Die vorliegende Studie von Hans-Werner Goetz widmet sich der Chronik Reginos von Prüm, dem „wichtigste[n] und interessanteste[n] Geschichtsschreiber der ausgehenden Karolingerzeit“ (S. 10). Trotz mannigfacher Forschungen zu Regino beleuchtet der bisherige Blick der Mediävistik die Chronik allein unter eher schlaglichtartigen Fragestellungen1, sodass, so viel sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, Hans-Werner Goetz mit diesem Werk ein Forschungsdesiderat füllt – eine gesamtheitliche Würdigung der Chronik. Damit möchte er nicht nur Mediävisten, sondern auch einem an Regino und dessen Chronik interessierten Publikum den Zugang erleichtern.
Diesem Anspruch kommt Hans-Werner Goetz bereits in seiner Einleitung (S. 9–18) nach. Er schafft bei seinen Lesern eine Verständnisgrundlage des mittelalterlichen Geschichtsschreibers und dessen Werkes, indem er eine knappe Vorstellung Reginos von Prüm gibt, dem eine Zusammenfassung der Überlieferungslage sowie ein Abriss des bisherigen Forschungsstands folgen. Aus eben diesem leitet sich schließlich das Vorhaben der Studie ab – ein Gesamtüberblick der Chronik unter Berücksichtigung fünf spezifischer Akzente, die zugleich die strukturgebenden Kapitel der Arbeit bilden: 1) Reginos Methode der Geschichtsschreibung, 2) die Interessen, die er mit seiner Chronik verfolgte, 3) seine politischen Vorstellungen, 4) sein Geschichtsbild bezüglich Vergangenheit und Gegenwart sowie 5) sein historiographischer Umgang mit Zeit.
Das erste Kapitel (S. 19–33) legt den Fokus auf den Aufbau der Chronik und welche Ziele Regino mit diesem verfolgte – oder kurz gesagt: Wie schreibt Regino Geschichte? Neben dem kompilatorischen Vorgehen, betont Goetz die Aufteilung des Werkes. Nicht ohne Grund unterteilte Regino seine Chronik in zwei Bücher, wobei sich das erste Buch über die Zeit von Christi Geburt bis Karl Martell und das zweite Buch vom Tod Karl Martells bis ins Jahr 906 erstrecken. Auch über diese Einteilung hinaus nutze Regino in seinem Werk Zäsuren auf konzeptionelle Art und Weise, um zum einen sein Zeitverständnis (Geschichte vs. Zeitgeschichte) deutlich zu machen und zum anderen unterschiedliche Sichtweisen (wertender vs. zurückhaltender Geschichtsbericht) einzunehmen. Darüber hinaus identifiziert Hans-Werner Goetz drei Maximen, die Aufschluss über das Selbstverständnis Reginos als Geschichtsschreiber gäben: a) Geschichtsschreibung halte erinnerungswürdige Taten der Menschen fest, sei b) der Wahrheit und c) dem Ideal der Kürze der Darstellung verpflichtet.
Nachdem Reginos Methodik beleuchtet wurde, folgt nun die Frage nach dem wozu. Dementsprechend widmet sich das zweite Kapitel (S. 35–68) den Inhalten und Zielen sowie dem Zweck der Chronik. Zielführend hierfür sei nicht die Gattungsfrage (Chronik oder Annalen), sondern vielmehr der Blick auf die von Regino bevorzugten Inhalte. Die Chronik gestalte sich aus einem Zusammenspiel unterschiedlichster Anliegen und Interessen des Chronisten, die sich vor allem im zweiten Buch manifestieren würden, welches die eigenständigen Berichte Reginos beinhaltet. In diesem Kontext räumt Hans-Werner Goetz mit so mancher Forschungstradition, wie der Bezeichnung der Chronik als fränkische Geschichte (S. 43), auf. Weitere Lesarten und Zuschreibungen zu Sinn und Zweck der Chronik reichen von einer Charakterisierung als karolingische Geschichte, über eine Typisierung als „Fürstenspiegel“ für Ludwig das Kind, einer Kategorisierung als Heldengeschichtsschreibung oder lothringische Geschichte bis hin zur Klosterchronik. All diesen Zuschreibungen ist jedoch ein wesentlicher Kritikpunkt von Hans-Werner Goetz gemein, nämlich die Außerachtlassung des ersten Buches – denn unter Hinzunahme jenes verschiebe sich der wesentliche Inhalt der Chronik auf das Christliche. Der häufig von Regino genutzte Begriff „unsere Zeit“ (nostris temporibus) sei somit gleichbedeutend mit der christlichen Zeit. Nicht zuletzt beginnt Regino mit Jesu Geburt und betone durch seine Auswahl christlicher Berichte aus seinen Vorlagen deutlich den christlichen Rahmen seiner Chronik.
In diesen Rahmen bettet Hans-Werner Goetz im dritten Kapitel (S. 69–95) politische und religiöse Vorstellungen, die bei Regino eng miteinander verknüpft seien, ein – denn gerade dem christlichen Horizont der Chronik sei bisher noch nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt worden. Um den politischen Vorstellungen Reginos näher zu kommen, werden dessen Königs- und Reichsideal untersucht. Im Kontext des Königsideals arbeitet er heraus, dass Regino vor allem moralisch und weniger politisch urteile. Christliche Aspekte wie Gottvertrauen und Frömmigkeit seien für den Chronisten entscheidend für politischen Erfolg. Zum Reichsideal Reginos sei festzuhalten, dass diesem zwar ein starkes, einiges Karolingerreich ein Anliegen sei, aber nicht zwingend ein „Imperium“ sein Zielbild darstelle. Vielmehr sei der friedliche Zustand der Könige der einzelnen Teilreiche entscheidend, welches sich aus dem Anvertrauen der göttlichen Lenkung durch den Herrscher ergebe. Beiden Aspekten ist gemein, dass Regino unter dem Zerfall des Karolingerreiches leide und nach Erklärungen hierfür suche. Diese Zustände der Gegenwart messe er an vergangenen Geschehnissen, sodass sich im folgenden Kapitel dem Vergangenheitsbild Reginos gewidmet wird.
Das vierte Kapitel (S. 96–110) beginnt mit einem kurzen Exkurs zum Verständnis von Zeit (physikalische vs. historiographische/theologische Zeit), dem ein eigens entworfenes Schaubild beigefügt ist. Das Vergangenheitsbild Reginos, so Hans-Werner Goetz, sei vom Wandel bestimmt, der gleichzeitig sowohl zur Unterscheidung als auch der Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart diene. In diesem Sinne unterscheidet Hans-Werner Goetz vier Gegenwartsbegriffe für Regino – ebenfalls um eine graphische Darstellung (S. 109) angereichert –, wenn dieser von „unserer Zeit“ spricht: a) die ganze christliche Zeit, die noch einmal in b) die eigene Väterzeit (Patristik) / die Zeit der Vorfahren (fränkische Geschichte) sowie c) die jüngste Gegenwart (Zeitgeschichte im heutigen Sinne) unterteilt werden könne.
Nachdem die theoretischen Grundlagen zu Reginos Zeitverständnis dargelegt wurden, widmet sich das fünfte und umfangreichste Kapitel (S. 111–154) der praktischen Umsetzung und dem Umgang des frühmittelalterlichen Geschichtsschreibers mit dem Phänomen Zeit. Dem Kapitel vorangestellt ist eine kurze, allgemeine Einführung zu diesem Thema (physikalische Zeit vs. Zeit als Mentalitätsphänomen) sowie einer Einordnung des Verständnisses von Zeit im Frühmittelalter. Die Untersuchung der praktischen Umsetzung der Zeitvorstellung nimmt Hans-Werner Goetz anhand von fünf Aspekten vor: Die a) Zeitterminologie zeige durch Reginos Gebrauch von vagen und ungenauen Begriffen, dass ihm die zeitliche Einordung bzw. die Reihenfolge von Ereignissen wichtiger als die spezifische Zuordnung eines Geschehnisses zu einem Datum gewesen sei. b) Epochen als „Organisation“ des Zeitablaufs ließen sich bei Regino nicht feststellen. Bis auf die Einteilung seiner Chronik in zwei Bücher habe er keinerlei Anstalten gemacht, gängige Lehren (Abfolge der vier Weltreiche oder die sechs Weltalter) als strukturgebendes Mittel in seiner Chronik zu gebrauchen. Nach einer Aufstellung unterschiedlicher c) Datierungssysteme des Frühmittelalters, betont Hans-Werner Goetz die „innovative chronologische Leistung“ (S. 123) Reginos, der die Zählung nach Inkarnationsjahren als erster Chronist überhaupt auf die Zeit ab Christi Geburt angewandt habe. Mit Anwendung dieser d) Zeitberechnung habe Regino somit die Inkarnationsära mit den traditionellen Datierungssystemen der antiken Autoren synchronisiert, was nicht ohne Herausforderungen möglich gewesen sei. Regino e) visualisiere Zeit überdies in seiner Chronik, indem er Datierungen hervorhob und somit Jahresangaben als Zeitfaktor eine sichtbare Bedeutung zugewiesen und eine leichtere Handhabung der Chronik ermöglich habe.
Dem Fazit (S. 155–162), in welchem Hans-Werner Goetz die wesentlichen Inhalte und gewonnenen Erkenntnisse pointiert zusammenzufassen versteht, folgen ein Abbildungs- (S. 163–166) sowie ein Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 167–178). Ein ausführliches Register zitierter Belege der Chronik sowie ein Namens- und Sachregister (S. 179–210) beschließen das Werk.
Diese Studie zu Reginos Chronik zeichnet sich nicht zuletzt durch unterschiedliche Zugriffe aus – wie Vorstellungsgeschichte, Geschichtsschreibung und deren Verknüpfung mit Geschichtsbewusstsein, Vergangenheitswahrnehmung –, denen stellenweise selbstgefertigte Grafiken, tabellarische Auswertungen sowie mannigfache Abbildungen der unterschiedlichen Handschriften beigefügt sind, sodass dem Leser ein schrittweises Nachvollziehen ermöglicht wird. Der besseren Übersichtlichkeit Willen hat der Autor Schlagwörter in den einzelnen Kapiteln fett markiert, sodass der Leser auch beim Durchblättern relevante Textpassagen rasch zu finden vermag. Hans-Werner Goetz hat mit seinem Werk also wahrlich nicht nur ein Handbuch zur Chronik Reginos von Prüm geschaffen, sondern darüber hinaus das „bisher sträflich vernachlässigte erste Chronikbuch“ (S. 123) in den Fokus gerückt und in diesem Kontext neue Fragen eröffnet, die einer Antwort künftiger Mediävisten harren.
Anmerkung:
1 Exemplarisch für diese punktuellen Studien zu Reginos Chronik seien hier aufgeführt: Lennart Bohnenkamp, Regino von Prüm und die religiöse Bedeutung der Geschichtsschreibung im Frühmittelalter, in: Concilium medii aevi 14 (2011), S. 289–317, sowie Rob Meens, The Rise and Fall of the Carolingians. Regino of Prüm and his Conception of the Carolingian Empire, in: Laurent Jegou (Hrsg.), Faire lien. Aristocratie, réseaux et échanges compétitifs. Mélanges en l’honneur de Régine Le Jan (Histoire ancienne et médiévale 132), Paris 2015, S. 315–323.