L. Darowska: Widerstand und Biografie

Cover
Titel
Widerstand und Biografie. Die widerständige Praxis der Prager Journalistin Milena Jesenská gegen den Nationalsozialismus


Autor(en)
Darowska, Lucyna
Reihe
Edition Politik 4
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dario Vidojković, Institut für Geschichte, Universität Regensburg,

Der im Mittelpunkt der hier zu rezensierenden Dissertation von Lucyna Darowska stehende Name Milena Jesenská war in literarischen Kreisen zumeist als Adressatin von Franz Kafkas Briefen bekannt. Doch als Publizistin und mehr noch als Widerständlerin ist sie einer breiteren Öffentlichkeit bislang weder hier noch in ihrer Heimat Tschechien präsent gewesen. Dabei wurde Jesenská Ende 1939 von der Gestapo verhaftet und im Oktober 1940 in das Konzentrationslager Ravensbrück überführt, wo sie im Mai 1944 an einer dort zugezogenen Nierenerkrankung verstarb. Gerade die Rolle Jesenskás als Widerständlerin nachzuzeichnen ist das Anliegen Darowskas in ihrer an der Universität Gießen eingereichten Dissertation. Ihre zentrale Frage ist: „Wie ist Milena Jesenská zur Widerständlerin Milena Jesenská geworden?“ (S. 25)

Dieser Frage geht Darowska, ausgehend vom New Historicism als „methodische[m] Rahmen biografischer Analysen in der Politikwissenschaft“, nach (S. 35). Aus der Erforschung des biografischen Hintergrundes ihrer Protagonistin erhofft sich die Autorin Aufschlüsse darüber zu gewinnen, wie Jesenská ihre widerständigen Dispositionen erworben hat, die sie später 1938 sowie nach der Besetzung der „Rest-Tschechei“ im März 1939 als Widerständlerin aktiv werden ließ. Darowska beschränkt sich jedoch nicht allein auf die Methoden des in den 1980er-Jahren vor allem von Stephen Greenblatt geprägten New Historicism (S. 55). Sie wählt in ihrer Arbeit vielmehr einen multiperspektivischen Zugang, der unter anderem politisch-ethische Fragen beinhaltet, wobei Darowska sich ebenfalls mit Aspekten der Subjektivität und Emanzipation beschäftigt sowie „Ansätze aus der Sozialisations- und Genderforschung“ in ihre Überlegungen mit einbezieht.1 Mit dieser multiperspektivischen Vorgehensweise läuft die Autorin freilich Gefahr, dass das eigentliche Thema etwas aus dem Fokus gerät.

Nach einer konzisen Einleitung widmet sich Darowska im ersten Kapitel dem New Historicism, dem es „nicht nur um die Aufmerksamkeit auf soziales Handeln, sondern ebenso um genaue Anschauung der Macht sowie der Wirksamkeit dezentraler Handlungen“ gehe (S. 58). Im zweiten Kapitel entwickelt sie sodann ihren Begriff der widerständigen Praxis. Sie diskutiert nicht nur den Begriff des Widerstandes (wie er vor allem in Deutschland verstanden wird, vgl. S. 79), sondern setzt sich kritisch auch damit auseinander, welche Handlungen, die von Gegnern des nationalsozialistischen Regimes vorgenommen wurden, als „Widerstand“ zu bezeichnen seien. In der Tat berührt Darowska hiermit grundlegende Fragen, denn Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime äußerte sich nicht allein in spektakulären Aktionen und Operationen, wie etwa dem Warschauer Aufstand von 1944. Schon das Verstecken gefährdeter Menschen und ihr Entzug vor dem Zugriff der Gestapo ist als „widerständige Praxis“ zu bewerten, die neben Haft und Folter nicht selten auch die Todesstrafe nach sich ziehen konnte. Ebenso ist das Verfassen von Artikeln gegen die NS-Besatzungsmacht als eine solche Praxis anzusehen – beides Handlungen Milena Jesenskás, wobei sie letztlich wegen ihrer Tätigkeit für die tschechische Untergrundzeitschrift „V boj“ (Auf in den Kampf) im KZ ihr Leben verlor. Insoweit sind nicht nur die offensichtlichen, militanten Aktionen gegen die NS-Besatzer als Widerstand zu klassifizieren, Widerstand hatte zahlreiche Facetten. Doch sind es am Ende meist die spektakulären Operationen, die im kollektiven Gedächtnis haften bleiben und die vielen im Stillen, nicht-öffentlich agierenden Widerständler der Vergessenheit anheim fallen lassen (man denke dabei an die hierzulande geführten Debatten darüber, wer alles zum deutschen Widerstand zu rechnen sei).2 Ein solches Schicksal ist auch Milena Jesenská zuteil geworden, weshalb Darowska ihr mit dieser Studie gleichsam ein Denkmal als Widerständlerin setzen möchte.

Im Zuge dieser Diskussion kommt man nicht an den entsprechenden Texten Tzvetan Todorovs vorbei, der gerade „den hohen Rang des militärischen Widerstandes, der häufig mit politischem Widerstand gleichgesetzt wird, in Frage stellt“ (S. 125). Darowskas Zustimmung hierzu ist zweifellos zu teilen, eröffnet doch eine gewissermaßen „entmilitarisierte“ und „entpolitisierte“ Sichtweise neue Perspektiven darauf, was daneben noch widerständige Handlungen sein konnten. In diesem Zusammenhang verweist Darowska ebenfalls auf die Überlegungen Hannah Arendts und Michel Foucaults (wobei Foucaults „Überwachen und Strafen“ gerade im Hinblick auf Machtfragen, denen sie sich hier gleichsam widmet, von Interesse gewesen wäre). Nicht von ungefähr zieht Darowska dabei Sophokles’ „Antigone“ heran, da sich in diesem antiken Drama bereits solche Formen widerständiger Praxen abzeichnen, deren sich auch Jesenská in ihrem Leben gegen gewaltbeladene Institutionen wie Schule und Psychiatrie oder später im KZ bediente.

Des Weiteren bezieht sich Darowska auch auf das Bachtinsche Konzept der „Dialogizität als karnevalistische dezentrale Kommunikation“ (S. 135ff.). Eingebettet ist dieses in ihre Erwägungen zu strukturellen Zusammenhängen der Sinngebung und der Handlungsbefähigung, wobei sie hier insbesondere das „Verhältnis des Subjekts zu sich selbst“ thematisiert. Dieser Dialog zwischen dem „Du“ und dem „Wir“, aber auch zwischen dem „Du“ und dem „Ich“ kann ausschlaggebend dafür sein, wofür und vor allem für wen man sich durch eine widerständige Handlung in Lebensgefahr begibt. All dies ist sicherlich für sich genommen von Interesse, angesichts des Kapitelumfangs (fast 100 Seiten!) wären Straffungen ratsam gewesen.

So kommt es, dass der Leser erst ab dem dritten Kapitel sich erstmals der Biografie Jesenskás nähert. In den Kapiteln drei und vier schildert Darowska Milenas Leben von ihrer Geburt in Prag 1896 an bis zum Jahr 1937 in biografisch-chronologischer Weise. Dafür kann sie auf die bereits früher veröffentlichten Biografien zu ihrer Protagonistin zurückgreifen3 sowie sich für die Zeit bis 1939 auf eine relativ gut erschlossene Quellenbasis stützen. Darowska präsentiert zahlreiche Zitate aus Jesenskás Briefen bzw. Artikeln, was zur Lebendigkeit dieser mitunter recht ausführlich geratenen Kapitel gewiss beiträgt.

Endlich im fünften Kapitel befasst sich Darowska mit dem widerständigen Konzept Jesenskás, das sie in ihren Artikeln für die tschechische liberal-demokratische Zeitung „Přítomnost“ (Gegenwart) entwarf. Darowska bettet Milenas Biografie und ihre journalistische Tätigkeit kompetent in den historischen Kontext ein, wodurch der Leser viel von den damaligen politischen Hintergründen und dem Zeitgeist in der Tschechoslowakei der 1930er-Jahre vor dem Münchner Abkommen erfährt. In den Jahren 1937 und 1938 nahm Jesenská eine klare Position gegen den Nationalsozialismus ein, wendete sich fast zeitgleich aber auch gegen den stalinistisch geprägten Kommunismus, dem sie anfangs noch anhing, doch gleichzeitig bereits eine ausgeprägte Fähigkeit zur Reflexion und kritischem Denken zeigte.

Das sechste Kapitel schließlich führt uns Milena Jesenská als Widerständlerin vor. Dabei stellt sich eine gewisse Enttäuschung beim Leser ein: Die Ausführungen hierzu nehmen nämlich nur ganze 67 Seiten von insgesamt 501 Seiten Text ein. Der relativ geringe Umfang dieses Kapitels erklärt sich sicherlich daraus, dass Jesenskás widerständige Handlungen sich so gut wie im Verborgenen abspielten und es darüber nur wenige Quellen gibt, ihre relativ frühe Verhaftung ihren widerständigen Aktivitäten aber auch ein rasches Ende setzte. So war Jesenská an der Untergrundzeitschrift „V boj“ beteiligt, auch soll sie Artikel für sie beigesteuert haben. Hier wäre es ein Gewinn gewesen, wenn Darowska mehr solcher Quellen dargestellt und analysiert hätte. Stattdessen listet sie im entsprechenden, gerade vier Seiten umfassenden Kapitel nur einen sicher Jesenská zugeschriebenen Artikel auf. Das ist für das Thema dieser Arbeit eindeutig zu wenig. Nicht viel mehr erfährt man über das Verstecken und die Fluchthilfe, die Jesenská 1995 zu einer „Gerechten unter den Völkern“ werden ließ (S. 473). Dass Darstellungen zum tschechoslowakischen Widerstand 1939–1945 im deutschsprachigen Raum bitter Not tun, belegt das Stützen Darowskas auf Detlef Brandes’ Werk von 1969 respektive 1975 (!).4 Etwas mehr Informationen erhält man dagegen über Jesenskás Widerständigkeit im KZ Ravensbrück, worunter Darowska das Beistehen bedrohter Häftlinge sowie die Missachtung der Lagerordnung zählt. Besonders im KZ zeigt sich die „‚Karnevalisierung‘ der tödlichen Gefahr“ im Sinne Bachtins als ein Überlebens- und Widerständigkeitskonzept, mit dem sich Jesenská einen gewissen Grad von Selbstbestimmung und Würde erhalten konnte (S. 415). Die durch den Titel der Arbeit geweckten Erwartungen erfüllen sich somit nur zum Teil.

Die Studie könnte damit an sich an ihrem Ende angelangt sein, wie Darowska selbst schreibt (S. 437). Stattdessen folgt noch ein siebtes Kapitel, in dem sie in knapper Form auf die Biografie Heydrichs und den „Mythos Milena“ eingeht. Darowskas Erklärung, deshalb über Heydrich und das Attentat auf ihn zu schreiben, weil zur gleichen Zeit Milena im KZ „ihre widerständige Praxis fortführte“ (S. 438f.), überzeugt nicht; in einem eigenen Artikel wären diese Ausführungen womöglich besser aufgehoben gewesen, zumal eine solche vergleichende Perspektive sich nicht aus dem Fokus der Arbeit erschließt. Hingegen sind die Überlegungen zu „erinnerungskulturellen“ Aspekten des Umgangs mit Jesenskás Schicksal nach dem Zweiten Weltkrieg höchst aufschlussreich.5 Ein die bisherigen Befunde zusammenfassendes achtes Kapitel beschließt die Arbeit.

Insgesamt zeichnet Darowska Jesenská als eine ungemein facettenreiche, leidenschaftliche, sehr empathiefähige und selbstbestimmte Frau, die allerdings auch schwere psychische (und körperliche) Krisen durchlebte. Ihre soziale Prägung (besonders ihre Jugenderfahrungen, unter anderem in der Psychiatrie) und ihr eigenwilliger, oftmals ans Exzentrische grenzender Charakter führten zu ihrer widerständigen Disposition, wie sie sich im „Protektorat“ sowie im KZ äußerte (S. 483ff.). Die von Darowska entwickelte Vorgehensweise birgt innovative Zugänge und Möglichkeiten, von ihr aufgeworfenen Fragen weiter nachzugehen (auch im Hinblick auf eine fortgesetzte Beschäftigung mit Jesenská). Gleichwohl eignet sich die hier angewandte Methodik wohl kaum als Blaupause für ähnliche Fragestellungen, da die Ergebnisse der Studie so nicht verallgemeinerbar sind, wie die Autorin selbst zugibt (S. 500f.). Darowska gebührt dabei unstrittig das Verdienst, den Begriff des Widerstandes bzw. der Widerständigkeit neu in die Diskussion eingebracht zu haben. Daneben stellt sie Jesenská explizit als Widerständlerin dar – ein Status, der ihr offiziell bis in die 1990er-Jahre nicht öffentlich zuerkannt wurde. Dass Darowska ihre Sache mit Engagement und Leidenschaft angegangen ist, muss per se nicht abträglich sein, doch zuweilen drängt sich ein Hang zu Apologie auf, der dem wissenschaftlichen Wert von Teilen der Studie ebenso abträglich sein dürfte wie überflüssige Verweise auf Wikipedia im Quellenverzeichnis.

Streckenweise hätte der Untersuchung eine stärkere Fokussierung gut getan, zumal vor dem Hintergrund einer vertretenen These Darowskas: „Am Beispiel Milana [sic] Jesenskás das Einzigartige und Intersubjektive der widerständigen Praxis gegen Unrecht und Verbrechen zu verstehen.“6

Anmerkungen:
1 So Darowska im Interview mit dem Transcript-Verlag, abrufbar unter: <http://www.transcript-verlag.de/ts1783/ts1783.php> (11.06.2013).
2 Vgl. z.B. Peter Steinbach / Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933–1945, Berlin 2004.
3 Jana Černá, Milena Jesenská, Frankfurt am Main 1985; Alena Wagnerová, Milena Jesenská. „Alle meine Artikel sind Liebesbriefe“. Biografie, Mannheim 1995; Margarete Buber-Neumann, Milena, Kafkas Freundin. Ein Lebensbild, Frankfurt am Main 1996.
4 Detlef Brandes, Die Tschechen unter deutschem Protektorat, München, Wien 1969; sowie ders., Die Tschechen unter deutschem Protektorat, München 1975.
5 Vgl. z.B. Christoph Cornelißen, Erinnerungskulturen. Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012, in: <http://docupedia.de/zg/Erinnerungskulturen_Version_2.0_Christoph_Corneli%C3%9Fen> (11.06.2013).
6 Interview Darowskas mit dem Transcript-Verlag, abrufbar unter: <http://www.transcript-verlag.de/ts1783/ts1783.php> (11.06.2013).

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