: Krisen. Das Alarmdilemma. Frankfurt am Main 2011 : S. Fischer, ISBN 978-3-10-073607-9 251 S. € 19,95

Mergel, Thomas (Hrsg.): Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Frankfurt am Main 2011 : Campus Verlag, ISBN 978-3-593-39307-0 357 S. € 39,90

Meyer, Carla; Patzel-Mattern, Katja; Schenk, Gerrit Jasper (Hrsg.): Krisengeschichte(n). „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Stuttgart 2012 : Franz Steiner Verlag, ISBN 978-3-515-09659-1 432 S. € 65,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Henning Tümmers, Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnungen“, Eberhard Karls Universität Tübingen

Manche trifft sie früher, manche später. Einige – Individuen oder ganze Gesellschaften – werden wiederkehrend von ihr gebeutelt, andere begegnen ihr im Laufe ihres Daseins nur wenige Male. Scheinbar kann ihr niemand entkommen, gibt es ihrer doch so viele und ist sie Teil des menschlichen Lebens: Gemeint ist die „Krise“. Schenkt man den Massenmedien Glauben, so strotzt die Gegenwart geradezu vor Krisen. „Griechenland-Krise“, „FDP-Krise“, „Klimakrise“, „seelische Krisen“ – Krise ist für uns anscheinend immer und wohin das Auge reicht. Die exponierte Stellung dieses Begriffs in der Wahrnehmung der Deutschen wird dadurch illustriert, dass die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ die „Finanzkrise“ zum Wort des Jahres 2008 kürte. Mit Blick auf frühere Siegerbegriffe – 2007 war es die „Klimakatastrophe“ – entsteht der Eindruck, dass unser Hier und Jetzt sich insbesondere durch Unsicherheiten auszeichnet. Nicht zuletzt katalysiert durch den Zusammenbruch der Großbank Lehman Brothers haben sich in den letzten Jahren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen dem Phänomen „Krise“ genähert. Längst sind sie mit jener antiken, medizinischen Definition von „Krise“ vertraut, die eine Entscheidungs- beziehungsweise Übergangsphase bezeichnet und noch Jahrhunderte später Beachtung fand (und weiterhin findet). So rekurrierte beispielsweise Kurt Tucholsky 1927 auf dieses Konzept, als er schrieb: „Krise ist jener ungewisse Zustand, in dem sich etwas entscheiden soll: Tod oder Leben – Ja oder Nein.“1 Doch lässt sich diese Definition auch auf heutige Krisen übertragen? Haben sich frühere Gesellschaften ähnlich durch Krisen bedroht gefühlt und diese als allgegenwärtig perzipiert wie wir es heute tun? Wie eigentlich wird ein Ereignis zur „Krise“ und welchen Mehrwert hat der Terminus als wissenschaftlicher Analyse- und Leitbegriff? Diesen und anderen Fragen widmen sich drei neuere Publikationen, die unterschiedliche Zugänge wählen.

„Krisen verstehen“ – so lauten der Titel und das ambitionierte Ziel des von Thomas Mergel herausgegebenen Sammelbands, dessen Beiträge auf die Jahrestagung 2009 des Berliner Sonderforschungsbereichs 640 „Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel“ zurückgehen. Gleichwohl scheinen sich die Beteiligten schließlich doch ein wenig unsicher geworden zu sein, ob die Publikation dieses hoch gesteckte Ziel erreicht – so zumindest lässt sich der Untertitel interpretieren, der relativierend von historischen und kulturwissenschaftlichen „Annäherungen“ spricht. Tatsächlich wird enttäuscht, wer eine in Stein gemeißelte Definition des Krisenbegriffs für konkrete Zeiträume beziehungsweise für die „westliche Moderne“, die im Fokus steht, erwartet. Ob dies jedoch überhaupt zu leisten ist, bezweifelt der Herausgeber, der Krisen luzide als „Wahrnehmungsphänomene“ bezeichnet und damit den roten Faden für die übrigen Beiträge spinnt. In derartigen „Ausnahmezuständen“, so Mergel Krisencharakteristika benennend, herrsche Unsicherheit und offenbare sich die „Fragilität sozialer Konstruktionen“; gleichzeitig hafte Krisen in der Moderne jedoch auch „eine gewisse Normalität“ an (S. 10).

Anstatt eine eigene Definition zu entwickeln, greift der Herausgeber Reinhart Kosellecks Überlegungen zu „Kritik und Krise“ von 1954 (1959 in der Buchausgabe erschienen2) auf. Daran angelehnt erklärt er die Krise zur „Tochter der Kritik“ (S. 12), die das Selbstverständliche infrage stelle, indem sie neue Denkmöglichkeiten postuliere. Koselleck habe darüber hinaus auf zwei wichtige Aspekte hingewiesen: Erstens, dass Krisen kulturelle Konstrukte und insofern Wahrnehmungsphänomene darstellen, mit denen die Notwendigkeit schneller Entscheidungen einhergehe. Zweitens, dass sich wandelnde Vorstellungen von „Normalität“ und „Krise“ berücksichtigt werden müssen. Seit Beginn der Moderne sei nicht Stabilität „normal“, sondern die durch Irritation hervorgerufene Krise. „Krise“, bilanziert Mergel demzufolge, „ist eben tatsächlich immer, es sei denn, man stellt die Moderne still“ (S. 14). Mit dieser Beobachtung untrennbar verbunden sei die Frage nach der Beständigkeit sozialer Ordnungen in derartigen „liminalen“ Phasen des Übergangs. Der Begriff der Ordnung kann laut Mergel lediglich als „eine Augenblicksaufnahme im beständigen Prozess des Umbruchs gelten“ (S. 15). In Krisen, führt er weiter aus, eröffnen sich nicht nur für neue Akteure Handlungsmöglichkeiten, sondern es werden die Mechanismen sozialer Ordnungen – die durch die Krise selbst und Rituale gefestigt werden – sichtbar. Ferner, so betonen zahlreiche der Beiträge, setze die Krise Lern- und Entwicklungsprozesse in Gang, weshalb sie ein „notwendiger Bestandteil jeder dynamischen Gesellschaft“ (S. 239) sei.

Den einleitenden Ausführungen folgend, versuchen Forscherinnen und Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen, theoretische Zugänge zur Krise, Krisen „natürlicher“ Ordnungen wie Körper und Geschlecht (wobei kulturell codierte Vorstellungen des Natürlichen gemeint sind), Sprachkrisen/Krisensprache und „epistemische Krisen“ zu erörtern. Zudem wollen sie beantworten, ob es „Krisengesellschaften“ (Gesellschaften, in denen die Krise zur Normalität geworden sei) oder Gesellschaften ohne Krisen gäbe. All dies diene dazu, eine „kulturwissenschaftliche und historische Tieferlegung“ (S. 19) des Krisenbegriffs vorzunehmen. Diese Ziele werden leider nicht immer erreicht: So enttäuscht insbesondere das erste Kapitel, in dem Soziologen, Ökonomen und Ethnologen theoretische Zugänge zu Begriff und Verständnis der Krise diskutieren. Was man an dieser Stelle erwartet – Bausteine und Ansätze einer Krisentheorie – präsentieren die Autoren nicht. Stattdessen gewähren sie wissenschaftsgeschichtliche Einblicke in die Auseinandersetzungen ihrer Disziplinen mit Krisen, markieren große Forschungsdefizite und unterstreichen die Notwendigkeit neuer Zugänge. So konzediert Alexander Nützenadel, dass die Standardmodelle der Wirtschaftswissenschaften die Weltwirtschaftskrise des 21. Jahrhunderts nicht vorhersehen konnten. Um tote Winkel zu beseitigen, müsse man die Ansätze der „Behavioural Economics“ aufgreifen, die Emotionen, subjektive Wahrnehmungen und kulturelle Prägungen in das Handeln der Wirtschaftsakteure integrieren, der räumlichen Dimension von Krisen Beachtung schenken und Wirtschaftskrisen historisieren.

Jenseits solcher Defizitanalysen kommen Stefan Beck und Michi Knecht zu dem Ergebnis, dass in der Ethnologie Krisen bislang als „heuristische Glücksfälle“ (S. 74) genutzt wurden, um Persistenz und Wandel sozialer Ordnungen sowie die Rolle von Ritualen in Umbruchphasen zu analysieren. Die dadurch entstehenden Ordnungspraktiken seien ein „Ergebnis von Reibung in ungewohnten Konstellationen“ (S. 69), von außergewöhnlichen Relationen zwischen Gruppen und Individuen: „Krisen rufen deshalb immer in besonderem Maße zur Explikation des Gegebenen und des Neuen auf“ (S. 69). Die Vorstellung, es habe in nichtwestlichen Gesellschaften keine Krisen gegeben, sei eine „ethnozentrische Ideologie“ (S. 67).

Die Beiträge der folgenden drei Kapitel illustrieren sodann anhand moderner wie vormoderner, westlicher wie nichtwestlicher Krisen, dass unterschiedliche Gesellschaften und Kulturen verschiedene Wahrnehmungen auf außergewöhnliche Ereignisse besitzen können. Tsypylma Darieva bilanziert, ein „universell funktionierender Krisenbegriff“ in Zeiten der Globalisierung sei „utopisch“ (S. 79). Ferner würden selbst in Krisenzeiten soziale Ordnungen existieren, wenngleich die Krise Anlass zu Neuorientierungen biete. Der in ein bürgerliches Geschichtsverständnis eingepflegte Begriff der Krise könne „nicht ohne weiteres auf andere soziale Klassen oder andere kulturelle Kontexte“ (S. 102) übertragen werden, ergänzt Conrad Schetter. Dem Konfliktforscher zufolge sind soziale Ordnungen fortwährend existent. Sie bestünden aus einem Netz von Regeln und Ritualen, die das gesellschaftliche Leben strukturieren und sie korrespondieren mit normativen Ordnungen, die durch Weltanschauungen geprägt seien und soziale Ordnungen stabilisieren. Eine Krise, so Schetter, treffe nur bestimmte Bereiche der sozialen Ordnung. Sie sei kaum in der Lage, das Gesamtgefüge auszuhebeln.

Insgesamt plausibilisieren die Beiträge des Sammelbands die These, wonach es sich bei Krisen um „Wahrnehmungsphänomene“ handele. Nichtsdestotrotz hätte man angesichts des Titels „Krisen verstehen“ hier und da mehr erwartet. Gerade im theoretischen Teil wäre eine dezidiertere Weiterentwicklung des letztlich doch recht diffus bleibenden Begriffs der Krise und der Ergebnisse Kosellecks wünschenswert gewesen – dies umso mehr, als Hartmut Kaelble die Grenzen dieses Krisenverständnisses in seinem Beitrag „Europa in der Krise“ lautstark betont: Die Krisenzuschreibungen Europas im 20. und 21. Jahrhundert seien nicht mit den Konzepten von Historikern in Einklang zu bringen, die einen Zusammenhang von Kritik und Krise konstatieren, sich insbesondere auf die Geschehnisse nach 1945 beziehen oder allein Nationalstaaten in den Blick nehmen. Krisen in internationalen Institutionen, so Kaelble, hätten andere Ursachen und Verlaufsformen und evozierten andere Reaktionen. Ferner verwundert, dass der Band kaum den Stellenwert von Emotionen diskutiert, von denen jedoch angenommen werden darf, dass sie in Krisen eine besondere Rolle spielen. Zwar tangiert Bernhard Giesens Abschlussbeitrag diesen Untersuchungsgegenstand, in dem er sich mit den sozialen und emotionalen Funktionen der Krisendeutung durch einzelne Akteure auseinandersetzt und zeitlose psychische Mechanismen von Angstübertragung und Unglücksfaszination herausarbeitet. Tiefer – etwa in der Form, dass er den Stellenwert bestimmter Gefühle analysiert – gehen seine Ausführungen indes nicht.

Auch Gerhard Schulzes Essay widmet sich dem boomenden Forschungsfeld „Krisen“, wobei er in „Krisen. Das Alarmdilemma“ vor allem auf die Wirkungen und Funktionsweisen der diesbezüglichen Diskurse fokussiert und mit dem Werk nicht nur Wissenschaftler/innen erreichen möchte. Seinen Ausgangspunkt bildet die Beobachtung, dass in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts immer und überall „Alarmstufe Rot“ (S. 7) ausgerufen werde und das Gefühl des bevorstehenden Untergangs das Reden über Krisen dominiere. Fortwährend seien, so der Soziologe und Zeitdiagnostiker, Menschen mit einem Dilemma konfrontiert: Sollen sie den Alarm ernst nehmen – und dabei mögliche Nachteile im Falle eines Fehlalarms riskieren – oder sollen sie ihn einfach ignorieren? Mit seiner Publikation möchte er in derartigen Fällen gewissermaßen Hilfestellung leisten, wobei er auf die Notwendigkeit hinweist, die „Moral der Krisenkommunikation“ (S. 17) und die Motive ihrer Akteure zu hinterfragen.

Auf Arbeiten von Robert Merton, Jürgen Habermas und Karl Popper rekurrierend diskutiert Schulze kritisch das Zustandekommen von Krisenalarm, Krisendiagnosen und „Messprobleme“ von „Experten“. Er weist auf die Selektivität in der Kausalitätssuche hin und beleuchtet die komplizierten Aushandlungsprozesse im Alarmfall. Gespickt mit bunten Beispielen stellt sein Buch letztlich ein eindringliches Plädoyer in Richtung Gesellschaft dar, Krisenkommunikation mit Skepsis und Kritik zu begegnen. Seinen zentralen Untersuchungsgegenstand definiert Schulze als ein Aussetzen des (sich durch wünschenswerte Wiederholungen konstituierenden) „Normalen“ für längere Zeit: „Von Krise spricht man [...] bei einer Störung wiederholter, ineinandergreifender Abläufe, und meist verbindet sich damit die Hoffnung auf Besserung und Rückkehr zu einem akzeptierten, gewünschten Normalzustand“ (S. 21). Schulze unterscheidet zwischen „Systemkrisen“ (Kriege, Umweltkrisen und Pandemien), die den alltäglichen Erfahrungshorizont eines Menschen überschreiten und „Lebensweltkrisen“ (Krankheit, Todesfälle), die sich dem Einzelnen unmittelbar erschließen.

Wie Thomas Mergel bezeichnet er Krisenwissen als subjektive Konstruktionen, als „Kommunikations- und Wahrnehmungsphänomen“ (S. 38), was erfordere, die Vorstellung des Kommunikators über „Normalität“ und dessen Modelle zur Diagnose und Ursachenforschung zu prüfen. Laut Schulze existiere in der anscheinend nie stillstehenden westlichen Moderne „zweierlei Normalität“: Eine „Ordnung des Aufenthalts“ und eine „Ordnung der Transformation“, die jeweils „Aufenthalts-“ und „Ordnungskrisen“ evozieren könnten, wobei der Blickwinkel des Beobachters die entsprechende Krise klassifiziere. Der Mensch der Gegenwart befinde sich „ständig auf dem Sprung, alte Ordnungen hinter sich zu lassen“ (S. 50). Der Wechsel von einer „Normalität“ zur anderen sei Gewohnheit geworden, sodass man im Grunde ständig in einer Vorkrisensituation lebe. Dieser Umstand führe indes zu einer „Krisendynamik neuer Art“ (S. 51), wobei „Improvisation, Symptomkur, Perfektionierung und Metamorphose“ (S. 180) Möglichkeiten seien, auf Krisen zu reagieren und die Gesellschaft zu stabilisieren.

Um sich mit der eigenen „Unruhe des Denkens“ in der Moderne zu arrangieren und sich Klarheit über das Bedrohungspotenzial einer „Krise“ zu verschaffen, so Schulzes abschließender – wenngleich redundanter – Rat, sei Folgendes nötig: „organisierte Skepsis, Paradigmen und die Bereitschaft sie wegzuwerfen, wenn sie ausgedient haben. Eine Haltung des Lernens ohne Ende“ (S. 208). Neben inhaltlichen Wiederholungen, die spätestens ab der Hälfte der Publikation bei dem Leser den Eindruck erwecken, dass die einleitenden Gedanken im Wesentlichen nur mit Beispielen ausgeschmückt werden, sei eine weitere kritische Bemerkung angeführt. Es geht dabei nicht um die Frage, inwieweit diese eher populärwissenschaftliche Publikation neue Impulse für die Analyse von Krisen liefert, sondern um die gewählte Darstellungsform des Essays mit all seinen Stärken und Schwächen. Denn während Schulze einerseits penibel prominente soziologische Studien zitiert, um seine Argumente zu stützen, finden sich als Prämissen seiner Argumentation andererseits eher intuitive, stark subjektive Behauptungen, deren Legitimität erst noch zu prüfen ist. Ob etwa Schulzes Ausführungen hinsichtlich des für ihn zentralen Begriffs „Skepsis“ – der ihm zufolge derzeit zu einem Synonym für „Zynismus“, „Sich-blöd-Stellen“, „Doppelmoral“ und „Bösartigkeit“ (S. 13) avanciert – mit der Wahrnehmung anderer kompatibel ist, erscheint zumindest diskussionswürdig.

Weniger auf einen pragmatischen Nutzen für die Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts zielend versteht sich der von Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern und Gerrit Jasper Schenk herausgegebene Sammelband „Krisengeschichte(n)“, der auf Vorträgen einer interdisziplinären Konferenz in Heidelberg 2009 basiert. Die Publikation widmet sich der „Krise“ als Leitbegriff historischer Deutung und narrativen Konstruktionen von „Krisengeschichten“. Während in der Krise Chaos herrsche und der Wendepunkt zum Guten oder Schlechten noch bevorstehe, bemerken Meyer, Patzel-Mattern und Schenk, versuche die Krisenkommunikation die komplexe Vielfalt und Offenheit der Situation, Ereignisse und Ursachen ordnend zu arrangieren. Insofern stelle (wie auch Thomas Mergel in seinem Band betont) die Verwendung des Krisenbegriffs ein Instrument gesellschaftlicher Selbstreflexion dar. Bezug nehmend auf die medizinische Terminologie versteht der Sammelband Krisen weniger als „Krankheit“ denn „Diagnose“ (S. 12). Was die Autoren und Autorinnen interessiert, sind Narrationsprozesse und Diskursstrategien, mit denen Krisen konstruiert werden. Was als krisenhaft gelte, sei nicht universell definierbar, sondern kulturell und historisch geformt, vom Beobachter abhängig und standortgebunden. Krisen seien überdies „kein spezifisch modernes Phänomen, wohl aber die heutigen Formen der Krisenerzählung, auf die ihrerseits überkommene Narrative einwirken“ (S. 14f.).

Mit der ersten Leitfrage des Sammelbands, inwiefern „Krise“ als tragfähige Analysekategorie in unterschiedlichen Disziplinen firmieren kann, setzen sich Forscherinnen und Forscher aus den Geschichtswissenschaften, der Ethnologie, der Soziologie, den Literaturwissenschaften und der Ökonomie auseinander: Für die Wirtschaftswissenschaften konstatieren Michael Hülsmann und Philip Cordes einen Theoriemangel, was präventives Handeln erschwere. Zwar sei es möglich, Merkmale von Krisen zu benennen (die Existenzgefährdung eines Systems, die Gefährdung dominanter Ziele, eine Ambivalenz des Krisenausgangs, den Prozesscharakter, die Steuerungsproblematik sowie Zeit- und Entscheidungsdruck) und Ereignisse vergleichend zu analysieren. Jedoch herrsche Unsicherheit, welche theoretischen Ansätze Krisen erklären können. Jan Marco Sawilla unterstreicht den Nutzen des Krisenbegriffs für Historikerinnen und Historiker, die damit soziale Wandlungsprozesse chronologisch gliedern, Ereignisse als abweichend vom „Normalzustand“ identifizieren sowie eine Vielzahl heterogener Prozesse, Ursachen und Wirkungen zusammenführen könnten. Das Konzept der Krise sei deshalb für die Geschichtswissenschaft „nahezu unersetzbar“ (S. 148). Problematisch gestalte sich jedoch die „limitierte analytische Reichweite“ des Begriffs: „Klarheit besteht in der Regel über das ‚Dass’ der Relationalität verschiedener Bezugsfaktoren, nicht unbedingt über das ‚Wie’ und über die Anordnung der Relationen“ (S. 166).

Von den Beiträgen, die sich der zweiten Leitfrage, der nach narrativen Strukturen von „Krisengeschichten“, widmen, besticht besonders der Artikel von Ansgar Nünning. Der Anglist entwickelt in dieser überarbeiteten Fassung einer früheren Publikation mithilfe des Ereignisbegriffs sowie Überlegungen Hayden Whites und Paul Ricoeurs erste Bausteine einer Metaphorologie und Narratologie, um den Konstruktionsprozess von Krisenreden analysieren, Krisen- von Katastrophendiskursen unterscheiden sowie die Repräsentationen realer Krisen von fiktionalen medialen Inszenierungen trennen zu können. Laut Nünning stellen Redeweisen über Krisen eine Form der Erzählung dar, die auf bestimmte, bereits vorhandene Erzählschemata aufbaut. Krisenmetaphern käme dabei die Funktion von „mininarrations“ (S. 133) zu, die ebenfalls ein bestimmtes Verlaufsmuster implizierten und zusammen mit Krisenplots dazu dienen, Zusammenhänge zu vereinfachen, das Chaos narrativ zu ordnen sowie Fremdes und Vertrautes aufeinander zu beziehen. An diese Überlegungen knüpfen Carla Meyer und Katja Patzel-Mattern an, die sich der Sallust-Rezeption im Spätmittelalter beziehungsweise der Berichterstattung über die BASF-Explosionsunglücke von 1921 und 1948 widmen: Meyer konstatiert die Übernahme antiker „master narratives“, unterstreicht zugleich aber die Modifikationsmacht zeitgenössischer Einflüsse auf die Logik von Krisenerzählungen im 15./16. Jahrhundert. Patzel-Mattern analysiert, wie das „unsagbare Grauen“ der Explosionen durch bestimmte Erzählmuster vermittelbar wurde und wie „Narrative der Nation, des Fortschritts und der Apokalypse“ (S. 265f.) Sinnstiftungen und Handlungsoptionen generierten.

Diesen für die Untersuchung von „Krisen“ konstruktiven Beiträgen stehen in den letzten beiden Kapiteln einige Artikel gegenüber, die zwar zentrale Aspekte von Krisen (wie die Deutung oder die Reaktion von Wissenschaftler/innen) thematisieren, jedoch weitgehend deskriptiv bleiben und versäumen, beispielsweise den Begriff des „Experten“ zu konturieren. Gleichwohl macht Cordia Baumann plastisch auf einen wichtigen Aspekt am Beispiel des Terrorismus der Roten Armee Fraktion und der Bonner Anti-Terror-Gesetze aufmerksam: dass unterschiedliche Krisendeutungen nicht nur zwischen verschiedenen Gesellschaften, sondern auch innergesellschaftlich auftreten. Auf einen ebenso wichtigen Punkt weist im Abschlussbeitrag auch Dominik Schaller hin, nämlich auf den Zusammenhang von „Krise“ und „Gewalt“. Historiker/innen, die ideologische Gründe für den Kolonialkrieg gegen die Herero und Nama 1904-1908 anführen, begegnet er mit situativen und sozialpsychologischen Erklärungen und stellt einen Konnex zwischen „chronischer Krisenstimmung“, diffusen Ängsten und Gewaltentfesselung her.

Alles in allem dokumentieren die drei Publikationen eine rege wissenschaftliche Tätigkeit, um sich dem Phänomen „Krise“ zu nähern. Wenngleich der Großteil der Autorinnen und Autoren eklatante Forschungslücken moniert, liefern sie doch selbst Impulse (nicht zuletzt für eine fächerübergreifende Zusammenarbeit), die zur weiteren Erhellung von „Krisen“ beitragen. Einigkeit besteht darüber, dass „Krisen“ konstruiert, über Kommunikation erfassbar, durch Beobachter mit einem Sinn versehen werden und Momente der Selbstvergewisserung darstellen (manchmal ist es aber auch erst der Historiker, der nachträglich ein Ereignis zur „Krise“ erhebt). Dass die Wahrnehmung „krisenhafter“ Geschehnisse insbesondere ein Spezifikum der Moderne sei, stellen die Publikationen infrage.

Des Weiteren ist in einzelnen Beiträgen das Verlangen spürbar, jenseits von Krisendefinitionen, die sich nur auf bestimmte historische Momente beziehen, ein übergeordnetes Krisenkonzept zu entwickeln. Ob sich dabei eher Kosellecks Ansatz oder jener der antiken Medizin bewährt, müssen nachfolgende Studien diskutieren. Sicher ist jedoch, dass Krisen auch in Zukunft Forscher beschäftigen werden, wobei es hinsichtlich einer Begriffsdefinition gewinnbringend erscheint, das Wort noch deutlicher als bisher geschehen von affinen Termini wie „Bedrohung“ oder „Risiko“ abzugrenzen, die Beziehungen dieser Begriffe zueinander herauszuarbeiten und Methoden zur Analyse der „Krisenkommunikation“ weiterzuentwickeln. Insofern ist es bedauerlich, dass gerade solche Vorträge, die sich 2009 auf der Konferenz „Krisengeschichte(n)“ mit den genannten Begrifflichkeiten auseinandersetzten 3, nicht im gleichnamigen Sammelband erscheinen. Insgesamt könnte der Blick stärker auf drei Aspekte gerichtet werden: Erstens auf den Zusammenhang von Krise und Gewalt, zweitens auf die Rolle von Emotionen wie „Angst“ und „Furcht“, aber auch „Hoffnung“ und „Resignation“. Schließlich sollte drittens die von Thomas Mergel aufgeworfene Frage, welche Faktoren im Krisenfall stabilisierend auf gesellschaftliche Ordnungen wirken, dezidierter untersucht werden, um Aussagen über die Qualität von Wandlungsprozessen nicht zu verzerren.

Anmerkungen:
1 Kurt Tucholsky, Deutsche Richter, in: Antje Bonitz / Sarah Hans (Hrsg.), Kurt Tucholsky. Gesamtausgabe, Band 12, Reinbek 2004, S. 156–168, hier S. 156.
2 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 1959.
3 Vgl. Julia Itin: Tagungsbericht zu: Krisengeschichte(n). „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, in: H-Soz-u-Kult, 25.09.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2782> (18.09.2013).

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