispiel für die quantitative Ausrichtung der Stadtplanung und ihre Mühen diesbezüglich umzudenken, hat Benedikt Huber bereits vor 30 Jahren gegeben.9 Anhand der Richtwerte für die Wohnfläche pro Einwohner bemerkte er, dass 35 Quadratmeter den Bewohner nicht zwangsläufig glücklicher machen als zehn Quadratmeter Wohnfläche weniger, solange die Qualität beider Flächen nicht berücksichtigt wird. Verfolgt man derzeit die planungspolitischen Verlautbarungen im Zuge des für die ostdeutsche Stadtentwicklung maßgeblichen Förderprogramms "Stadtumbau Ost", bekommt man manchmal den Eindruck, dass es auch heute nur um die Erreichung von quantitativen Richtwerten geht: Nach drei Jahren "Stadtumbau Ost" gibt es 100.000 Wohnungen weniger, verkündete der damalige Bundesbauminister Manfred Stolpe in einer Regierungserklärung vom 28.12.2004. Und das Planziel für die nächsten vier Jahre sollen weitere 360.000 Wohnungen sein. Also doch wieder Wachstum – wenn auch nur das der Abrisszahlen?

Stadt = gebautes Objekt
Das Verständnis, zweckgerichtet eine gegenständliche, vom Menschen relativ unabhängige, am Gebrauch orientierte Umwelt herstellen zu wollen, dominiert innerhalb der Disziplinen Stadtplanung und Städtebau. Diese Verdinglichung von Stadt resultiert aus einem materiellen, gegenständlichen Raumbegriff der Stadtforschung. "Raum wird verstanden als Territorium, welches bestimmt wird durch Größe und Dichte. […] Mit dem Begriff Raum wird ein begrenztes Gebiet bezeichnet, in dem etwas stattfindet (wie in einem Behälter), das folglich dem Handeln gegenüber gestellt wird."10

Die objekthafte Vorstellung von Stadt kulminiert in der physischen Gestalt der Europäischen Stadt. Walter Siebel definiert diese mit den Merkmalen Stadt-Land-Gegensatz, Zentralität, Größe, Dichte und Mischung.11 Nun ist die Auflösung der Gestalt der Europäischen Stadt ein Phänomen, das nicht erst seit dem Auftreten von Schrumpfung existiert. Die mit diesem spezifischen Stadtverständnis verbundenen Wertvorstellungen erweisen sich dennoch als sehr wirkmächtig. Für den Umgang mit Schrumpfung lässt sich derzeit resümieren, dass bauliche Aspekte die öffentliche und stadttheoretische Wahrnehmung und die planungspraktischen Handlungsweisen dominieren.

In Reaktion auf die Auswirkungen der Schrumpfungsprozesse ist durch Bund und Länder das Förderprogramm "Stadtumbau Ost" mit einem Volumen von 2,5 Milliarden Euro und einer Laufzeit von 2002 bis 2009 initiiert worden. Es ist ein vorwiegend wohnungswirtschaftlich und städtebaulich orientiertes Handlungsinstrumentarium, das vor allem zum Ziel hat, "den städtebaulichen Funktionsverlusten der Städte umfassend zu begegnen."12 Durch die Dominanz der wohnungswirtschaftlichen und städtebaulichen Aspekte wird in der Öffentlichkeit Schrumpfung oft synonym mit Gebäudeleerstand und Stadtumbau synonym mit Gebäudeabriss wahrgenommen. Die Problemlage ist jedoch weit komplexer und lässt sich keineswegs auf diese beiden Aspekte beschränken.

In Zusammenhang mit den Schrumpfungsprozessen ist das Leitbild der "Perforierten Stadt" entwickelt worden.13 Dabei geht es darum, Stadtstrukturen in erhaltbare Kerne und entdichtetes "Plasma" zu unterteilen. Während die "urbanen Kerne" das Grundgerüst der Europäischen Stadt in Funktion und Gestalt sichern sollen, umfasse das Plasma Räume, in denen langfristig Nutzungen und Bebauungen zugunsten von Begrünung aufgegeben würden. Das Bild der kompakten Stadt verfolgend, wird idealtypisch der Rückbau vom Rand her favorisiert. Mit Perforation ist nicht gemeint, dass zum Beispiel soziale Netzwerke der Bewohner aufgrund von Wegzug und Abriss zerstört werden.

Die Verhaftung in tradierten Denkstrukturen wird auch auf theoretischer Ebene deutlich. Alle bisherigen Definitionen von Schrumpfung thematisieren die Wechselwirkungen demografischer und sozioökonomischer Merkmale und ihre baulich-räumlichen Folgen. Aber die Auswirkungen auf die städtische Öffentlichkeit 14, auf Identifikationsprozesse, auf die Kommunikations- und Interaktionsdichte einer Stadt, auf die Intensität an visuellen, haptischen oder auditiven Eindrücken sind bisher nicht Bestandteil einer Schrumpfungsdefinition.

Die Dominanz der bau- und wohnungswirtschaftlichen Perspektive im Umgang mit den Schrumpfungsprozessen birgt nicht nur die Gefahr der Vernachlässigung anderer Aspekte und Interessensgruppen, sondern sie suggeriert auch der Öffentlichkeit, dass das Problem lediglich bei dem Gebauten einer Stadt zu suchen ist, und durch die Bereinigung des Wohnungsmarktes Schrumpfung bereits bewältigt werden kann. Schrumpfung ist jedoch keineswegs nur ein quantitativer Vorgang, auch wenn Zahlen wie eine Million leer stehender Wohnungen oder ein Verlust von einem Drittel der Einwohner in einer Stadt eindrucksvoll sind. Die eigentliche Herausforderung für Theorie und Praxis liegt im Qualitativen: bei der "Schrumpfung in den Köpfen" 15, bei dem Rückzug in die Privatsphäre, den Segregationstendenzen, dem zivilgesellschaftlichen Engagement, dem Sinn- und Identitätsverlust für die Bewohner.

Für eine Erweiterung des Stadtbegriffs
Die Schrumpfungsprozesse offenbaren den Bedarf einer stadttheoretischen Reflexion. Doch nicht der Niedergang des Städtischen ist zu konstatieren, sondern es gilt, sich von den tradierten Denkmustern zu verabschieden und nach einer Neukonstitution des Städtischen zu suchen. Was kann Stadt jenseits quantitativer Merkmale und jenseits der physischen Gegebenheiten bedeuten? Dabei geht es nicht darum, die Qualitäten baulich-räumlicher Aspekte zur Disposition zu stellen, sondern den Stadtbegriff zu erweitern. Wenn das Gebaute angesichts von Leerstand und Abriss keine Identifikationsmöglichkeiten mehr bietet, ist das Städtische bzw. die Werte, die mit dem Städtischen verbunden werden können, in anderen Bereichen zu eruieren. Werte, verstanden als "emotional stark besetzte Vorstellungen über das Wünschenswerte"16, sind in diesem argumentierten Sinn notwendige Voraussetzung, um ein positives Zukunftsbild von Stadt jenseits von Wachstum und ergänzend zum Gebauten entwickeln zu können.

Denkanstöße für eine Befreiung aus der normativen Logik von Wachstum und Gebautem und für eine Weiterentwicklung des Stadtbegriffs könnten dabei handlungsorientierte Konzepte geben. Die physischen Strukturen können allein nicht zur Entwicklung eines positiven Verständnisses von Stadt beitragen, sie sind sogar selbst Ursache für die Identifikation einer Krise. Insofern ist zu fragen, wo bei der Erweiterung des Stadtverständnisses anzusetzen ist, wenn nicht beim Gebauten. Das Potenzial, dass eine schrumpfende Stadt bei allem Leerstand immer hat, sind ihre Bewohner und deren Wünsche, kreatives Potenzial etc. Im Kontext abnehmender Steuerungsfähigkeit von Staat und Kommunen wird Stadtentwicklung zukünftig verstärkt durch ein Mitwirken der Bewohner gestaltet werden müssen. Die transdisziplinäre Einbeziehung der Bewohner bewirkt jedoch ein pluralistisches Vorgehen, dass in seinem Ausgang nicht immer absehbar ist.

Bei der Erweiterung des Stadtbegriffs kann die Stadttheorie an aktuellen Forschungsansätzen anderer Disziplinen partizipieren, wo handlungstheoretische Überlegungen an Bedeutung gewonnen haben. So entwickelte die Soziologin Martina Löw einen Raumbegriff, nach dem Raum einerseits im Handeln entsteht und andererseits räumliche Strukturen das Handeln beeinflussen.17 Jürgen Hasse hat aus Sicht der Stadtgeografie in zahlreichen Beiträgen aufgezeigt, dass eine Einbeziehung menschlicher Gefühle zu einer Gegenstandsdifferenzierung führen würde. "Stadt wäre in diesem Sinne auch (neben anderen Formen ihrer Präsenz) als ein im Erleben sich konstituierender Raum zu begreifen".18 Doch die Stadtforschung kann bei der Suche nach einem erweiterten Stadtbegriff durchaus auch an eigene, historische Ansätze anknüpfen. Eduard Führ hat darauf hingewiesen, dass sich für die 1960er Jahre einige Konzepte finden lassen, die angesichts rationaler Planungseuphorie und wachstumsbedingter, funktionalistischer Siedlungsvorhaben nach einem alternativen Stadtverständnis suchten bzw. in der "Kulturalisierung des Alltags"19 die eigentliche Aufgabe für Städtebau und Stadtplanung sahen.

Kultureller Reichtum
Angesichts der Ausbreitung moderner Transport- und Kommunikationssysteme und der damit verbundenen Verringerung der Raumdistanzen argumentierte Melvin M. Webber in einem 1964 veröffentlichten Aufsatz, dass Urbanität und Stadt nicht länger identisch sind. Auch wenn Webbers Überlegungen im Kontext der amerikanischen Suburbanisierungsprozesse zu lesen sind, bieten sie interessante Anhaltspunkte. Bei der Suche nach Möglichkeiten, die einseitige Fokussierung der Planungsdisziplin auf das Baulich-Räumliche aufzuheben, skizzierte er einen Index des kulturellen Reichtums. Dieser bemisst sich nicht durch herkömmliche Indikatoren wie beispielsweise das Pro-Kopf-Einkommen, sondern wird durch Komponenten gebildet, die sich nicht in Wirtschaftlichkeit festhalten lassen – ein Beispiel ist die Vielfalt an sozialen Interaktionen. Urbanität lässt sich für Webber unter anderem auf Basis des Indexes als Fähigkeit quantitativ und qualitativ am kulturellen Leben teilhaben zu können bzw. als quantitative und qualitative Zugänglichkeit zu Informationen definieren. "Most important of all, it might encourage us to see urbanity – the essence of urbanness – not as buildings, not as land use patterns, not as large, dense, and heterogeneous population aggregations, but as a quality and as a diversity of life that is distinct from and in some measure independent of these other characteristics. Urbanity is more profitably conceived as a property of the amount and the variety of one´s participation in the cultural life of a world of creative specialists, of the amount and the variety of the information received".20 Webbers Schlussfolgerung besteht darin, den tradierten Fokus auf die physische Form der Stadt und auf ein statisches Artefakt-Verständnis zugunsten der Kategorien Zugänglichkeit, Kommunikation und Interaktion zu revidieren.

Situationsdichte
1963 formulierte die Architektengruppe Archigram mit "Living City" ein Konzept, das dem Situativen, Spontanen und Flüchtigen eine Gleichberechtigung gegenüber dem Gebauten einräumt.21 Die Situationen können in Abhängigkeit vom subjektiven Wahrnehmungsvermögen eines Individuums, von seiner Fähigkeit zur Kreativität, seiner momentanen Stimmung, seinen Erfahrungen und persönlichen Handlungszielen erzeugt werden. Damit verweisen Archigram auf handlungsorientierte Aspekte für das Städtische. Mit dem Konzept "Instant City" (1969) erstellten Archigram ein Programm, wie diese städtische Lebendigkeit in peripheren Kleinstädten erzeugt werden kann. Veranstaltungen, Ausstellungen oder Bildungsprogramme sollen eine städtische Dynamik erzeugen und vorhandene Aktivitäten miteinander vernetzen. Ziel ist die Verwandlung der Stadt durch Infiltration und die Initiierung von Urbanität. Archigram knüpfte mit diesen Stadtkonzepten an die Gedanken der Situationisten an. Deren "unitärer Urbanismus" basiert auf der Konstruktion von Situationen.22 Diese sollen Stimmungen und Handlungsmöglichkeiten erzeugen, die in Wechselwirkung mit dem gebauten Raum stehen. Um diese Beziehungen zwischen dem gebauten Raum und den individuellen Empfindungen untersuchen zu können, entwickelten die Situationisten die Methode der Psychogeografie. Neben dem Verfahren des Umherschweifens (dérive), mit dem die psychischen Zonen einer Stadt erfasst werden sollten, war die Zweckentfremdung (détournement) von Vorgefundenem ein Mittel, kreativ Situationen zu konstruieren und Räume umzufunktionieren.

Bei der Erweiterung des Stadtbegriffs kann die Stadtforschung ganz aktuell auch auf verschiedene, vor allem kulturelle Projekte im Umgang mit den Schrumpfungsprozessen zurückgreifen. In der alltagspraktischen Auseinandersetzung mit den stadtregionalen Entwicklungen lässt sich jenes prozessuale und vielschichtige Stadtverständnis finden, dass die Forschung noch nicht theoretisch abstrahiert hat. Projekte, wie das Hallenser "Hotel Neustadt" sind Beispiele für temporäre, kulturelle Interventionen, die bewusst oder unbewusst an die Konzepte der 1960er Jahre anknüpfen und Anregungen für die Findung neuer Werte und Bedeutungen des Städtischen bieten.

So fand in Halle an der Saale im September 2003 in einem 18-geschossigen Scheibenhochhaus ein internationales Theaterfestival statt. Das leer stehende Gebäude war Bühne, Ort künstlerischer Inspiration und Hotel zugleich. In Zusammenarbeit mit Neustädter Jugendlichen, internationalen Künstlern und dem Ensemble des Thalia-Theaters wurde das Leben in Großwohnsiedlungen, der Leerstand und seine Auswirkungen auf die Alltagswahrnehmung der Hallenser in Aktionen, die weit über den schauspielerischen Aspekt des Theaters hinaus gingen, thematisiert: Bestandteile des Hochhauses wurden zu einer Minigolf-Anlage umfunktioniert, Stadtführungen vermittelten den Anwohnern neue bzw. längst vergessene Perspektiven auf ihr Quartier, Erinnerungen der Bewohner wurden dokumentiert, die Zimmer des temporären Hotels von Jugendlichen des Stadtteils in Eigeninitiative gestaltet.23

Das Planungsbüro complizen entwickelte im Rahmen des Projektes "Hotel Neustadt"24 das Konzept sportification. Hier wird die gesellschaftlich zunehmende Freizeitorientierung mit dem Gebäudeleerstand kreativ verbunden. Dem Büro complizen "geht es um die Frage, wie viel Spaß, Sport und Eigeninitiative Stadtplanung zulässt und vor allem darum, wie Stadt oder Architektur in neue Sportarten integriert werden können."25Sportification entwickelt aus der gegebenen Situation heraus neue Sportarten, die auch nur in leer stehenden Gebäuden verwirklicht werden können. Leerstand wird so zu einer gesuchten Qualität. In organisierten Events wird Jugendlichen die Möglichkeit gegeben, die städtebaulichen Ressourcen sportlich zu nutzen und den Stadtraum auf neue Weise wahrzunehmen und sich anzueignen. So wurde in Halle an der Saale die Sportart "Hochhausfrisbee" erfunden. Dabei stehen die Mitspieler auf den Dächern von Hochhäusern und werfen sich die Frisbeescheibe von Dach zu Dach zu. Durch Sportarten wie Hochhausfrisbee können die Jugendlichen die Stadt spielerisch erkunden und auch neue sportliche Aneignungsformen entwickeln. Indem Handlungsweisen den gegebenen Bedingungen spontan angepasst werden, entsteht aus der Situation heraus eine kreative Handlung, die so im Vorfeld vielleicht gar nicht beabsichtigt war. Im Ergebnis ist jedoch eine Sportart entstanden, die die Funktion des Hochhauses vom Wohngebäude in ein sportliches Betätigungsfeld abändert und auf diese Weise die negative Konnotation des Leerstandes in eine gesuchte Qualität transformiert.

Schrumpfung – Neuschöpfung des Städtischen
Die Schrumpfungsprozesse und ihre Folgen offenbaren die Bedeutungsverschiebung von baulich-räumlichen und quantitativen hin zu soziokulturellen, qualitativen und handlungsorientierten Aspekten einer Stadt. Die Stadtkonzepte der 1960er Jahre wie auch aktuelle kulturelle Projekte in Ostdeutschland zeigen die Schwierigkeiten der Machbarkeit und nachhaltigen Verfestigung kultureller Interventionen im Alltag auf. Die Diskussion, ob das Städtische sich lediglich im Temporären, von "externen" Künstlern Initiierten manifestiert, oder langfristig auf den Wunschbildern und dem Engagement der Bewohner basiert, steht noch am Anfang. Doch dies ist schon der zweite Schritt. Vorerst gilt es, eine grundsätzliche Diskussion über das Städtische und die damit verbundenen Auffassungen in Theorie und Praxis zu führen. Die Erweiterung um handlungsorientierte Aspekte würde zu einem prozesshaften und vielschichtigen Stadtbegriff führen, der auf theoretischer Ebene schwer zu fassen ist. Nach diesem Verständnis entsteht Stadt durch Interaktionen zwischen verschiedenen Akteuren im städtischen Raum oder durch das Wechselspiel von Bewohnern und gebauter Umwelt.

Unsere disziplinären Vorstellungen, was Stadt ist, stehen auf dem Prüfstand. Die Schrumpfungsprozesse bieten der Stadtforschung die Chance, den Stadtbegriff aus der normativen Logik von Wachstum und Gebautem zu befreien und um neue Qualitäten zu erweitern. In diesem Sinne kann Schrumpfung durchaus auch eine Neuschöpfung des Städtischen darstellen. Dazu bedarf es jedoch eines veränderten Blickwinkels und der Suche nach neuen Werten. Dies ist keine alleinige Aufgabe von Stadttheorie und Stadtplanung, sondern stellt eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar. Die Entlehnung eines (auf die Welt bezogenen) Ausspruches von Merleau-Ponty mag aufzeigen, wo der Weg hinführen kann: "Die [Stadt] ist nicht, was ich denke, sondern das, was ich lebe […]."26

Anne Brandl (vorm. Anne Pfeifer), Dipl.-Ing. Stadt- und Regionalplanung, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ETH Zürich und tätig im Forschungsprojekt "Städtebauliche Entwurfsstrategien für suburbane Räume" am Institut für Städtebau. Forschungsschwerpunkte: Stadt- und Planungstheorie im Kontext von Schrumpfungsprozessen, Mitherausgeberin des wissenschaftlichen Online-Magazins "Städte im Umbruch", <http://www.schrumpfende-stadt.de>, E-Mail: brandl@nsl.ethz.ch

Literaturempfehlungen:

Zum Thema "Schrumpfung"
Brandstetter, Benno; Lang, Thilo; Pfeifer, Anne, Umgang mit der schrumpfenden Stadt – ein Debattenüberblick, in: Berliner Debatte 16 (2005), 6, S. 55-68.
Bundestransferstelle Stadtumbau Ost, Statusbericht. Stadtumbau Ost – Stand und Perspektiven, Berlin, Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS), Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) 2006.
Hager, Frithjof; Schenkel, Werner (Hgg.), Schrumpfungen. Chancen für ein anderes Wachstum. Berlin 2000.
Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter, Die schrumpfende Stadt und die Stadtsoziologie, in: Friedrichs, Jürgen (Hg.), Stadtsoziologie, Opladen 1988, S. 78-94.
Kaufmann, Franz-Xaver, Schrumpfende Gesellschaft, Frankfurt am Main 2005.
Kil, Wolfgang, Luxus der Leere, Wuppertal 2004.
Nagler, Heinz; Rambow, Riklef; Sturm, Ulrike (Hgg.), Der öffentliche Raum in Zeiten der Schrumpfung (edition stadt und region 8), Berlin 2004.
Oswalt, Philipp (Hg.), Schrumpfende Städte. Internationale Untersuchung, Bd. 1, Ostfildern-Ruit 2004.
Oswalt, Philipp (Hg.), Schrumpfende Städte. Handlungskonzepte, Bd. 2, Ostfildern-Ruit 2005.

Zum Thema "handlungsorientierte und lebensweltliche Konzepte"
Cook, Peter (Hg.), Archigram, Basel 1991.
Hasse, Jürgen, Das Vergessen der menschlichen Gefühle in der Anthropogeographie, in: Geographische Zeitschrift 87 (1999), S. 63-83.
Joas, Hans, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main 1996.
Levin, Thomas Y., Geopolitik des Winterschlafs: Zum Urbanismus der Situationisten, in: Wolkenkuckucksheim 2 (1997), <http://www.tu-cottbus.de/BTU/Fak2/TheoArch/Wolke/X-positionen/Levin/levin.html> (23.08.2006).
Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001.
Webber, Melvin M., The Urban Place and the Nonplace Urban Realm, in: Ders.; Dyckman, John W.; Foley, Donald L.; Guttenberg, Albert Z.; Wheaton, William L. C.; Bauer Wurster, Catherine, Explorations into Urban Structure, London 1964, S. 79-153.

Zum Thema "Wachstum"
Lutz, Burkart, Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt am Main 1984.

Anmerkungen:
1 Uchatius, Wolfgang, Häuser zu Steinmehl, in: Die Zeit 18 (2001).
2 Kil, Wolfgang, Luxus der Leere, Wuppertal 2004.
3 Dieckmann, Christoph, Die schwindende Stadt, in: Die Zeit 27 (2001).
4 Brandstetter, Benno; Lang, Thilo; Pfeifer, Anne, Umgang mit der schrumpfenden Stadt – ein Debattenüberblick, in: Berliner Debatte 16 (2005), 6, S. 55-68.
5 Bürkner, Hans-Joachim; Kuder, Thomas; Kühn, Manfred, Regenerierung schrumpfender Städte. Theoretische Zugänge und Forschungsperspektiven. Working Paper des Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS), Erkner 2005, S. 12.
6 Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter, Die schrumpfende Stadt und die Stadtsoziologie, in: Friedrichs, Jürgen (Hg.), Stadtsoziologie, Opladen 1988, S. 78-94.
7 Vgl. Wirth, Louis, Urbanität als Lebensform, in: Herlyn, Ulfert (Hg.), Stadt- und Sozialstruktur, Nymphenburger Verlagshandlung 1974 (Original 1938), S. 42-66.
8 Lutz, Burkart, Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt am Main 1984.
9 Huber, Benedikt, Stadtplanung ohne Wachstum, in: DISP 41 (1976), S. 31-36.
10 Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 48.
11 Siebel, Walter, Die europäische Stadt, in: Ders. (Hg.), Die europäische Stadt, Frankfurt am Main 2004, S. 11-50, bes. S. 16.
12 Bundestransferstelle Stadtumbau Ost, Statusbericht. Stadtumbau Ost – Stand und Perspektiven, Berlin, Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS), Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) 2006, S. 11.
13 Lütke Daldrup, Engelbert, Die "perforierte Stadt" – Neue Räume im Leipziger Osten, in: Informationen zur Raumentwicklung (2003), 1/2, S. 55-67.
14 Dürrschmidt, Jörg, Über die Krise städtischer Öffentlichkeit, in: Oswalt, Philipp (Hg.), Schrumpfende Städte. Handlungskonzepte, Bd. 2, Ostfildern-Ruit 2005, S. 676-682.
15 Dürrschmidt, Jörg, Schrumpfung in den Köpfen, in: Oswalt, Philipp (Hg.), Schrumpfende Städte. Internationale Untersuchung, Bd. 1, Ostfildern-Ruit 2004, S. 274-279, bes. S. 275.
16 Joas, Hans; Wiegand, Klaus, Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt am Main 2005, S. 15.
17 Löw, Raumsoziologie (wie Anm. 10).
18 Hasse, Jürgen, Das Vergessen der menschlichen Gefühle in der Anthropogeographie, in: Geographische Zeitschrift 87 (1999), 2, S. 63-83, bes. S. 80.
19 Führ, Eduard, Wir bauen wieder – "Rückbau" der Städte oder Umbau der Disziplin, in: Nagler, Heinz; Rambow, Riklef; Sturm, Ulrike (Hgg.), Der öffentliche Raum in Zeiten der Schrumpfung (edition stadt und region 8), Berlin 2004, S. 129-146, bes. S. 141.
20 Webber, Melvin M., The Urban Place and the Nonplace Urban Realm, in: Ders.; Dyckman, John W.; Foley, Donald L.; Guttenberg, Albert Z.; Wheaton, William L. C.; Bauer Wurster, Catherine, Explorations into Urban Structure, London 1964, S. 79-153, bes. S. 88.
21 Cook, Peter (Hg.), Archigram, Basel 1991.
22 Levin, Thomas Y., Geopolitik des Winterschlafs. Zum Urbanismus der Situationisten, in: Wolkenkuckucksheim 2 (1997), 2, <http://www.tu-cottbus.de/BTU/Fak2/TheoArch/Wolke/X-positionen/Levin/levin.html> (23.08.2006).
23 Hilliger, Andreas, Theater als urbane Intervention, in: Oswalt, Schrumpfende Städte (wie Anm. 14), S. 366-371.
24 <http://www.hotel-neustadt.de> (23.08.2006).
25 <http://www.sportification.net> (23.08.2006).
26 Merleau-Ponty, Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 14.

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