Titel
Uta von Naumburg. Eine deutsche Ikone


Autor(en)
Ullrich, Wolfgang
Erschienen
Anzahl Seiten
144 S.
Preis
€ 15,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Holger Kirsch, Universität Bielefeld

Die "Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek" des Verlags Klaus Wagenbach ist laengst zu einer festen Institution geworden, die sich nicht allein an Fachhistoriker wendet. Die handlichen Baende sprechen durch die sorgsame Gestaltung ebenso an wie durch ihr inhaltliches Profil. Das Spektrum der Autoren reicht von Pierre Bourdieu ueber Carlo Ginzburg bis zu Christian Meier - um nur einige "grosse Namen" herauszugreifen. Neben aelteren Klassikern (wie z.B. Aby Warburgs "Schlangenritual") und deutschen Erstausgaben programmatischer Texte (wie z.B. Pierre Noras "Zwischen Geschichte und Gedaechtnis") werden auch Arbeiten juengerer Kulturwissenschaftler in die Reihe aufgenommen. So hat der Philosoph und Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich kuerzlich einen Band ueber Uta von Naumburg als "deutsche Ikone" vorgelegt, um den es hier gehen soll (1).

Doch halt - nicht die askanische Markgraefin Uta aus dem 11. Jahrhundert wurde zum Ausgangspunkt populaerer und wissenschaftlicher Imaginationen, sondern ihre Steinfigur im Westchor des Naumburger Doms. Ueber die historische Gestalt der Adligen ist nur gesichert, dass sie in kinderloser Ehe mit Ekkehard II. von Meissen verheiratet war (dessen Figur sich ebenfalls unter den zwoelf Stiftern im Dom befindet). Ein unbekannter Kuenstler fertigte die Skulpuren um 1250 an, so dass diese schon wegen des Zeitabstands keine Portraetaehnlichkeit aufweisen koennen. Wohl selten besteht ein derart eklatanter Gegensatz zwischen einer mittelalterlichen Figur der Realgeschichte und der Kunst einerseit sowie modernen Projektionen andererseits. Ullrich geht den Stereotypen der Rezeption und ihrem historischen Wandel nach. Dabei kann er zeigen, dass noch bis ins fruehe 20. Jahrhundert ein auffaelliges "Desinteresse" an den Stifterfiguren bestand (S.7-19). Ein erster Kupferstich von 1728 blieb voellig isoliert. Novalis war mehrfach in Naumburg, aber nie im Dom; Goethe besuchte den Dom, erwaehnte aber den Westchor nicht; Schadow stufte die kuenstlerischen Formen immerhin als "merkwuerdig" ein. Die erste ideologische Vereinnahmung datiert von 1914: Nachbildungen der Naumburger Figuren sollten auf einer Messe das deutsche Volkstum symbolisieren. Dies hatte Neuigkeitswert und korrespondierte noch nicht mit einem entsprechenden Bildgedaechtnis der Betrachter. Wenig spaeter aenderte sich die Situation grundlegend - die Kunstwerke erhielten ikonischen Charakter, und es war speziell "Frau Uta", die die Phantasie befluegelte.

Ullrich bietet Erklaerungsversuche fuer die Nichtbeachtung und fuer die seit den 20er Jahren ueberschiessende Sinnkonstruktion an. Die Figuren entsprachen nicht dem klassischen, im 19. Jahrhundert dominierenden Skulpturenideal. In dem Masse aber, wie die philosophisch reflektierte Aesthetik Schillers und Hegels verflachte, faszinierte Uta von Naumburg die Rezipienten "gerade in der Mischung aus Lebensnaehe und Klassizitaet" (S. 28). Das "Ineinander von Liebreiz und abweisend Schroffem" (S. 30) machte die steinerne Figur zu einer deutschen Inkarnation der Goettin Artemis. Die Materialitaet des Muschelkalks hinderte die Betrachter nicht, der Skulptur bestimmte Charakterzuege zuzuweisen und sie als lebendige Gestalt wahrzunehmen (S. 81-86). Neben den zeitbedingten Orientierungsbeduerfnissen nach dem Ersten Weltkrieg gab es dafuer eine konkrete mediengeschichtliche Ursache: Ueber Fotografien erlangte der Dom einen neuartigen Bekanntheitsgrad. Der in Naumburg geborene Fotograf Walter Hege (1893-1955) verstand es, die Kunstwerke mit der Kamera geschickt zu inszenieren. Manche Besucher vor Ort waren enttaeuscht, ihre von Buechern und Postkarten herruehrenden Erwartungen nicht befriedigt zu sehen (S. 71-79).

Solche Erwartungshaltungen und "Rezeptionsrituale" (S. 65-70) sind es, die Ullrichs allgemeineres Interesse am Uta-Kult bestimmen. Anhand von Lyrik, Romanen, Buehnenstuecken, kunsthistorischen und sonstigen Beschreibungen decouvriert er ein Ergriffenheitspathos, in dem Kunstbetrachtung zur blossen "Banausie" (Adorno) verkommen ist. Die geballte Mischung aus Kitsch und Ideologie dieser Quellen ist bisweilen schwer ertraeglich, doch bezieht Ullrich die ausfuehrlichen Zitate stets auf systematische Fragestellungen.

Bei der Sprachanalyse kommt es ihm zugute, an Heideggers Texten geschult zu sein (2). Den Verzicht auf eine chronologische Gliederung mag man zunaechst als Manko empfinden; dadurch wird aber deutlich, dass der Nationalsozialismus lediglich Tendenzen radikalisierte, die in einer klischeehaften Kunstrezeption der Weimarer Republik bereits angelegt waren.

In der Hoffnung auf Ergriffenheit steigerten sich selbsternannte Kunstglaeubige in eine Sprache hinein, die mindestens verworren, oft aber hochgradig ressentimentgeladen war. Zwischen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlichen, christlichen und nationalistischen Autoren gab es dabei nur geringfuegige Unterschiede. Die bevorzugte Haltung gegenueber den Stifterfiguren war eine andachtsvolle Ehrfurcht. Liess die Ueberwaeltigung auf sich warten, sorgten "Versagensaengste" und "Erlebnisdruck" (S. 78) fuer um so exaltiertere Aeusserungen. Eine publizistische Debatte, in der die Auswuechse korrigiert worden waeren, konnte nicht aufkommen, weil sich die - meist maennlichen - Verfasser gegenseitig zu uebertreffen suchten. Ullrich fasst praegnant zusammen, worin er das eigentliche "Rezeptionsunglueck" sieht (S. 130): "Die Fatalitaet von Romantik und Innerlichkeit, die keiner strengen Selbstkontrolle unterliegen, wird kaum anderswo deutlicher als im Fall von Naumburg. Leidende Identifikation, Suche nach Erhabenheit, mystisch-einsame Versenkung, nationalistische Verklaerung, Sentimentalitaet und Schwermut - das alles sind Rituale einer ueberzogenen Erwartungshaltung gegenueber Kunst.

Das Unglueck ergab sich daraus - und hierin besitzt der Fall 'Naumburg' eine gewisse Allgemeingueltigkeit -, dass man meinte, das 'Kunsthafte' der Stifter mit Hilfe eines eigenen Verhaltens eigens erspueren und isolieren zu koennen. Man hatte kaum ein sachliches Interesse an den Figuren, sondern einfach nur Sinnbeduerfnisse, derentwegen man sich ueberhaupt in die Kunst und dann ersatzweise, aus uneingestandener Verlegenheit, in die Sprache fluechtete. Wo der Sinn einer Sache nur darin gesucht wird, Sinn zu stiften, begibt man sich aber in einen Leerlauf, durch den die Rezeption anstrengend wird und schliesslich doch erfolglos bleibt."

Diese Ueberlegungen haben eine unveraenderte Brisanz, auch wenn die ideologisierten Extremformen des Nationalsozialismus der Vergangenheit angehoeren. Noch im heutigen Reisefuehrerdeutsch klingt ein Teil frueherer Interpretationsmuster nach (3): "Ein Gesicht, dessen Anmut und zarte Schoenheit die Menschen seit Jahrhunderten fasziniert: Die Markgraefin Uta von Ballenstedt steht als Stifterfigur im Westchor des Naumburger Doms. Sie hat den Mantelkragen hochgeschlagen, als muesse sie sich vor der kalten Ausstrahlung ihres Ehemanns Ekkehard schuetzen. Der Kuenstler, der die Figuren im 13. Jahrhundert schuf, wird um die unglueckliche Ehe der beiden gewusst haben."

Auch wer Ullrichs Buch mit einem staerker historischen Interesse an der nationalsozialistischen Mittelalterrezeption liest, wird manches Neue erfahren oder Bekanntes unter neuer Perspektive betrachten. In der Ausstellung "Entartete Kunst" von 1937 musste Uta als "Gegenbild" zu den missliebigen Frauendarstellungen Dix', Noldes und anderer herhalten. Im Propagandafilm "Der ewige Jude" von 1940 stand die Skulptur ebenfalls fuer eine ueberzeitliche Reinheit, die es gewaltsam wiederherzustellen gelte (S.43-48). Die Widerspruechlichkeit des damaligen Frauenbildes liess Uta zugleich als keusches Maedchen und als "Mutter des Volkes" erscheinen (vgl. S. 53). Ullrich verdeutlicht, wie NS-Utopien in die mittelalterliche Vergangenheit projiziert wurden, um spezifische Zukunftsabsichten mit den Weihen eben dieser konstruierten Vergangenheit auszustatten.

Hatten die Stifterfiguren schon nach dem Ersten Weltkrieg als Impulsgeber antifranzoesischer Ressentiments gedient, so konnte der Naumburger Dom in der NS-Zeit als "Halle deutscher Innerlichkeit" und "Herzkammer der deutschen Nation" bezeichnet werden (vgl. S. 105-122). Den Zweiten Weltkrieg ueberstanden die Figuren im Schutz von Sandsaecken und Verschalungen unversehrt. In den 50er Jahren versuchten beide deutsche Staaten, sie zu Mahnsymbolen der Einheit aufzubauen; erst dann traten die ideologischen Zumutungen in den Hintergrund. Es ist zu hoffen, dass die Kunstwerke in der "Berliner Republik" nicht erneut mit ausseraesthetischen Bedeutungen befrachtet werden.

Wolfgang Ullrich ist ein luzider Essay gelungen, der viele weitergehende Fragen aufwirft. Deshalb waere wuenschenswert gewesen, dass der Autor zumindest im Anmerkungsteil theoretische Ansaetze einbezogen haette, die die Mittelalterrezeption in ihrer allgemeineren Relevanz fuer das Selbstverstaendnis der Neuzeit erschliessen. So hat Otto Gerhard Oexle praezise herausgearbeitet, wie die Vorstellungsmuster vom Mittelalter eine "Problemgeschichte der Moderne" reflektieren (4). Da Ullrich zum Teil die gleichen Autoren zitiert wie Oexle - Wilhelm Pinder, Hubert Schrade u.a. -, waere hier ein zusaetzlicher Erkenntnisgewinn moeglich gewesen. Offen bleibt schliesslich - und dies ist nicht als Kritik am rezensierten Buch gemeint -, was ueberhaupt "angemessene" Formen der nichtwissenschaftlichen Kunstbetrachtung und der (geschichts-) wissenschaftlichen Kunstkritik sein koennten. Wie lassen sich die differenten Logiken von Kunst, Wissenschaft und Oeffentlichkeit so verbinden, dass jeder der Bereiche zu seinem eigenen Recht kommt? Das Gespraech darueber hat erst begonnen (5) und sollte weiter intensiviert werden.

Anmerkungen:
(1) Als geraffte Wiedergabe vgl. auch Wolfgang Ullrich, Uta, das Ewige Deutschland, in: DIE ZEIT, 23.4.1998, S. 88.
(2) Vgl. die Dissertation: Wolfgang Ullrich, Der Garten der Wildnis. Eine Studie zu Martin Heideggers Ereignis-Denken, Muenchen 1996.
(3) Matthias Gretzschel/Georg Jung, Sachsen-Anhalt, Hamburg 1994, S. 27.- Zur frueheren Deutung des Verhaeltnisses Uta/Ekkehard vgl. Ullrich, S. 31 ff., S. 97-104.
(4) Vgl. etwa Otto Gerhard Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwoerungen in der Weimarer Republik und danach, in: Susanna Burghartz u.a. (Hg.), Spannungen und Widersprueche. Gedenkschrift fuer Frantisek Graus, Sigmaringen 1992, S. 125-153; ders., Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte, in: Peter Segl (Hg.), Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Kongressakten des 6. Symposiums des Mediaevistenverbandes in Bayreuth 1995, Sigmaringen 1997, S. 307-364.
(5) Vgl. die Ueberlegungen bei Bernhard Jussen, Vom wissenschaftlichen und vom kuenstlerischen Arbeiten an der Vergangenheit, in: ders. (Hg.), Von der kuenstlerischen Produktion der Geschichte I. Jochen Gerz, Goettingen 1997, S. 7-32.

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