M. Brösch u.a. (Hrsg.): Handbuch Nikolaus von Kues

Titel
Handbuch Nikolaus von Kues. Leben und Werk


Herausgeber
Brösch, Marco; Euler, Walter Andreas; Geissler, Alexandra; Ranff, Viki
Erschienen
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 79,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Hendryk de Boer, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Nikolaus von Kues zählt zweifellos zu den am besten erforschten Denkern des 15. Jahrhunderts. Dass ein großer Teil seiner Schriften inzwischen in teils kommentierten deutschen und englischen Übersetzungen vorliegt, erleichtert den Zugang zu seinem Werk ebenso wie die bereits verfügbaren Einführungen. Das anzuzeigende Handbuch, das aus der Arbeit des Trierer Instituts für Cusanus-Forschung erwachsen ist, stellt jedoch eine hochwillkommene Ergänzung gerade für jene dar, die einen ersten Zugriff auf Leben und Werk des Cusaners bekommen wollen. Dies gilt nicht zuletzt für seine Behandlung im Rahmen von universitären Lehrveranstaltungen. Gerade für den gezielten didaktischen Einsatz begleitend zur Lektüre cusanischer Schriften eignen sich die Beiträge des Handbuchs hervorragend. Die bisher auf Deutsch verfügbaren Einführungen sind zwar durchweg von hoher Qualität, jedoch entweder recht voraussetzungsreich und für Anfänger nur bedingt geeignet oder aber sie bieten einen spezifischen Zugriff auf Cusanus, der bestimmte Aspekte seines Werkes gegenüber anderen privilegiert.1 Die von Philosophen verfassten Einführungen konzentrieren sich obendrein vornehmlich auf sein philosophisches und theologisches Denken und seine Schriften, wohingegen sein Leben eher beiläufig behandelt wird. Die Standardwerke zur Biographie bleiben die in erster Auflage 1964 erschienene Arbeit von Erich Meuthen, deren letzte überarbeitete Auflage auf 1992 datiert ist, sowie die schon 1920 veröffentlichte Studie Edmond Vansteenberghes.2

All diese Darstellungen werden durch den Neuankömmling zwar nicht ersetzt, erfahren jedoch eine wichtige Ergänzung: Ein großer Vorzug des Handbuchs liegt nämlich darin, nicht nur die cusanischen Werke in chronologischer Reihenfolge vorzustellen, sondern im ersten Teil ausführlich seine Biographie und sein Nachleben in Form seiner Stiftungen darzustellen. Entbehrlich ist hingegen das kurze einleitende Kapitel zur Zeit des Cusanus, in dem die Mitherausgeberin Alexandra Geissler in knappen Strichen die politischen Entwicklungen im Europa des 15. Jahrhunderts skizziert. Um derartige Informationen zu erhalten, gibt es sicherlich geeignetere Orte als ein Handbuch zu Nikolaus von Kues, zumal Geissler einen sehr weiten Zugriff wählt. Die Darstellung der Situation in Spanien und England trägt nichts dazu bei, um Cusanus besser verstehen zu können. Sinnvoller gewesen wäre wohl, Räume und Orte des Cusanus kurz vorzustellen, zu denken wäre etwa an das Trierer Bistum, das Basler Konzil, Rom und die Kurie oder Brixen. Da dieser Ansatz allerdings im von Morimichi Watanabe verfassten Cusanus-Handbuch gewählt wurde3, mag die Entscheidung der Herausgeberinnen und Herausgeber, einen anderen Zugang zu wählen, nachvollziehbar sein.

Mit mehr als 70 Seiten ist der von Walter Andreas Euler, dem Leiter des Cusanus-Instituts, verfasste Beitrag zur Biographie sehr ausführlich geraten. Eng orientiert sich Euler an den Acta Cusana, auf die – soweit sie bereits vorliegen – regelmäßig verwiesen wird. Überhaupt ist es erfreulich, dass im Band durchweg nicht nur auf Handbuch- und Forschungsliteratur, sondern auch konsequent auf die Quellen verwiesen wird. Das Handbuch will offenkundig das Studium der Quellen nicht ersetzen, sondern den Zugang erleichtern. Eulers Beitrag kann als entscheidenden Vorzug gegenüber Meuthens Arbeit für sich reklamieren, dass er die gesamte jüngere Forschung in den Blick nehmen konnte. Insbesondere die Arbeiten Hermann Hallauers haben die Kenntnis von der Brixener Zeit des Cusanus erheblich zu vertiefen vermocht.4 Euler ist ein kundiger Führer durch das Leben des Cusanus. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht irritierend ist allerdings seine Neigung, mit den aus seiner Sicht problematischen Aspekten im Charakter seines Helden zu ringen. So heißt es etwa bezogen auf die Konflikte des Brixener Bischofs mit Herzog Sigismund von Österreich: „Natürlich war Cusanus Sigismund charakterlich und in Hinblick auf menschliche Integrität, Intelligenz und Wissen weit überlegen, aber er litt doch an bedenklichen Schwächen, die im Laufe der Auseinandersetzungen in Brixen mehr als deutlich zu Tage treten. Vor allem war er, wenn er sich moralisch im Recht fühlte, unfähig, nachzugeben und sich in die gegebenen Verhältnisse geschmeidig einzufügen“ (S. 79). Diese in der älteren – insbesondere biographischen – Forschung beliebte Neigung, den untersuchten Akteuren Kopfnoten zu verteilen, wirkt doch einigermaßen antiquiert. Ungleich hilfreicher sind Eulers Hinweise darauf, dass Cusanus’ rigoroses Vorgehen auf seiner Legationsreise im Reich oder als wenig erfolgreicher Reformator der Klöster seines Bistums ihn mit Nikolaus Staubach als Vertreter eines Reformpastorals kennzeichnet und insofern durchaus zeittypisch ist.

Ergänzend wäre darauf zu verweisen, dass Cusanus’ Handeln bei aller Spezifik auch viele Gemeinsamkeiten mit demjenigen anderer Kardinäle in der Mitte des 15. Jahrhunderts aufweist. Die in den letzten Jahren vermehrt erschienenen Studien zu Kardinälen und dem Kardinalat des Spätmittelalters böten Ansatzpunkte, den scheinbar so Singulären auch diesbezüglich konsequenter zu kontextualisieren als bislang geschehen. Unbedingt begrüßenswert ist die Entscheidung der Herausgeberinnen und Herausgeber, einen gesonderten Beitrag dem Testament und den Stiftungen des Nikolaus von Kues zu widmen. Bei Marco Brösch, Bibliothekar der Cusanus-Bibliothek im St. Nikolaus-Stift, liegt diese Aufgabe in denkbar guten Händen. In nüchternem Ton fasst Brösch die Ergebnisse des vor allem in den letzten Jahren wieder gestiegenen Interesses an den Stiftungen zusammen. Naturgemäß liegt das Hauptaugenmerk auf der Hospitalstiftung in Kues, deren baulicher Gestaltung und der Bibliothek, doch auch die Studienstiftung in Deventer, das St. Andreas-Hospiz der Anima-Bruderschaft in Rom sowie das Grabdenkmal in der Titularkirche des Kardinals, S. Pietro in Vincoli, finden die ihnen gebührende Aufmerksamkeit.

Überraschend ist, dass darauf verzichtet wurde, größere Linien des cusanischen Denkens in eigenen Artikeln darzustellen, sondern es ausschließlich in den seinen einzelnen Werken gewidmeten Artikeln zu präsentieren. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt sicherlich darin, dass so Entwicklungen sichtbar werden, ohne sie zwanghaft auf einen systematisierenden Nenner zu bringen. Für den Uneingeweihten bedeutet dies jedoch, dass er sich langsam seinen Weg durch die Fülle der Artikel tasten muss, um eine über die Einzelschrift hinausgehende Vorstellung der cusanischen Philosophie und Theologie zu erhalten. Gerade weil sich Cusanus in einem für mittelalterliche Denker ungewöhnlichen Maße an einigen wenigen Kernthemen, die ihn spätestens seit De docta ignorantia beschäftigten, abarbeitete, hätte sich angeboten, Begriffen und Konzepten wie concordantia, posse oder mens, aber auch dem Verhältnis von affirmativer und negativer Theologie oder der Christozentrik eigene Artikel zu widmen. Erschwerend kommt hinzu, dass auf ein Sach- und Begriffsregister verzichtet wurde.

Eine andere Entscheidung des Herausgeberteams hat sich, wie der Durchgang durch die Artikel zu den größeren Schriften zeigt, unbedingt bewährt: Sie folgen sämtlich einem einheitlichen Aufbau. Zunächst wird der Entstehungskontext dargestellt, darauf mehr oder weniger ausführlich Werkstruktur und Inhalt erörtert. Ein Abschnitt zu Analyse und Deutung sowie Forschungsstand und ein weiterer zur Wirkungsgeschichte runden die Artikel ab. Dass sich fast alle Beiträgerinnen und Beiträger diesem Schema gefügt haben, spricht für die konsequente Arbeit der Herausgeberinnen und Herausgeber. Besonders anregend sind zumeist die Abschnitte zu Analyse und Deutung beziehungsweise zum Forschungsstand ausgefallen. Nur selten begnügt man sich mit Kurzmeldungen im Telegrammstil, zumeist werden größere Linien und zentrale Forschungsfragen pointiert herausgearbeitet. Unter den vielen teils von Autorinnen und Autoren aus dem Umfeld des Instituts, teils von externen Fachleuten verfassten Artikeln seien hier nur wenige besonders gelungene erwähnt: Gerald Christianson zu De concordantia catholica, Tom Müller zu De reparatione kalendarii, Christiane Bacher über die Idiota-Dialoge, Susan Gottlöber zu De pace fidei und Cribratio Alkorani, Thomas Woelki zur Reformatio generalis, Hans Gerhard Senger zu De venatione sapientiae und zum Dialogus de ludo globi. Die kleineren Schriften werden in Sammelartikeln behandelt. Und so erhalten auch die mathematischen Schriften (Menso Folkerts), die im Kontext des Balser Konzils entstandenen Abhandlungen (Thomas Izbicki) sowie die antihussitischen Texte (Hans Gerhard Senger) den ihnen gebührenden Auftritt. Da in den letzten Jahren die Bedeutung der cusanischen Predigten nicht zuletzt durch die Arbeiten des Trierer Cusanus-Instituts immer deutlicher geworden ist, hat Walter Andreas Euler ihnen einen umfangreicheren, hochinformativen Artikel gewidmet, der nicht zuletzt durch eine Übersicht über alle Predigten mit Bibelwort, Datum, Predigtort und Stichpunkten zum Inhalt den Zugang zu diesem Corpus erheblich erleichtert.

Der letzte Teil des Handbuchs widmet sich unter dem Stichwort „Quellen und Rezeption“ in einem leider sehr kurzen Beitrag den für Cusanus wichtigen Autoren und Texten (Viki Ranff) sowie in einem etwas ausführlicheren der Rezeption des cusanischen Denkens. Hier kann Stephan Meier-Oeser anhand der produktiven Aneignungen im Umkreis des Konrad Celtis sowie durch Giordano Bruno einerseits und den Schwierigkeiten, die Jacques Lefèvre d’Étaples, Martin Luther oder Johannes Eck mit dem Koinzidenzgedanken hatten, andererseits eindrücklich die Ambivalenzen der Wirkungsgeschichte aufzeigen. Eine detaillierte Zeitleiste und eine ausführliche Bibliographie beschließen den Band. Gerade im Zusammenspiel mit den verfügbaren Einführungen in das cusanische Denken bietet das Handbuch insgesamt ein nützliches Arbeitsinstrument, um Cusanus zu lesen – nicht nur für Anfänger, sondern durchaus auch für den, der schon viel über den Bischof und Kardinal, konziliaristischen Theoretiker, spekulativen Mathematiker, Philosophen und Theologen zu wissen meint. Dass Cusanus dabei nicht auf den Begriff gebracht wird, sondern die Spannungen seines Wirkens und Denkens deutlich hervortreten, ist nicht etwa ein Nachteil, sondern ein entschiedener Vorzug.

Anmerkungen:
1 Kurt Flasch, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Vorlesungen zur Einführung in seine Philosophie, Frankfurt am Main 2001; Ders., Nicolaus Cusanus, München 2001; Norbert Winkler, Nikolaus von Kues zur Einführung, Hamburg 2001; Thomas Leinkauf, Nicolaus Cusanus. Eine Einführung, Münster 2006.
2 Erich Meuthen, Nikolaus von Kues, 1401–1464. Skizze einer Biographie, 7. überarb. Aufl., Münster 1992; Edmond Vansteenberghe, Le Cardinal Nicolas de Cues (1401–1464). L’action – la pensée, Paris 1920.
3 Morimchi Watanabe, Nicholas of Cusa. A companion to his life and his times, Farnham 2001.
4 Hermann Hallauer, Nikolaus von Kues Bischof von Brixen, 1450–1464. Gesammelte Aufsätze, Bozen 2002.