Cover
Titel
Schlechte Angewohnheiten. Eine Anthologie 1750–1900


Herausgeber
Kleeberg, Bernhard
Reihe
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2002
Erschienen
Berlin 2012: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
446 S.
Preis
€ 17,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Joachim Scholz, Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Berlin

„Auf jede üble Gewohnheit achte, sobald sie Dir zum Bewußtsein gebracht wurde. Gib Dir morgens die Suggestion: ,heute werde ich darauf achten, nicht zu spucken, – nicht an den Nägeln zu kauen, – nicht mit den Augen zu blinzeln usw.‘ – Die betr. Gewohnheiten zähle halblaut auf. Abends gehe mit Dir zu Rate, ob es Dir gelang, sie zu unterdrücken.“ (S. 330) So wie der sozialreformerische Publizist Reinhold Gerling (1863–1930) in diesem Ausschnitt seiner „Gymnastik des Willens“ von 1905 haben schlechte Angewohnheiten aufrechten Menschen und solchen, die sich dafür hielten, immer wieder Anlass zum Nachdenken gegeben. Die von dem Konstanzer Historiker Bernhard Kleeberg im letzten Jahr herausgegebene Anthologie ist eine umfangreiche kulturhistorische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Gewohnheit, das weit tiefer in moderne Diskurse eingelassen ist, als man hinter dem prägnanten Titel vermuten könnte. Fast mehr als nur um schlechte Gewohnheiten geht es darin um Gewohnheit schlechthin.

In einer sechzigseitigen Einleitung, dem zentralen Text des Bandes, untersucht Kleeberg unterschiedliche Diskurse und Theorien auf die Funktion hin, die Gewohnheitskonzepte in ihnen einnehmen. Zu Beginn verdeutlicht er in einer historisch-systematischen Einordnung, wie Gewohnheiten von einst starren Charakterattributen seit etwa 1750 temporalisiert und dynamisiert, das heißt in Selbsttechnologien von An- und Abgewöhnung und permanenter Reflektion überführt wurden. Gewohnheiten standen in den charakteristischen Unterscheidungsversuchen moderner Wissensordnungen (wie individuell–kollektiv / bewusst–unbewusst / willkürlich–unwillkürlich / Chaos–Ordnung) oft an unsicherer, bestenfalls vermittelnder Stelle. Sie waren vielmehr wechselvollen normativen Zuschreibungen unterworfen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dem Ende des Untersuchungszeitraums, selbst Kritik an schlechten Angewohnheiten zu einer schlechten Angewohnheit werden lassen konnten.

Im Variantenreichtum der Kontexte, in denen schlechte Gewohnheiten vorkamen, unterscheidet Kleeberg vier thematische Bereiche. Gewohnheiten nehmen in anthropologischen Ansätzen oft eine Stellung zwischen Autonomie und Stabilisierung ein, indem sie die fundamentale Offenheit des Menschen und seiner Möglichkeiten genauso verbürgten wie ihnen eine den menschlichen Handlungsspielraum begrenzende, stabilisierende Funktion zuzusprechen war. Es wurde erkannt, dass Menschen Zugriff auf ihre Gewohnheiten hatten, dass Gewohnheiten in den Bereich eigener Verantwortung und nicht etwa des Schicksals fielen, doch ist gewohnheitsmäßiges Wahrnehmen, Denken und Handeln häufig weniger begrüßt worden, als dass es auf Risiken und auf Hindernisse des Erkennens und Urteilens hindeutete. John Locke stand der Erkenntnis des Einflusses der Gewohnheit auf die Entstehung der menschlichen Ideen skeptisch gegenüber, weil die Verstandestätigkeit dabei keine Rolle spielte und aus ganz ähnlichem Grund fand Immanuel Kant, von einem festen Tagesablauf einmal abgesehen, „alle Angewohnheit verwerflich“ (S. 20).

Konzepte der habituellen Selbstregulation bestimmten das Nachdenken über Gewohnheiten etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Organismus, nun zunehmend gedacht als ein geschlossenes selbstregulatives System, in dem die Nerven Reize und Reaktionen vermittelten, wurde im positiven wie im negativen Sinne als empfänglich für die Macht der Gewohnheit wahrgenommen. Mittels diätischer Maßnahmen sollten einerseits Reize kontrolliert und Selbstregulierungskompetenzen beeinflusst werden, auf der anderen Seite aber waren schlechte Angewohnheiten auch Zeichen drohenden Kontrollverlustes und wurden vor dem Hintergrund einer wachsenden Überzeugung von der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften zum Nährboden für degenerative Phantasien. Über Gewohnheiten wurden sowohl individuelle als auch soziale Tatsachen zum Ausdruck gebracht. Ihre Betrachtung öffnete im untersuchten Zeitraum kollektiven Zuschreibungen die Tür, es ließen sich „Nationalcharaktere“ und – was zusammenfallen konnte – solche Gruppen ausmachen, die sich der Anstrengung gewissenhafter Selbstkontrolle versagten und gemessen an den Kerntugenden der bürgerlichen Gesellschaft wie Bildung, Wissen und Fortschritt ins Hintertreffen gerieten. Bemäntelt mit medizinischen und pädagogischen Argumentationen trugen schlechte Gewohnheiten – wie auch die Quellen dann eindrucksvoll unter Beweis stellen – immer wieder zur Diskriminierung, sei es von Frauen, von Unterschichten oder „primitiven“ Völkern bei. Zur selben Zeit aber wuchs auch das kritische Bewusstsein für die soziale Dimension individuellen Handelns. In Friedrich Engels’ Sozialanalysen der Arbeiterschaft werden gesellschaftliche Ausbeutungszusammenhänge als Gründe für abweichendes Verhalten aufgedeckt. Als bevorzugter Gegenstand der in der Entstehung begriffenen Soziologie leisteten Gewohnheiten im 19. Jahrhundert wichtige Dienste zur Abgrenzung und zur Anreicherung spezifisch soziologischen Wissens. Den Gewohnheiten der Soziologie lässt Kleeberg im letzten Abschnitt der Einleitung Disziplin und Gewohnheit des Willens eine Betrachtung weiterer paradigmatischer Diskursfelder folgen, wo nun schon bekannte Motive wiederkehren. Der Abschnitt endet in einer Bilanz der Geschichte schlechter Angewohnheiten, in der sie noch einmal als Schauplatz der Aushandlung von Differenzen und als Markierung von Grenzfiguren „zwischen Natur und Kultur, Zwang und stabilisierter Handlungsautonomie, Stagnation und Fortschritt, Lust und Moral, Freiheit und Selbstkontrolle“ (S. 62) bestimmt und herausgestellt werden.

Über die Abschnitte hinweg gelingt es Kleeberg, in kurzen Ausführungen auch zu Theoretikern, die später nicht mit Quelltexten vertreten sind, immer wieder zu zeigen, welche Faszination das Nachdenken über das Phänomen der menschlichen Gewohnheiten ausgeübt hat und welche fundamentale Bedeutung es in der Werkarchitektur gerade auch klassischer Autoren einnimmt. Ob in Durkheims Definition der sozialen Tatsache, in seinen Beschreibungen der Ursachen von Anomie und den Begründungen einer neuen Soziologie und Pädagogik, ob in der Handlungstheorie Max Webers, wo Gewohnheiten traditionelles Handeln illustrieren, als Garant zivilisatorischer Entwicklung bei Norbert Elias oder im Utilitarismuskonzept John Stuart Mills: regelmäßig scheinen Annahmen über die Gewohnheit gerade in den Kern desjenigen Denkansatzes zu führen, für den sein Urheber jeweils bekannt geworden ist. Fast stellt sich die Frage, warum eigentlich niemand ganz explizit als Gewohnheitstheoretiker in den Klassikerrang gelangte. Liegt das am unscheinbaren, um nicht zu sagen gewöhnlichen Charakter der Gewohnheiten, der es möglich machte, sie so „ungemein leicht zu verheimlichen“ wie Christian Gotthilf Salzmann es für die Onanie beklagte (S. 166), und der die Gewohnheit auch noch an der Stelle, wo sie als ein grundlegender Theoriebaustein eingesetzt wurde, mit der Unsichtbarkeit des Alltäglichen und Allgegenwärtigen schlug? Oder trägt gerade die von Kleeberg eingesetzte ostentative Semantik, mit der Gewohnheiten immer wieder zur „Basis“ (etwa des Sozialen), zum „zentralen Referenzpunkt“ oder zur „Grund-“ bzw. „Schlüsselkategorie“ einer wie der anderen Disziplin gemacht werden, dazu bei, dass die Kulturbedeutsamkeit des Konzeptes zugleich zurückgenommen und gesteigert, letztlich aber nie wirklich klar erscheint?

Die auf die Einleitung folgenden 18 Quelltexte werden chronologisch und nach thematischen Parametern gruppiert und in elf hochinteressanten Kommentaren einzeln und abschnittsweise kontextualisiert und interpretiert. Die Expertise der kommentierenden Autorinnen und Autoren, die sich mehrheitlich kulturwissenschaftlichen Sparten der Geschichts- sowie der Geistes- und Sozialwissenschaften zuordnen, erhöht noch den Gewinn aus der Lektüre der auch für sich allein gut lesbaren Abschnitte (Laster und Charakter / Entwicklung und Psyche / Umwelt und Konzentration / Disziplin und Erziehung / Tradition und Barbarei). Quellen und Kommentare entfächern den bei aller Ausdehnung doch komprimiert eingeleiteten Gegenstandsbereich. Sie zeigen an diversen Beispielen die Ängste und aus heutiger Sicht oft kruden Vorstellungen der Zeitgenossen und ihre Versuche, menschliche Eigenschaften theoretisch und praktisch zu modellieren. Stärker als in der Einleitung wird hier auch nichtwissenschaftlichen Quellen aus der Laienkultur Raum geboten. Die Leser_innen begegnen teils sehr eigentümlichen Denkfiguren und Deutungssträngen und so vielen weiteren Fragen, dass sie nur an Beispielen wiedergegeben werden können: So zeigt Ingo Stöckmann an den Texten über die Selbstbemeisterung durch Gewohnheit, wie die notorischen „Kräftigungsmaximen des Willensdiskurses“ im 19. Jahrhundert eine Berücksichtigung der Hauptsätze der Thermodynamik verlangen, da eine Erscheinung wie „der Wille analog zu Einsichten der physikalischen Energielehre zu einer Kraft umgedeutet wird, die einer strikten mentalen Haushaltung unterliegt“ (S. 338). Valeska Huber fragt in ihrem Kommentar zu Glücksspieldiskursen im 19. Jahrhundert, wann „das Spielen auf einer Skala vom unschuldigen Kinderspiel bis zur verruchten Spielhölle zur schlechten Angewohnheit“ wird (S. 265) und Dorothee Birke rekonstruiert die Verbindungen, die zur selben Zeit das gewohnheitsmäßige Lesen größerer Textmengen verdächtig werden ließ, indem es metaphorisch dem Aufnehmen schädlicher Substanzen gleichgesetzt als „geistiger Alkoholismus“ erscheinen konnte. Eine Einführung in die Lehre von der Ideenbildung aus wiederkehrenden sinnlichen Erfahrungen bieten die Ausführungen Ingrid Kleebergs zu eigens übersetzten Textauszügen Joseph Priestleys, der mehr als Physiker und Entdecker des Sauerstoffes bekannt geworden ist denn über seine Beiträge zur Assoziationspsychologie. Ein ebenso gutes Beispiel für die originelle und themensensible Quellenauswahl ist die von Albert Schirrmeister interpretierte „Predigt gegen Müßiggang“ des Freiherrn Adolph von Knigge, denn so erwartbar die Aufnahme Knigges in einen Band über schlechte Angewohnheiten auch sein mag, stellt die Predigt doch ein kaum beachtetes Seitenstück seines Werkes dar.

Freilich zeigt der Band trotz aller Präzisierungen auch, dass Gewohnheit ein schwer eingrenzbares, ja potentiell ausuferndes Konzept ist, dem immer noch ein Aspekt, wenn nicht sogar ein weiteres Diskursfeld hinzugefügt werden könnte. Dass Kleeberg als Wissenschaftshistoriker den akademischen Diskurs stärker als etwa kirchlich-religiöse Meinungen über schlechte Angewohnheiten fokussiert, ist erkennbar, unter den Bedingungen eines redundanten Untersuchungsfeldes aber ebenso verständlich wie leicht zu verkraften. Seinem Anspruch, einen Beitrag zur Wissensgeschichte einer einflussreichen Denkfigur zu leisten, wird das Buch gleichwohl umfänglich und auf zugleich anspruchsvolle wie unterhaltsame Weise gerecht.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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