P. Weber: Gescheiterte Sozialpartnerschaft

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Titel
Gescheiterte Sozialpartnerschaft – Gefährdete Republik?. Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich (1918-1933/39)


Autor(en)
Weber, Petra
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 77
Erschienen
München 2010: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
IX, 1245 S.
Preis
€ 128,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Ruck, Politikwissenschaft und Zeitgeschichte, Universität Flensburg

Von den späten 1970er- bis in die frühen 1990er-Jahre hatte die politische Sozialgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung Konjunktur. Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen im Kontext der sozialstaatlichen Entwicklung, vor allem auch in Kaiserreich und Weimarer Republik, waren ein bevorzugter Forschungsgegenstand. Transnational vergleichende Studien hat dieser kleine Boom allerdings kaum hervorgebracht, bevor er im Vorfeld der Jahrtausendwende rasch wieder verebbte. Selbst die Gewerkschaftsbewegungen Großbritanniens und Frankreichs wurden kaum einmal vergleichend mit der deutschen in den Blick genommen. Für die organisierte Unternehmerschaft gilt das ohnehin.

Die von Petra Weber im Rahmen eines vom Institut für Zeitgeschichte getragenen Forschungsvorhabens über die (In-)Stabilitätsbedingungen der Demokratie in Frankreich und Deutschland während der Zwischenkriegszeit erarbeitete große Vergleichsstudie rückt mithin ein wirkliches Forschungsdesiderat in den Blick. Sie beschäftigt sich mit den "Interdependenzen zwischen Sozialstaat und Demokratie" beiderseits des Rheins. Gefragt wird zum einen danach, "ob und in welchem Ausmaß der Staat sich als sozialer Interventionsstaat verstand, welche Grenzen seiner Rolle als Konfliktvermittler gesetzt waren und inwieweit er durch den Ausbau des sozialen Netzes und seine Schlichterrolle in den Tarifkonflikten in den Strudel der sozialen Konflikte gerissen wurde". Zum anderen wird der Versuch unternommen, im Rahmen einer komparativen "Geschichte der industriellen Beziehungen" eine (Konflikt-)"Geschichte der Gewerkschaftsbewegung und der Arbeitgeberverbände" zu schreiben. Deren Themenspektrum umfasst "ihre Organisation, ihre Programmatik, ihre Mentalität, ihre Macht gegenüber dem jeweiligen Sozialkontrahenten sowie ihr[en] Aktionsradius und ihr Verhältnis zur Republik" (S. 8f.). Als Akteure behandelt werden vor allem die sozialistischen Dachverbände Confédération Générale du Travail (CGT) und Allgemeiner Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) nebst ihren Einzelgewerkschaften sowie die in beiden Staaten stark zerklüfteten Unternehmer- bzw. Arbeitgeberorganisationen.

Allgemein betrachtet Weber die "wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen politischer Entwicklungen" aus der Perspektive einer "politischen Sozialgeschichte" (S. 3). Diese "historisch-genetische Tiefenanalyse, die Struktur- und Ereignisgeschichte themenspezifisch verbindet", soll die Besonderheiten der "parallelen industriellen Beziehungen in beiden Ländern" verdeutlichen. Dabei ist ihr durchaus bewusst, dass die "parallele Untersuchung von Nachbargesellschaften in derselben historischen Epoche" im Sinne Marc Blochs (S. 2f.) prinzipiell keine Befunde hervorzubringen vermag, die sozialwissenschaftlichen Validitätskriterien genügen könnten. Um dieses allfällige Manko zumindest abzuschwächen, wirft sie zwar immer wieder komparative Seitenblicke auf das Vereinigte Königreich. Einen systematischen Vergleich der unterschiedlichen Entwicklungen in Deutschland und Frankreich mit dem stärker zivilgesellschaftlich geprägten Szenario in Großbritannien indessen hat Weber schon aus forschungspragmatischen Gründen nicht in Angriff genommen, zumal ihr bereits der transnationale Zweiervergleich erhebliche "Opfer an Differenziertheit" (S. 7) abverlangt habe.

Allerdings hat Weber dieses Opfer nur halbherzig erbracht. Davon zeugen 1.120 eng bedruckte, durchweg flüssig lesbare Textseiten mit 6.034 Anmerkungen wie auch das 106 Seiten umfassende Quellen- und Literaturverzeichnis. Sie dokumentieren eine eindrucksvolle Rezeptions- und Gestaltungsleistung, wie sie nur in vieljähriger, intensiver Forschungsarbeit erbracht werden kann. Dieser enorme Aufwand wird jedoch durch die Ergebnisse nur bedingt gerechtfertigt. In der Abfolge detailreicher, häufig monografisch anmutender Teilstudien mit raum-zeitlichen Schwerpunkten gerät oftmals die "große Linie" aus dem Blick. Das Erkenntnispotential einer systematischen Vergleichsstudie wird aber auch deshalb bei weitem nicht ausgeschöpft, weil Petra Weber ihre selbst formulierte Grundmaxime nicht beherzigt hat: "Der Vergleich fördert diametrale Unterschiede zutage, die erklärt werden müssen" (S. 12). Doch Weber setzt ihren ausdrücklichen "Verzicht auf die Verwendung eines vorgegebenen ahistorischen Modells" (S. 6) – längst ein Popanz! – so konsequent um, dass eine thesenartige Verdichtung ihrer empirischen Befunde nirgends stattfindet. Auch im 30-seitigen Schluss werden die sieben Kapitel nicht einmal ansatzweise zu generalisierenden Folgerungen und Thesen gebündelt.

Das ist besonders schade, weil es die eingangs formulierten Problem- und Fragestellungen sehr wohl erlaubt hätten, die Fülle des ausgebreiteten Materials erkenntnisorientiert zu verdichten. Erst im allerletzten Absatz ihrer Darstellung gibt Weber diese Zurückhaltung für einen Moment auf, als sie den Blick flüchtig auf die Gegenwart richtet. Damit soll keineswegs gesagt werden, Petra Weber habe einen unreflektierten Faktenbericht monumentalen Ausmaßes produziert. Tatsächlich formuliert der Text eine Fülle bedenkenswerter Einsichten zu allen möglichen Aspekten ihres Themas. Doch zu den übergreifenden Fragen nach dem jeweiligen "Grad der Modernisierung" im Allgemeinen und der Rolle "unterschiedlicher sozialstaatlicher Traditionen" vor dem Hintergrund "gemeineuropäischer Krisenphänomene" (S. 4) im Besonderen bleibt sie systematisierende Antworten schuldig.

Der Gang der Untersuchung und deren Erträge können hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet und gewürdigt werden. Der inhaltlichen Fokussierung auf die Organisationen der Kontrahenten im industriellen Konflikt entspricht die territoriale Konzentration auf dessen wichtigste Schauplätze: in Deutschland die industriellen Ballungszentren in Rheinland-Westfalen, Sachsen und Groß-Berlin, in der Französischen Republik deren Pendants um Paris und Lyon sowie im Norden und Osten des Landes. In sachlicher Hinsicht liegt Webers Hauptaugenmerk jeweils auf dem Verhalten der Sozialkontrahenten in den Verteilungs- und Versorgungskonflikten der Nachkriegszeit, insbesondere Streiks und Aussperrungen, auf den dabei zutage tretenden Mentalitäten sowie auf der Entwicklung der innerbetrieblichen Machtverhältnisse und des Arbeitsmarktes. Auf der Zeitachse orientiert sich Weber in ihrer Kapiteleinteilung strikt an den Phasen und Zäsuren der politischen Ereignisgeschichte: Vorkriegs- und Kriegszeit, Demobilisierungs- und Inflationskrise, relative Stabilisierung nach dem Desaster des Ruhrkampfes, Weltwirtschaftskrise und Deflationsregime, asynchroner Zusammenbruch der parlamentarischen Demokratie in Deutschland (1932/33) und Frankreich (1939/40).

Im Deutschen Reich verschlossen sich SPD und Freie Gewerkschaften während der Revolution 1918/19 allen Forderungen nach einer grundlegenden Neuordnung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse mit dem Ziel, die kapitalistische Unternehmerwirtschaft durch ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem sozialistischer Prägung zu ersetzen. Im Gegenzug akzeptierten bürgerliche Parteien und Unternehmer die sozialstaatliche Ausgestaltung der demokratischen Republik. Seinen Niederschlag fand dieser "Weimarer Sozialstaatskompromiss" (Werner Abelshauser) praktisch in den sozialpolitischen Reformen der ersten Monate nach dem Novemberumsturz – darunter vor allem die Arbeitszeitbegrenzung und die staatliche Erwerbslosenfürsorge – und normativ durch die Artikel 151 bis 165 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919. Darin wurde auch jenes Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen nochmals staatlich sanktioniert, mit dem die deutschen Arbeitgeber die Gewerkschaften im November 1918 als Partner des kollektiven Interessenausgleichs auf paritätischer Grundlage anerkannt hatten. Zwar distanzierten sich maßgebliche Teile des Unternehmerlagers schon bald von dieser "Revolutionsversicherung", doch auch über die Inflationskrise hinweg hielt der demokratische Staat die Arbeitnehmerorganisationen als formal gleichberechtigte Partner des tripartistischen Korporatismus auf dem Feld der Arbeitsbeziehungen und der Sozialpolitik im Spiel. Diese Ära endete im Sommer 1932, als der kurzzeitige Reichskanzler Papen sich unter der bizarren Parole "Schluss mit der Herrschaft der Gewerkschaftssekretäre!" anschickte, jene Ruinen der republikanischen Sozialpolitik abzuräumen, welche das Brüningsche Notverordnungsregime hinterlassen hatte. Anstelle der von Schleicher angestrebten korporatistischen Krisenbewältigung unter autoritären Vorzeichen kam es nach seinem Sturz zu einer totalitären Reorganisation der Arbeitsbeziehungen im NS-Staat. Damit wurde ein gewaltsamer Schlusspunkt unter jene Erosion des Tarifvertragssystems gesetzt, die von der staatlichen Zwangsschlichtung der 1920er-Jahre über die Brüningschen Notverordnungen bis hin zu Papens Anschlag vom September 1932 vorangeschritten war.

In der Französischen Republik hielten die staatlichen Institutionen auch nach dem Ersten Weltkrieg lange an ihrer reservierten Haltung gegenüber der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung fest. Anders als in Deutschland dauerte hier das strukturelle Machtungleichgewicht zugunsten der Unternehmerseite bis über die Weltwirtschaftskrise hinweg im Wesentlichen fort. Erst als die Arbeiterbewegung nach dem Wahlsieg der Volksfrontparteien Mitte 1936 die politische Macht errang, schien es so, als könne in Frankreich eine sozialstaatlich flankierte Reform der Arbeitsbeziehungen nach dem freiheitlich-korporatistischen Vorbild der frühen Weimarer Republik durchgesetzt werden. Doch diese nachholende "Modernisierung der industriellen Beziehungen" (S. 1093) wurde schon im Herbst 1938 nach dem Zusammenbruch des gewerkschaftlichen Generalstreiks durch sozialpatriarchalische Unternehmer und autoritäre Regierung beendet, noch bevor das Vichy-Regime einen rigiden Staatskorporatismus etablierte, dessen traditionelle Grundlinien noch weit in die zweite Nachkriegszeit hineinwirkten.

Fazit: Petra Webers umfassende Recherche, differenzierte Rezeption und professionelle Präsentation einer enormen Menge an gedruckten und ungedruckten Quellen wie auch zahlloser Einzeltitel aus der deutschen, französischen und internationalen Forschungsliteratur, angereichert durch 37 aussagefähige Tabellen, ist in jeder Hinsicht eindrucksvoll und respektabel. Mit dem konsequenten Verzicht darauf, aus der überbordenden Fülle des detailreichen Fakten- und Ablaufberichts systematische Einsichten und generalisierende Thesen abzuleiten, die auch komparativ anschlussfähig für andere Länderstudien sein könnten, begibt sich die Autorin allerdings eines wesentlichen Teils des reichen Erkenntnispotentials ihrer monumentalen Forschungsleistung. Denn gerade diese weiterführenden Erträge sind es doch, welche den notorisch hohen Aufwand transnational vergleichender Studien zuvörderst rechtfertigen. Was bleibt, ist eine umfassende historiografische Bestandsaufnahme der kontrastreichen Arbeitsbeziehungen in den beiden größten kontinentaleuropäischen Industriestaaten während des ersten Drittels des "Jahrhunderts der Extreme", deren Status und bleibender Gebrauchswert als einschlägiges Handbuch durch die Beifügung eines Sach- und Ortsregisters noch gesteigert worden wäre.