J. Vogel: Nationen im Gleichschritt

Titel
Nationen im Gleichschritt. Der Kult der "Nation in Waffen" in Deutschland und Frankreich, 1871-1914


Autor(en)
Vogel, Jakob
Erschienen
Goettingen 1997: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
404 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Baumeister, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

In den letzten Jahren hat die schwierige "Beziehungsgeschichte" zwischen Germania und Marianne in der historischen Forschung besonders von deutscher Seite verstaerkte Aufmerksamkeit gefunden. Der deutsch-franzoesische Vergleich gilt dabei massgeblich der eng aufeinander bezogenen Konstituierung zweier Nationen. Der alte deutsche Sonderweg gibt laengst nicht mehr die Richtung vor, sondern dient gerade noch als Fluchtpunkt, um Gemeinsamkeiten im Kontrast deutlicher hervorzuheben und das Bild europaeischer „Normalitaet" in den Umbruechen vom 19. zum 20. Jahrhundert in neue Proportionen zu setzen.
Jakob Vogel hat einen neuen, in der Aufarbeitung seines umfangreichen Quellenmaterials wie in der Praegnanz des Vergleichs vorbildhaften Beitrag zu dieser Art der deutsch-franzoesischen Annaeherung vorgelegt. Es geht ihm um das verblichene Faszinosum nationaler Militaerfeiern, die Buerger und Arbeiter, die Spitzen von Staat, Gesellschaft und Miltaer diesseits und jenseits des Rheins in der Begeisterung fuer bunte Uniformen, Paradeschritt und Marschmusik in demonstrativer Eintracht zusammenfuehrten. Er interpretiert die Aufmaersche als offiziellen Kult der "Nation in Waffen", der in beiden Staaten nach den grundlegenden politischen Revisionen im Gefolge des Krieges von 1870/71 zur symbolischen Integration der neu erstandenen Regime kreiert wurde.

Zunaechst verfolgt er die Entstehung der Feiern aus dem militaerischen Zeremoniell, das der Demonstration militaerischer Macht und zugleich der Darstellung der Beziehungen von bewaffneter und ziviler Gewalt diente. In Frankreich wie in Deutschland entwickelte sich der Kult im Spannungsfeld von Zentrum und Peripherie: Die jaehrliche Kaiserparade "wanderte" durch die Regionen des Deutschen Reichs, waehrend turnusmaessig in Berlin und Potsdam die Gardetruppen am Staatsoberhaupt und obersten Kriegsherrn vorbeimarschierten. Die junge franzoesische Republik band den Armeekult hingegen in den zum Nationalfeiertag erhobenen 14. Juli und liess die Truppen zugleich in den Garnisonsstaedten vor den Repraesentanten der Zentralregierung und in Longchamps bei Paris vor den Spitzen von Staat und Gesellschaft defilieren.

Vogels Augenmerk gilt weiterhin dem Wandel der Feierlichkeiten und dem in ihnen entworfenen sozialen Bild der Nation. Dem deutschen Kaiserreich erwuchsen zumal in seiner Gruendungsphase unter Wilhelm I. die schwierigsten Anforderungen aus der bundesstaatlichen Verfasstheit und dem preussischen Uebergewicht, denen man in erster Linie mit der regionalen Streuung der Kaiserparaden gerecht zu werden versuchte. Die Aesthetik der Paraden orientierte sich in einer Zeit rapider Modernisierung von militaerischer Technik und Taktik mit nachdruecklicher Foerderung durch Wilhelm II., an einem historisierenden Bild "soldatischer Schoenheit". Die franzoesische Fuehrung nutzte hingegen neue Waffensysteme und den Auftritt "exotischer" Kolonialtruppen zu einer staerker sensationalistischen Theatralisierung der Aufmaersche. Dieser deutlichere Gegenwartsbezug erklaert sich auch aus den Zwaengen fuer die neue, aus den Konvulsionen von Niederlage und Commune hervorgegangene Republik, sich einen bereits politisch "vorbelasteten" Armeekult anzuverwandeln. Zur Entzifferung des in den Feiern angelegten Entwurfs der nationalen Gesellschaft verlegt sich Vogel besonders auf die Betrachtung des in beiden Laendern streng hierarchisierten Publikums, der "militaerisch-nationalen Oeffentlichkeit", und der "Kommunion" zwischen Armee und Nation, wie es im Fall der Paraden am 14. Juli heisst. Die spezifische Semantik und Eigendynamik des militaerischen Schauspiels, die aus der uniformierten Egalisierung im "Gleichschritt" und der strikten Unterordnung der marschierenden Kolonnen unter den Befehlshaber erwaechst, geht Vogel jedoch nicht weiter nach. Ihm genuegt der Hinweis, dass das von der staatlichen und militaerischen Fuehrung inszenierte Ritual einerseits und Verfassungstheorie und -praxis auf der anderen Seite durchaus auseinanderklaffen.
Am spannendsten wird das Buch m.E. dort, wo es dem praesentischen Kult um die mithin sehr abstrakte "Nation in Waffen" durch die Analyse militaerischer Kriegsgedenkfeiern historische Tiefenschaerfe verleiht. Die Inszenierung solcher "Ursprungsmythen" der nationalen Armeen, die konkurrierenden politischen Anspruechen und Deutungen ausgesetzt waren, lassen sich eng zurueckbinden an die von tiefen Konflikten gezeichnete politische Kultur beider Staaten. Bei Siegern wie Besiegten wandelte sich die Bedeutung des Gedenkens an den Krieg von 1870/71 mit dessen wachsender Historisierung. In Deutschland schob sich am Vorabend des 1. Weltkrieges vor die Sedanfeiern, die bis gegen das Jahrhundertende in einer national-demokratischen und einer dynastisch-preussischen Ausrichtung die oeffentliche Erinnerung bestimmt hatten, die Vergegenwaertigung der Befreiungskriege in einer monarchisch-nationalen wie in einer voelkisch-nationalen Lesart. In Frankreich wich die Verdraengung der Niederlage allmaehlich der offiziellen Anerkennung und Instrumentalisierung des popularen Kriegsgedenkens. Waehrend man dort mit der fortschreitenden Stabilisierung des politischen Systems eine immer entschiedenere Republikanisierung der Kriegserinnerung vorantrieb, zeigte die deutsche Seite grosse Vorsicht im Umgang mit einer gespaltenen militaerischen Vergangenheit, um bundesstaatliche und aussenpolitische Empfindlichkeiten nicht zu verletzen.

Im Unterschied allerdings zu den Kriegsgedenkfeiern laesst sich an den nationalen Militaerfeiern i.e.S. der bruechige Konsens der "Nation in Waffen" kaum nachvollziehen. Vogel betreibt betraechtlichen Aufwand zum Nachweis, dass die Paraden eben kein Barometer politischer Spannungen darstellen, auch wenn in Frankreich der dezidiert politische Akt des 14. Juli immer wieder Gelegenheit zu rechten wie linken Strassenprotesten gegen die Regierung und das Verhalten der militaerischen Fuehrung bot. Nicht zuletzt durch die Beteiligung schaulustiger Massen, die von den privilegierten Tribuenenplaetzen ausgeschlossen blieben und deren Neugierde mehr der versammelten Prominenz denn dem militaerischen Ritual galt, wurden die Feiern zum Ort der Konsensstiftung - keineswegs jedoch durch die Inszenierung eines aggressiv nach aussen gewandten "Vaterlandes der Feinde", sondern vielmehr im Appell zur Einheit durch die Begeisterung ueber die dicht geschlossenen Marschreihen wehrbereiter, bunt uniformierter junger Maenner.

Vogels Buch ist weniger eine Studie zur Geschichte der Erfindung der Nationen oder zur Nationalisierung der Massen als vielmehr ein beachtenswerter Beitrag zur Rolle des Militarismus in der deutschen Monarchie und der franzoesischen Republik. Das Schauspiel der "Nation in Waffen" erweist sich als vergleichsweise eindimensional, der eher passive, weitgehend "von oben" instruierte "Zuschauernationalismus" bleibt an Komplexitaet etwa hinter den partizipativen Denkmalsbewegungen zurueck. Dagegen leitet Vogel aus den Militaerfeiern einen quasi naiven "Folkloremilitarismus" ab, der grundsaetzliches Einvernehmen mit der militaerisch-nationalen Verfasstheit der Gesellschaft beinhaltet, sich jedoch deutlich unterscheiden laesst von einer Ueberhoehung des Krieges und jeglicher Form des politischen Militarismus, auch was dessen populaere Varianten anbelangt. Der folkloristische Armeekult bildet ein zeittypisches Merkmal der europaeischen Staatenwelt vor dem Ersten Weltkrieg und gilt Vogel als wichtige Basis fuer die Bereitschaft der Volkmassen, ihrer Staatsfuehrung im Sommer 1914 in den Krieg zu folgen. Der Blick auf die nationalen Paraden allein kann nun sicherlich nicht die in der Studie hervorgehobene lebensweltliche Verankerung dieser Art der Militaerbegeisterung erfassen. Bedenklicher erscheint allerdings, dass nicht die Frage nach ihrem Verhaeltnis zu anderen unmittelbaren Breitenerfahrungen mit der Armee jenseits von klingendem Spiel und Paradeuniformen aufgeworfen wird, zum Wehrdienst in einem Klassenheer oder zur Realitaet der bewaffneten Gewalt, die auch als Herrschaftsinstrument nach innen eingesetzt wurde. Selbst ohne Krieg mussten dem folkloristischen Militaerenthusiasmus deutliche Grenzen gezogen sein.

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