F. Kreff u.a. (Hrsg.): Lexikon der Globalisierung

Cover
Titel
Lexikon der Globalisierung.


Herausgeber
Kreff, Fernand; Knoll, Eva-Maria; Gingrich, Andre
Reihe
Global Studies
Anzahl Seiten
527 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Michael Facius, Freie Universität Berlin

Die Frage ist ja heute nicht mehr: Was gehört in ein Lexikon zur Globalisierung? Wenn Millionen Menschen in Deutschland schon zum Aufstehen auf seltene Erden aus China angewiesen sind, weil ohne diese der Smartphone-Wecker nicht klingelt und wenn geplatzte Hypotheken in der amerikanischen Provinz, verpackt in CDOs und andere obskure Finanzinstrumente, Währungen und Regierungen in Europa erschüttern - dann ist die Frage vielmehr, was gehört nicht in ein Lexikon zur Globalisierung? Orientierende Schneisen in ein derart wucherndes Phänomendickicht zu schlagen erscheint so nötig wie aussichtslos. Die drei Herausgebenden Fernand Kreff, Eva-Maria Knoll, Andre Gingrich und ihre Autorinnen und Autoren haben mit dem „Lexikon“ einen beachtenswerten Vorschlag vorgelegt.

Alle drei sind in der Wiener Sozial- und Kulturanthropologie verortet, schreiben aber mit dem Anspruch, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, die über die Grenzen der Disziplin und sogar der Hochschule hinausgeht: im weitesten Sinne alle, die „mit Globalisierungsauswirkungen konfrontiert“ (S. 9) sind, speziell Praktiker und Praktikerinnen aus Institutionen wie NGOs, den Medien, Wirtschaftsunternehmen oder Verwaltungen und Behörden. Bei der Entwicklung des Bandes haben die Herausgebenden ganz wörtlich Nähe zur Praxis hergestellt: sie luden Praktikerinnen und Praktiker zu einem Workshop ein und stellten ihre Textentwürfe zur Diskussion – ein Schritt, von dem sicher auch andere vergleichbare Projekte profitieren könnten. Aus naheliegenden Gründen waren die sechzehn am Workshop beteiligten Institutionen eher lokal als global im Wiener Umfeld angesiedelt. Von der Austrian Development Agency bis zur ORF Minderheitenredaktion decken sie aber eine große Bandbreite von Themen, Reichweiten und Organisationsformen ab.

Bei der Auswahl der insgesamt 145 Stichworte ist die Frage nach der Praxisorientierung weniger eindeutig zu beantworten. Das Rückgrat des Bandes bildet eine Reihe von Makrobegriffen. Die sind in wissenschaftlichen Kontexten gleichermaßen zu Hause wie in politischen und gesellschaftlichen Debatten und haben einen gleich ersichtlichen Globalisierungsbezug: Demokratisierung (Joanna Pfaff-Czarnecka), Fundamentalismus (Johann Heiss), Integration (Ayşe Çağlar), Kultur (Marshall Sahlins), Nationalismus (Thomas Hylland Eriksen), Rassismus (Peter Hervik u. Andre Gingrich), oder Terrorismus (Thomas Hauschild). Ein zweiter Satz von Begriffen ist stärker von aktuellen gesellschaftlichen Problemen her gedacht. Dazu gehören etwa Epidemien (Bettina Beer), Hedge-Fonds (Elmar Rieger u. Brigitte Fuchs), Indigene Rechte (René Kuppe) Interkulturelles Lernen (Susanne Binder), McDonaldisierung (Thomas Brüsemeister), Nachhaltigkeit (Wolfgang Marschall), Parallelgesellschaft (Barbara Herzog-Punzenberger) oder Tobinsteuer (Elmar Rieger).

Eine dritte Gruppe von Stichworten ist an soziologischen Problemstellungen orientiert, zum Beispiel Globale Risiken (Ulrich Beck), Konsumtion (Huub de Jonge), Lokal/Global (Andre Gingrich), Sprachsozialisation (Bambi B. Schieffelin u. Elinor Ochs), Transnationale Migration (Sabine Strasser) oder Weltgesellschaft (Rudolf Stichweh). Die letzte und insgesamt praxisfernste Begriffsfamilie entstammt der anthropologischen und kulturwissenschaftlichen Theorie und enthält Stichworte wie Cyborgs (Eva-Maria Knoll), Flexible Körper (Emily Martin), GrenzgängerInnen (Ines Kohl), Métissage (Fernand Kreff), Symbole und Imaginäres (Maurice Godelier) oder Visuelle Inszenierung (Mădălina Diaconu).

Wenn man die Stichworte so aufzählt und katalogisiert (im Band selbst sind sie alphabetisch angeordnet) deutet sich bereits an, dass sie auf recht unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind und lexikonintern eher Parallelgesellschaften ausbilden als eine Weltgesellschaft. Mitunter erscheint das Auswahlraster auch etwas unscharf. Ob im Rahmen eines Übersichtsbandes neben einem Eintrag zu Epidemien auch einer zu SARS (Mei Zhan) nötig ist? Warum dann nicht auch einer zur Schweinegrippe-Pandemie von 2009? Warum Internet (Martin Slama), nicht aber soziale Netzwerke? Und gleich vier Einträge zum Thema Moderne – Flüchtige Moderne (Alan Scott), Moderne (George E. Marcus), Multiple Modernen (Martin Slama) und Übermoderne (Fernand Kreff)? Die Auswahlprinzipien eines Übersichtswerks zu kritisieren hat zugegeben oft etwas Wohlfeiles – ich hätte trotzdem gern eine klarere redaktionelle Linie im Stichwortverzeichnis ausgemacht.

Die Herausgebenden haben sich bemüht, der Verschiedenheit der Einträge durch einen einheitlichen Aufbau gegenzusteuern. Die 102 als Haupteinträge ausgewiesenen, durchschnittlich drei bis vier Seiten langen Einträge sind in sechs Abschnitte unterteilt: eine grau unterlegte Kurzdefinition; einen Abschnitt mit verwandten Begriffen (der beispielsweise zum Eintrag Internet „Cyberspace“, „Virtualität“, und „virtuell/real, online/offline“ anbietet); eine Begriffsgeschichte; Abschnitte zur Diskussion und – ein Alleinstellungsmerkmal des Bandes – zu „Beobachtungen aus der Praxis“; und schließlich die Literaturangaben. Die klare formale Struktur übersetzt sich allerdings nicht in allen Einträgen in fokussierte und praxisrelevante Besprechungen.

Als Beispiel sei der Eintrag „Symbole und Imaginäres“ von Maurice Godelier herausgegriffen. In der Kurzdefinition wird das „Imaginäre“ eher behauptet als definiert: „Allen menschlichen Beziehungen […] liegen als essentielle Konstituenten imaginäre Wirklichkeiten zugrunde. Das Imaginäre verleiht ihnen Bedeutung […]“ (S. 364). Auch die Begriffsgeschichte tendiert stärker zum Name-Dropping als zur inhaltlichen Erhellung. Erwähnt wird die „wichtige Rolle des Symbolischen im Denken der Antike“ (welche?), Ernst Cassirers „philosophische Definition des Menschen als animal symbolicum“ (die besagt?) und seine Bedeutung sowohl „für die Kulturanthropologie in den USA als auch den Strukturalismus“ (nämlich?). So geht es weiter mit Jacques Lacan und Clifford Geertz, ohne dass die Leserin ein Gefühl dafür bekommt, was genau am Imaginären fasziniert und streitbar ist. Das wird in der Diskussion zum Teil nachgeholt. Der Autor nimmt dort jedoch vor allem auf seine eigenen Arbeiten Bezug, so dass kein rechter Überblick über Thema und Debatte entstehen mag. Im Abschnitt „Beobachtungen aus der Praxis“ geht es dann überraschend um das alte Ägypten und die Initiationsriten der Baruya auf Neuguinea. Wessen Praxis ist hier gemeint außer der von einer Handvoll Kulturanthropologen? Und wo ist der Globalisierungsbezug?

Dass Godelier ein bedeutender Anthropologe und ausgewiesener Experte für Theorien des Symbolischen und die Völker Papua-Neuguineas ist, steht außer Frage. Unstrittig ist wohl aber auch, dass ein Nachschlagewerk, das die „alltägliche Erfahrung von Globalisierung“ in den Vordergrund rücken und „für eine breite Öffentlichkeit“ (Buchrückseite) aufbereiten möchte, hier und in einigen anderen Beiträgen hinter dem eigenen Anspruch zurückbleibt. Es ist gar nicht gesagt, dass zwischen den Initiationsriten als symbolischer Praxis und Globalisierung kein Zusammenhang besteht. Bloß sollte es ein Lexikon nicht seinen Leserinnen und Lesern überlassen, diesen aus den Untiefen anthropologischer Forschung selbst zu bergen.

Die Grenzen einer Buchbesprechung erlauben leider keine ausführlichere Vorstellung, und so kann ich den vielfältigen Einträgen hier unmöglich gerecht werden. Im Gesamtbild macht sich aber die Sorge breit, das Lexikon könnte die angestrebten Zielgruppen nicht erreichen. Für eine allgemeine Öffentlichkeit ist der akademische Gehalt eines Bandes, der Begriffe wie Biokolonialismus und Personal wie Donna Haraway auffährt, vielleicht zu hoch. Für Praktikerinnen und Praktiker, die aktuellen Themen auf der Spur sind, ist das Netzwerk aus „allen miteinander vernetzten Computern, vom PC bis zum Großrechner“ (S. 175) namens Internet womöglich bequemer, ergiebiger und eben: aktueller. Lehrende und Studierende der Sozial- und Kulturwissenschaften hingegen wenden sich unter Umständen eher fachspezifischen Lexika wie dem „Handbuch der Kulturwissenschaften“ 1 zu, um Begriffe wie Identität oder Moderne zu erschließen.

Auch wenn der Band als Nachschlagewerk für ein allgemeines Publikum aus meiner Sicht nicht vollständig überzeugt, möchte ich ihn hier keinesfalls pauschal verurteilen. Die Einträge sind breit gestreut und verschränken theoretische Einblicke mit (häufig ja gelungenen) praktischen Bezügen. Das macht das Lexikon für interessierte Leserinnen und Leser aus allen genannten Bereichen zu einem thematischen Füllhorn. Viele Einträge reichern das häufig gegenwartszentriert verhandelte Phänomen der Globalisierung mit der erforderlichen historischen Tiefe an. Die interdisziplinäre Ausrichtung, die ausführlichen Register und Verweise im Text ermuntern zum Quer- und Weiterlesen. Vielleicht sollten Verlag oder Herausgeber den Band einfach umtaufen, zum Beispiel in: „Globalisierung. Ein anthropologisches Lesebuch“. Als solches funktioniert es hervorragend und verdient eine breite Rezeption.

Anmerkungen:
1 Friedrich Jaeger u.a. (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, 3 Bde., Stuttgart 2004.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/