Titel
Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905-1933


Autor(en)
Schnell, Felix
Erschienen
Anzahl Seiten
575 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Rudolf A. Mark, Lüneburg

Der Berliner Osteuropahistoriker Felix Schnell will mit seiner Studie den Phänomenen Gewalt und Terror als Signa der osteuropäischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Spur kommen. Angeregt und motiviert durch aktuelle Forschungen zur Gewaltgeschichte hat er sich die Ukraine in der Zeit von 1905 bis 1933 als Schauplatz von Gewalt und Gruppenmilitanz zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht. Gleichwohl geht es ihm nicht um ukrainische Geschichte, sondern um die „soziogeographische Exklusivität“ (S. 12), die er dieser südwestlichen Peripherie des Russländischen Kaiserreichs mit ihrer ethnischen Vielfalt und ihrer wichtigen Funktion im Modernisierungsprozess des Imperiums zu Recht zuschreibt. Außerdem war die Schwäche staatlicher Strukturen, die eher symbolische Präsenz des Staates und seiner Machtorgane eine weiteres Kennzeichen der Region und daher eine entscheidende Voraussetzung, dass aus der Gesellschaft heraus konkurrierende Machtmonopole, „Gewaltunternehmer“ und Gruppenmilitanz gesellschaftliche Interessen vertreten und neue Ordnung herstellen konnten. Dass die Ukraine zudem im Ersten Weltkrieg, der Bürgerkriegszeit und als „Laboratorium der Gewalt“ während der sogenannten Entkulakisierung und der Zwangskollektivierung zu Beginn der 1930er-Jahre einen besonderen Platz einnahm, einen „Gewaltraum“ par excellence darstellte, kommt hinzu und liefert Schnell den historischen Topos seiner Analyse. Er will mit dessen Hilfe klären, in welchen Zusammenhängen und Konstellationen Pogrome und andere kollektive Gewaltexzesse entstanden sind, die nicht selten und bis in die Gegenwart hinein essentialistisch verstanden als ein Wesenskern der osteuropäisch-slavischen Gesellschaften betrachtet werden. Dabei sollen Gewalt und ihre Anwendung nicht nur als Instrument der Interessendurchsetzung oder als Modus staatlicher Konfliktbearbeitung angesprochen und auf Tauglichkeit überprüft, sondern Gewalt als soziales Konstrukt zur kollektiven Selbstbehauptung in staatsfernen Räumen verstanden und in ihrer Prozesshaftigkeit und Eigendynamik untersucht und kenntlich gemacht werden.

Wie der Verfasser in den einführenden Abschnitten seiner Arbeit ausführt, bedient er sich dabei des heuristischen Instrumentariums, das die moderne Gewaltsoziologie zuletzt mit neuer Konturierung durch Wolfang Sofsky und Wilhelm Heitmeyer sowie die historischen Forschungen Jörg Barberowskis geliefert hat und aus dem er seine eigenen Analysekategorien „Gewaltraum“ und „Gruppenmilitanz“ ableitet. „Gewalträume“ sind dementsprechend „soziale Räume, die den Gebrauch von Gewalt begünstigen oder wahrscheinlich machen“ (S. 20), weil sie Chancen zur gewaltsamen Interessendurchsetzung bieten. Wichtig ist dabei, zu verstehen, dass Gewalträume und Gewalthandeln reziproke und dialektische Elemente sozialer Prozesse darstellen, durch die Gruppenmilitanz induziert und generiert wird. Letztere, auch als Militante Vergemeinschaftung bezeichnet, äußert sich in Form von Bandenbildung bis hin zu größeren militanten Bewegungen und Gruppierungen.

In drei größeren Abschnitten folgt den theoretischen Hinführungen die Untersuchung der „Räume des Schreckens“ mit ihren jeweiligen Besonderheiten. Unter der Überschrift „Das Laboratorium der Gewalt“ wird am Beispiel der Revolution von 1905 gezeigt, wie sich aufgrund des nicht mehr durchsetzbaren staatlichen Gewaltmonopols konkurrierende Herrschaftsinstitutionen etablieren und agieren konnten. Das treffendste Beispiel ist im imperialen Zentrum der Petersburger Arbeiter- und Soldaten-Rat, während in den Städten und ländlichen Regionen Gruppenmilitanz in Form von Bauernaufständen gegen die Gutsherrn, Angriffe auf Staatsorgane, Anschläge und Attentate gegen politische und andere Gegner sowie antijüdische Pogrome das Bild bestimmten. Kennzeichnend ist dabei, wie Schnell an zahlreichen Beispielen verdeutlicht, dass es kein „standardmäßiges Vorgehen der Bauern“ gab, aber gemeinsame Merkmale. Die Akteure handelten als Gemeinschaften auf lokaler Ebene, verweigerten jede darüber hinaus gehende Kooperation, verstanden sich nicht als Revolutionäre, sondern als Vertreter ihrer vor allem ökonomischen Interessen. Dafür wandten sie nach Bedarf und in einer höchst flexiblen Weise auch Gewalt an, zunächst aber vor allem gegen Sachen. Auch die antijüdischen Pogrome mit ihren zahlreichen Opfern resultierten Schnell zufolge weniger aus Judenhass, als vielmehr aus den Möglichkeiten, welche die entstandenen Gewalträume eröffneten, weil der Staat materiell-institutionell nicht in der Lage war gegenzusteuern, oder weil er nicht daran interessiert war. Dass sich darüber hinaus die Gruppenmilitanz und die ihre jeweilige Form bestimmende Dynamik der Gewalträume zu unbeschreiblichen Exzessen auswachsen konnten, wird an den Entwicklungen in der Bürgerkriegszeit und der Zwangskollektivierung veranschaulicht.

Mit „Entgrenzung der Gewalt in Krieg und Bürgerkrieg“ werden die Ereignisse in der Ukraine jener Jahre realitätsnah betitelt und auf den Punkt gebracht. Während die makrosozialen Konturen des Zeitraums 1917 bis 1921 eher knapp und oberflächlich skizziert werden, setzt sich Schnell im Weiteren auf sehr überzeugende Weise mit den verschiedenen Erscheinungsformen von Gruppenmilitanz auseinander. Nur in Ansätzen geht er dabei auf den bäuerlichen Widerstand gegen die Besatzungsmächte ein, dafür aber in einer beeindruckenden Analyse und in einem breiten Zugang auf die dörfliche Gruppenmilitanz als Ausdruck von Widerstand und Selbstbehauptung gegen rote, weiße und andere Machthaber und deren Gewaltanwendungen. Vor allem die zahlreichen Otamane/Atamane und Bandenbildungen – allen voran Nestor Machno – und die „machnovščina“ stehen hier im Zentrum der Untersuchung. Die Otamanengruppen stellten keine Kampfeinheiten zur Erreichung eines politisch-ideologischen Zieles, sei es Unabhängigkeit, Anarchie oder Vergleichbares dar, sondern waren mehr oder weniger spontan gebildete Gefolgschaften um einen charismatischen Führer wie zum Beispiel Machno, der Beute, Wohlleben und Vergnügen versprach. Mordbrennen und Vergewaltigen gehörten dazu, ja waren sozusagen der einzige Kit, der „Vergemeinschaftung durch Gewalt“ herstellte. Basierend auf der Auswertung umfangreicher bisher noch nicht bzw. wenig genutzter Archivmaterialien kann Schnell belegen, dass etwa das bis in die Gegenwart virulente Bild von den Bauernanarchisten und ihrem Traum von einer herrschaftsfreien Welt literarische Konstrukte ex post darstellen, die mit der Wirklichkeit der Machno-Armee wenig gemein haben. Darüber hinaus gelingt es ihm, mit dem Instrumentarium kulturhistorischer und sozialpsychologischer Analyse die Dimensionen und Elemente zu bestimmen, in welchen Vergemeinschaftung durch Gewalt konstituiert und kommuniziert wird. Exzesshaftes Ausleben von Gewalt und unmenschliche Grausamkeiten gerade auch gegen Schwächere waren zentrale Elemente der Repräsentation von Machnos Armee, die damit aber keineswegs allein stand.

Es ist der große Vorzug dieser Arbeit, dass sie die bestehenden politik-, ideologie- und sozialgeschichtlichen Untersuchungen zum Bürgerkrieg um die gewaltgeschichtliche Analyse ergänzt und zum Teil auch ersetzt. Unverständlich ist jedoch, dass Schnell die Geschichte der Bürgerkriegszeit in der Ukraine weitgehend auf das Phänomen der Otamanščina verkürzt. Man kann zu unterschiedlichen Bewertungen über Rolle und Bedeutung von Zentralrada und Ukrainischer Volksrepublik (UNR) kommen, aber zum Beispiel Symon Petljura lediglich als „Großataman“ [sic!] und Pogromtäter abzutun entspricht nicht dem Stand der Forschung. Auch dass etwa die Kosaken und deren Kriegergesellschaften eine Traditionsquelle für die Gewaltgruppen lieferten, wird zwar angedeutet, aber nicht weiter ausgeführt.

Als „Staatsbildung im Gewaltraum“ entschlüsselt Schnell in seinem dritten großen Abschnitt die staatlichen und gesellschaftlichen Gewalthandlungen in der Zeit von Entkulakisierung und Zwangskollektivierung. Hier werden die wirtschaftlichen und strukturellen Hintergründe der Kollektivierung sowie die sich schon in der Neue Ökonomische Politik(NEP)-Periode zeigenden ländlichen Spannungsfelder dargestellt, das heißt die Spezifika des Gewaltraumes Ukraine in der frühen Sowjetzeit herausgearbeitet. Charakteristisch waren die beherrschende Stellung der Dorfgemeinde in allen lokalen Belangen, der sehr niedrige Grad institutionalisierter Staatsgewalt sowie Spannungen, die ein Erbe von Revolution und Bürgerkrieg und ihrer Folgen waren. Dass die Kollektivierung zu einer Gewaltaktion sonders Gleichen eskalierte, war zudem dem Faktor Stalin und dem kollektiven Bewusstsein der bolschewistischen Führer über die Unvollkommenheit ihrer Macht geschuldet. Die im Bürgerkrieg fast gescheiterte Revolution sollte nun endgültig auch auf dem Lande etabliert und irreversibel gemacht werden. Außerdem – und dies ist ein Aspekt, der in vielen bisher zum Thema erschienenen Studien nur schwach beleuchtet wurde – reagierte die ländliche Bevölkerung gerade in der Ukraine mit weit verbreiteten Widerstandsaktionen. Das „Dorf“ wehrte sich gegen die Aggression des Staates sowohl in Form kollektiver Gewalthandlungen als auch in vielfältigen Einzelaktionen. Dazu kamen die organisatorischen und administrativen Defizite vor Ort sowie die mit „effizienter Brutalität“ reagierenden Sowjetbehörden, so dass Blutvergießen, Terror und Gewalt in eine Katastrophe mündeten, der Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die Geschehnisse als solche sind längst bekannt, aber bis dato nur wenig auf Mikroebene und gar nicht im Lichte der Wechselbeziehung von Gewalträumen und Gewalthandlungen untersucht worden. Schnell hebt nämlich zu Recht hervor, dass in der Forschung bisher der Schwerpunkt meistens auf dem staatlichen Anteil von Gewalt lag, während bei der Kollektivierung „summarische Gewalt von oben und partikulare Gruppenmilitanz von unten“ eine explosive Mischung eingingen (S. 437), wie er an zahlreichen Beispielen dem Leser vor Augen führt. Gleichzeitig weist er auf eine bisher ebenfalls kaum beachtete Dimension von Gewalthandlungen hin, nämlich auf die Kollaboration von Staats- und Parteiaktivisten mit Bauern oder auch die weit verbreitete Gewalt zwischen den einfachen Bauern. Wie die von ihm angeführten Beispiele zeigen, handelte es sich dabei nicht nur um Enteignung, Raub und Denunziation sogenannter Kulaken durch die Dorfarmut, sondern um Gewalt zwischen Nachbarn und Rücksichtslosigkeit gegenüber Schwachen und Opfergruppen. In seinem Schluss bringt es der Autor auf den Punkt, wenn er schreibt, dass „Gewaltkultur honoriert, was in Gewalträumen zum Erfolg oder zum Überleben der eigenen Gruppe wichtig ist“ (S. 549) – rücksichtsloses Töten genauso wie Raub und Plünderung.

Felix Schnell hat mit diesem Buch eine Studie vorgelegt, die mit ihrer theoriegeleiteten Ausführung wie aufgrund des zu Rate gezogenen Quellenkorpus Maßstäbe setzt für jeden, der sich mit Gewalt und Gewaltgeschichte in Osteuropa beschäftigt. Unverständlich ist jedoch, dass er einen großen Teil der in Ost und West zum Thema Zwangskollektivierung und Holodomor in der Ukraine erschienen Literatur nicht kennt oder ignoriert. Natürlich ist nicht die Geschichte der Ukraine Gegenstand seiner Arbeit, aber seine Untersuchungsergebnisse liefern auch einen Beitrag zur Klärung der die Historikerzunft immer noch bewegenden Hungersnot/Genozid-Diskussion. Monieren könnte man zudem einige sachliche Ungenauigkeiten, die sich aber nicht auf den Untersuchungsgegenstand im engeren Sinn beziehen. Insgesamt betrachtet stellt Schnells sehr ansprechend geschriebene und überzeugende Studie einen grundlegenden, innovativen Beitrag zu zentralen Aspekten der osteuropäischen Geschichte im 20. Jahrhundert dar.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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