G. Stourzh: Der Umfang der österreichischen Geschichte

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Titel
Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990–2010


Autor(en)
Stourzh, Gerald
Reihe
Studien zu Politik und Verwaltung 99
Erschienen
Anzahl Seiten
334 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Haslinger, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen / Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft, Marburg

Gerald Stourzh zählt durch sein jahrzehntelanges Wirken ohne Zweifel zu den wichtigsten und einflussreichsten Historikerinnen und Historikern zur Geschichte der späten Habsburgermonarchie und des modernen Österreich. Aus dem breiten Schaffen vereinigt der nun vorliegende Band eine Reihe von Studien, die – mit einer Ausnahme, auf die noch gesondert eingegangen wird – in den Jahren zwischen 1991 und 2004 veröffentlicht wurden. Thematisch sind die Beiträge daher denkbar breit angelegt und verdeutlichen die Vielfalt des Schaffens von Gerald Stourzh: Sie reichen von Standortbestimmungen zur Frage um die Definition österreichischer Geschichte über die Geschichte der Menschenrechte bis hin zu einer Reihe von Arbeiten zur Reichs- und Verfassungsgeschichte der späten Habsburgermonarchie. Sie beinhalten darüber hinaus Studien zur Außenpolitik der Ersten Republik im Vorfeld des Anschlusses (in der Stourzh dafür plädiert, die Phase zwischen 12. Februar und 13. März bereits als „Teil der Machtübernahme von außen“ zu begreifen, S. 209) und über die Genese der österreichischen Neutralität der Nachkriegszeit. Ebenfalls aufgenommen sind drei Lebensbilder von sehr unterschiedlicher Ausprägung (über Franz Anderle, einem Vorfahren des Autoren, den „Grenzgänger“ Jean Rudolf von Salis im Zentraleuropa der 1930er-Jahren und eine Würdigung des für die Geschichtsschreibung Österreich-Ungarns so wichtigen italienischen Historikers Angelo Ara).

Die titelgebende Studie zum Umfang der österreichischen Geschichte beruht auf einer Analyse von sieben programmatischen Schriften, die von Historikern zwischen 1853 und 1988 vorgelegt worden sind. Diese thematisieren einerseits das Verhältnis zwischen imperialem Herrschaftsverband und seinen einzelnen Bestandteilen, gehen andererseits der diffizilen Frage nach Kontinuität und Diskontinuität nach (etwa nach der österreichischen Geschichte zwischen 1938 und 1945). In der Zusammenschau aller Studien wird jedoch vor allem deutlich, wie sehr die Arbeiten zur späten Habsburgermonarchie in ihrer Differenziertheit und in der instruktiven Verbindung zwischen der Analyse von Diskursen und Regelungssystemen bis heute leitend sind. Dem komplexen staatsrechtlichen und juristisch-praktischen Verhältnis zwischen Ländern und Gesamtstaat und beiden Staaten der Doppelmonarchie ab 1867 widmen sich insgesamt vier Studien des vorliegenden Bandes. Stourzh zeigt hier in Rückgriff auf zeitgenössische Einschätzungen und einige ausgewählte regionale Beispiele, wie sehr sich die „ambivalente Attraktivität“ der Länderautonomie (S. 47) auch aus der sehr unterschiedlichen Ausdeutung des rechtlichen Gestaltungsrahmens der Länder durch die Zeitgenossen ergab. Zentral war auch der Umstand, dass die gesamtstaatliche Verfassungsordnung und Gesetzgebung keinesfalls automatisch der Gesetzgebung der einzelnen Kronländer übergeordnet war. Dies machte wiederum den Monarchen zur alleinigen Kontrollinstanz, ermöglichte es nationalen Politikern aber auch, sich bei der Durchsetzung ihrer Vorstellungen „des Gefäßes der Länderautonomie“ zu bedienen (S. 59). In gleicher Weise erhellend lesen sich nach wie vor die Ausführungen zu jenen Ambivalenzen, die den uneinheitlichen Sprachgebrauch und damit die staatsrechtliche Dynamik des österreichisch-ungarischen Verhältnisses betrafen. Der rechtlichen Folgewirkungen eines mehrsprachigen Staatsverbands widmet sich eine weitere Studie zu den – so der etwas sperrige Titel – qualifizierten Mehrheitsentscheidungen. Ausgehend von der aus einem „Bündel“ von fünf Einzelgesetzen (S. 97) bestehenden Dezemberverfassung macht Stourzh deutlich, in welche widersprüchlichen rechtlichen Regelungen die Majorisierungsangst sprachlicher Minderheiten auf der einen und der Dominanzbeweis der Mehrheiten auf der anderen Seite münden konnten. Gerade die Verfassungskrise in Böhmen 1913 belege vor diesem Hintergrund, so Stourzh, „wie leicht der vorkonstitutionelle monarchische Absolutismus in Krisensituationen gewissermaßen subsidiär an die Stelle des […] als gelähmt betrachteten Konstitutionalismus eintreten konnte“ (S. 151).

Die einzige Studie des Bandes, die bislang noch unpubliziert war und auf einem Vortrag aus dem Jahr 2010 beruht, liest sich demgegenüber wie ein kritischer Kommentar zur gegenwärtigen Debatte um den Stellenwert des „Nationalen“ in Österreich-Ungarn. Diese hat durch eine Reihe von Studien unter anderem von Jeremy King1, Pieter Judson2 und Tara Zahra3 in den letzten zehn Jahren eine neue Richtung genommen, welche auch auf Aspekte des national Amorphen bzw. Ambivalenten jenseits der deutlich sichtbaren Rhetorik hinweist und die komplexe Dynamik der Durchsetzung des Primats des Nationalen herausarbeitet. Gerald Stourzh argumentiert hier auf der Referenzgrundlage des Rechts und sieht eine auf lokale Assimilation ausgerichtete Kommunalpolitik sowie die nationale Entflechtung von Gremien und Vereinigungen als Nebenprodukt einer Gesamtentwicklung, die zunehmend weniger Platz für Verhaltensweisen nationaler Indifferenz einräumte. Die Verwandlung der Habsburgermonarchie von einem mehrsprachigen in einen multinationalen Staat sei jedoch nicht erst 1900 erfolgt, sondern in Schritten bereits viel früher anzusetzen, wobei vor allem das Prinzip der Gleichberechtigung der verschiedenen Sprachgruppen leitend und impulsgebend gewesen sei. Zudem seien viele der Erkenntnisse nicht neu, denn seit den 1960er-Jahren hätte sich eine ganze Reihe von Historikern auch in ihren Arbeiten von der hermetischen Einordnung in rein nationale Denkkategorien bereits emanzipiert.

Insgesamt erscheint die Auswahl der nicht immer in einem thematischen Bezug stehenden Studien in diesem Band durchaus repräsentativ für das Œuvre von Gerald Stourzh. Es wird noch einmal deutlich, wie sehr seine Ansätze und Thesen über die komplexe Staats- und Reichsgeschichte der habsburgischen Länder und zur österreichischen Zeitgeschichte die Historiografie geprägt haben. Für diejenigen, die sich noch nicht intensiv mit seinem Schaffen auseinandergesetzt haben, könnte es keine bessere Einführung in die für Stourzh so typische Herangehensweise geben, die in Österreich schulbildend gewirkt hat: eine leicht lesbare, aber keineswegs vereinfachende Synthese aus politischer Geschichte und abstrakteren Rechts- und Verfassungsfragen, die Verbindung der Textur komplexer Machtverhältnisse in mehrsprachigen Kontexten mit den diskursiven Grundlagen entsprechender Entscheidungsprozesse. Ein nicht unerheblicher Nachteil der vorliegenden Publikation besteht jedoch darin, dass die Studien selbst dann, wenn sie in ihrer Zeit Standards gesetzt haben, den heutigen Wissens- und Debattenstand natürlich nur mehr ausschnittsweise wiedergeben können. Für diejenigen, die mit dem Gesamtwerk von Gerald Stourzh bereits vertrauter sind, wäre daher jenseits der sehr knappen Einleitung und der bisher nicht publizierten Studie eine Einschätzung zur heutigen Relevanz bzw. zur Einordnung der Arbeiten in heutige Forschungsfelder hilfreich gewesen. Dennoch ist selbst der Umstand, die teils an entlegener Stelle erschienenen Studien in einem Band rezipieren zu können, von nicht unerheblichem Wert. Gerade dadurch wird deutlich, wie sehr Gerald Stourzh in Vielem seinen Zeitgenossen weit voraus war.

Anmerkungen:
1 Jeremy King, Budweisers into Czechs and Germans. A Local History of Bohemian Politics, 1848–1948, Princeton 2003; Jeremy King, The Nationalization of East central Europe. Ethnicism, Ethnicity, and Beyond, in: Maria Bucur / Nancy M. Wingfield (Hrsg.), Staging the Past. The Politics of Commemoration in Habsburg Central Europe, 1848 to the Present, West Lafayette 2001, S. 112–152.
2 Pieter Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontier of Imperial Austria, Cambridge Mass. / London 2006.
3 Tara Zahra, Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands 1900–1948, Ithaca / London 2008; Tara Zahra, Imagined Noncommunities. National Indifference as a Category of Analysis, in: Slavic Review 69 (2010), S. 93–119.

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