R. N. Lebow u.a. (Hrsg.): Politics of Memory

Cover
Titel
The Politics of Memory in Postwar Europe.


Herausgeber
Lebow, Richard Ned; Kansteiner, Wulf; Fogu, Claudio
Erschienen
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
$ 23.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin von Lingen, Sonderforschungsbereich 437 "Kriegserfahrungen", Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Im Spannungsfeld von Kriegserinnerung, Kriegsverbrecherprozessen und Aufarbeitung gilt der Erfolg der „Säuberung“ in Europa als Indikator für die Stabilität der Nachkriegsdemokratien. Die Forschungslandschaft wurde in den letzten Jahren durch wichtige Publikationen bereichert. 1 Der Sammelband aus den USA, in dem amerikanische und europäische Autoren vertreten sind, stellt einen Querschnitt neuerer Ansätze zur Erforschung des Zusammenhangs von „memory“ und „identity“ dar und fragt nach der Wirkung der Ahndungsmechanismen, um daraus Rückschlüsse auf die zukünftige Politik, sowie die Herausbildung einer gemeinsamen Identität in der Europäischen Union zu ziehen. Anhand von Leitfragen nach Phasen, Akteuren und Deutungsmustern untersuchen die Autoren der Länderstudien zu Deutschland, Österreich, Italien, Polen, Frankreich und der Sowjetunion die Nachhaltigkeit und Wirkung von Ahndungsprozessen. Erstmals ist auch die Schweiz in das Sample einbezogen, was zweifellos der Debatte um das „Nazigold“ geschuldet ist.

Die Stärke des Buches liegt in den Beiträgen der Herausgeber, die die Aufgabe übernommen haben, das in den Länderstudien gebotene Material zu ordnen und theoretisch zusammenzuführen. Ausgehend von der These, dass ein „Sinnrahmen“ die kollektive Erinnerung präge, wird nach dem Verständnis bestimmter, für die jeweilige Nation zentraler Ereignisse gefragt – und nach der Verformung des „Sinnrahmens“ unter dem Druck äußerer Einwirkungen. Lebow unterscheidet einleitend drei verschiedene Typen von Erinnerung: die kollektive, die individuelle und die institutionelle. Da es schwierig sei, das Konzept der kollektiven Erinnerung methodisch präzise anzuwenden, sei die Erforschung der institutionellen Erinnerung vorzuziehen. (S. 10) Die offizielle Erinnerung, konstruiert von politischen Eliten eines Landes, befördert durch Medien, Schulunterricht und öffentliche Gedenkanlässe, wirke auf die individuelle Erinnerung der Einzelnen und konkurriere mit ihr um die „gültige“ Version.

Nach Lebow lassen sich dabei drei Typen von Bewältigungsstrategien unterscheiden (S. 32): Zum einen das „Quarantäne-Prinzip“, das die als beschämend empfundene Vergangenheit aus der Geschichte der Nation ausblendete (wie etwa in Frankreich und Italien). Eine zweite Strategie bestehe in der fehlenden Auseinandersetzung mit der eigenen Täterrolle in Bezug auf den Holocaust (wie etwa in der Bundesrepublik bis 1960, vor allem aber in der DDR, in Österreich, Polen und Frankreich). Die dritte Strategie marginalisiere die Kollaborationsvergangenheit zugunsten einer in der Rückschau überdimensionierten Widerstandsbewegung, um bestimmte Gesellschaftsgruppen in den neuen Staat zu integrieren.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im Zweiten Weltkrieg kam einem Lackmustest gleich, wie Annamaria Orla-Bukowska für Polen zeigen kann (S. 180): Während in einigen ehemals okkupierten Ländern wie Dänemark oder Holland ein Rettungs-Narrativ zum Gründungsmythos des liberalen Nachkriegsstaates werden konnte, hat man in anderen Ländern (Polen, Frankreich, Italien) die Auseinandersetzung mit der Beihilfe am Völkermord bis in die 1990er-Jahre vermieden, um den Gründungsmythos des Staates, erkämpft im Widerstand gegen die Nazis, nicht zu schwächen. Einen Sonderfall stellt in dieser Hinsicht die DDR dar, die konsequent alle Verbindungslinien zu den Tätern der NS-Zeit leugnete und das eigene Staatswesen als Erfüllung des antifaschistischen Auftrags darstellte (siehe den Beitrag von Wulf Kansteiner). Neutrale Staaten wie Schweden und die Schweiz betonten zur Verschleierung ihrer Komplizenschaft dagegen die Hilfe für die Opfer und das Risiko, dem sie sich dabei ausgesetzt hätten.

Der Sammelband erreicht besonders dort eine hohe Qualität, wo sich der methodische Zugriff erweitert. So gehört Orla-Bukowskas Analyse der nationalen Identitätsbildung in Polen um spezifische „Achsen der Erinnerung“ herum – wie etwa Gedenktage und Monumente – zu den Höhepunkten des Buches. Ebenso anregend ist Regula Ludis Auseinandersetzung mit dem Problem der wirtschaftlichen Kollaboration neutraler Staaten am Beispiel der Schweiz.

Für die Formung nationaler Identitäten besonders wichtig war die Ausgangsposition bei Kriegsende, so Lebow. Dieses Modell wird im Abschlussessay von Claudio Fogu und Wulf Kansteiner noch einmal zugespitzt, wobei sich herausstellt, dass die Periode der wichtigsten Veränderungen überall die Zeit von den 1960er bis zu den 1980er-Jahren war. (S. 296) Allerdings vermag der Band nicht zu erklären, warum es Übereinstimmungen gibt, obwohl die Abrechnung verschieden verlaufen ist.

Die Länderstudien bieten eine hervorragende Zusammenfassung des Forschungsstands. In Österreich, so kann Heidemarie Uhl belegen, musste erst der „Opfermythos“ überwunden werden, demzufolge Österreich von Hitler zum Mitmachen gezwungen worden sei. Mit dem Segen der Alliierten konnte man in der Alpenrepublik über Jahrzehnte den österreichischen Täteranteil an Judendeportation, Kriegsverbrechen auf dem Balkan und Einsatzgruppen-Gräueln im Osten verschleiern. Die Debatte um Kurt Waldheim (ab 1986) brachte die Auseinandersetzung mit den österreichischen Tätern in Gang.

Wie Richard J. Golsan herausarbeitet, wird das Erbe Vichys in Frankreich seit Henry Roussos Pionierstudie zum „Vichy-Syndrom“ gern mit einer Krankheit verglichen. Hier kann der Prozess gegen Klaus Barbie von 1987 als Wendepunkt gelten: Nun stellte die Auseinandersetzung mit französischer Kollaboration den Résistance-Mythos in Frage. (S. 94) Deutlich wird auch, dass die Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit weitere Verschiebungen des französischen „Sinnrahmens“ hervorrufen dürfte.

Kansteiner argumentiert in seinem Aufsatz zur Bundesrepublik Deutschland, dass die Deutschen zwar den Krieg verloren, die Schlacht um die Erinnerung jedoch gewonnen hätten. Die Ritualisierung des Gedenkens besonders an den Judenmord habe sich oberflächlich ins Gedächtnis der Nation eingeprägt, ohne jedoch den Einzelnen zu beschämen. (S. 103) Die politische „Normalisierung“ der zwischenstaatlichen Beziehungen nach 1989/90 habe jedoch gerade durch die Anerkennung der Schuld am Holocaust Glaubwürdigkeit und Dynamik erhalten und sogar eine Auseinandersetzung mit früheren Tabuthemen ermöglicht (Bombenkrieg, Vertreibungen).

Fogu beleuchtet die italienische Spielart des Opfermythos, der seine Bürger unter dem Schlagwort „Italiani brava gente“ als unfähig zur Grausamkeit einstufte und der Erforschung des Täterhandelns bis in die 1990er-Jahre im Weg stand. Dazu trug nicht zuletzt der Gründungsmythos des Nachkriegsstaates bei, der durch die Heroisierung des zweijährigen Kampfes der „Resistenza“ die zwanzigjährige faschistische Herrschaft aus der Erinnerung verdrängte. Nach dem Zusammenbruch der italienischen Parteienlandschaft von 1990 stand auch dieser Gründungsmythos zur Disposition – ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist.

Orla-Bukowska lenkt den Blick auf die nationale Identitätsbildung in Polen, die durch den „exklusiven Referenzpunkt“ des Widerstands gegen die deutsche Besatzung geprägt worden sei. (S. 177) Erkennbar wird am Fall Polen die doppelte Identitätsbildung als Phänomen der Ostblockstaaten: Die offizielle Version stand in scharfem Kontrast zur individuellen Erinnerung, die vor allem die Leiden unter der stalinistischen Okkupation konservierte und sich auf die Helden der „Armija Krajova“ sowie deren enttäuschte Zukunftsvisionen und Ermordung nach 1945 konzentrierte. (S. 183)

Ludi erläutert in ihrem Essay, dass die neutrale Schweiz eine Schlüsselposition im umkämpften Europa einnahm und diesen Vorteil weidlich nutzte. Der verschwiegene Schuldkomplex der wirtschaftlichen Kollaboration führte zu einer besonders kompromisslosen, prowestlichen Haltung im Kalten Krieg und einer bemerkenswerten Aufrüstung – eine Folge des Traumas von der deutschen Übermacht. (S. 239) Der Schweizer Mythos, politische Zugeständnisse lediglich zur Erhaltung der Neutralität und Rettung Verfolgter gemacht zu haben, weicht nur allmählich einem kritischeren Blick auf Exportabkommen und Devisengeschäfte.

Thomas C. Wolfe zeigt, dass die Sowjetunion der einzige Siegerstaat war, der die Zäsur von 1945 zur Ausformung einer bis dahin noch unerreichten kommunistischen Identität genutzt hat. Er konstatiert, dass ab 1989 zunächst Sieger-Narrative aus der Kriegszeit wieder an Bedeutung gewonnen hätten, bevor die junge Generation die Zeit des Stalinismus thematisierte. Dies ist jedoch eine etwas zu positive Sicht der Dinge, denn im Russland Putins eine Verbindung zwischen Krieg und Stalinismus herzustellen verbietet sich gerade wegen des Sieges für die meisten russischen Wissenschaftler noch immer.

Führte das Ende des Kalten Krieges in Europa nicht nur zur Herausbildung neuer, freiheitlicher Staatsformen, sondern auch zur Transformation der Kriegserinnerung und der daraus gebildeten Gründungsmythen, so dient die Erinnerung an die NS-Zeit heute vornehmlich zur Rechtfertigung im Kampf gegen Unrecht. Diese Sicht hat zur Definition der politischen Rolle der EU beigetragen. Der Sammelband dokumentiert einen fruchtbaren Austausch von Spezialisten auf dem Gebiet der Vergangenheitspolitik und Kriegserinnerung, der für die weitere Forschung sehr anregend ist; dabei eröffnet er zugleich einen historisch fundierten Blick auf das Selbstverständnis des heutigen Europas.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa: Deák, István; Gross, Jan T.; Judt, Tony (Hrsg.), The Politics of Retribution in Europe, Princeton 2000; Frei, Norbert; Knigge, Volkhard (Hrsg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung zwischen Holocaust und Völkermord, München 2002; Frei, Norbert (Hrsg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch