Tristan Oestermann liefert in seiner Dissertationsschrift eine umfassende Darstellung der kamerunischen Kautschukwirtschaft zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft. Zwar ist sein 750 Seiten starkes Buch mit diesem zeitlichen Fokus innerhalb der Kolonialgeschichtsschreibung zu verorten, die er um Erkenntnisse zum Verwaltungshandeln des Gouvernements von Kamerun erweitert. Die wirkliche Neuartigkeit – und große Stärke – des Buches liegt jedoch in seinem Beitrag zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Zentral- und Westafrikas. Kautschuk war ab den 1890er-Jahren wichtigstes Exportgut Kameruns. Dieser „Goldrausch“ (S. 18) bildet den Hintergrund für Oestermanns Analyse, deren Fokus auf Produktion und Transport des Naturkautschuks liegt. Der Autor nimmt dabei nicht nur das Kautschukgeschäft deutscher Unternehmen in den Blick, insbesondere der deutsch-belgischen Gesellschaft Süd-Kamerun (GSK) und des Woermann-Konzerns, sondern räumt auch den für ihn entscheidenden Akteuren dieses Wirtschaftszweigs viel Platz ein: afrikanischen Händlern, „headmen“, Gummisuchern und Trägerinnen und Trägern.
Indem er deren vielschichtige Arbeitsbeziehungen minutiös aufarbeitet, widerspricht Oestermann der älteren Forschungsliteratur, die im Kautschukhandel vor allem Zwangsarbeit erkannte. Keineswegs verharmlost der Autor die Realität von Zwang und Gewalt, doch hebt er überzeugend die ebenso reale Bereitwilligkeit und Adaptivität afrikanischer Akteure hervor: „Große Teile der Bevölkerung Südkameruns versuchten, auf unterschiedlichste Weise von den neuen Möglichkeiten zu profitieren, die der Kautschukhandel eröffnete. […] In vielen Konstellationen waren zudem Afrikanerinnen und Afrikaner diejenigen, die die Bedingungen und Regeln des Kautschukhandels bestimmten“ (S. 19–20). Mit diesen zentralen Thesen ist das Buch Teil einer in der jüngeren Forschung stattfindenden Neubewertung afrikanischer Arbeit unter deutscher Kolonialherrschaft, die dem Narrativ der chancenlosen Kolonisierten widerspricht und stattdessen deren Handlungsmacht und Resilienz aufdeckt.1
Das Buch gliedert sich in sechs Hauptkapitel, von denen allein das erste 210 Seiten lang ist. Zwar sind die Analyseschritte wohldurchdacht und vermag Oestermann es, unzählige Details begründet einzuflechten. Durch die Kleinteiligkeit der Gliederung und die so entstehenden Wiederholungen – das sei als Kritikpunkt vorweggenommen – nimmt seine Studie an manchen Stellen jedoch eher enzyklopädischen Charakter an. Das verwässert mitunter den Blick auf sein eigentlich überzeugendes zentrales Argument, der Kautschukabbau und -handel habe Möglichkeitsräume für kamerunische Akteure geschaffen.
Die Grundlage dieses Arguments liefert Kapitel 2, das einerseits das Vordringen deutscher Firmen in Kamerun nachzeichnet, andererseits die regionalen Vorbedingungen des Kautschukhandels aufdeckt und dessen Arbeitswelt beschreibt. In den frühen 1890er-Jahren expandierten europäische Handelsfirmen nach Südkamerun und rüsteten dort Karawanen aus, welche im Landesinneren europäische Waren gegen Elfenbein und Kautschuk eintauschten und diese zur Atlantikküste brachten. Gleichzeitig formten afrikanische Händler eigene Karawanen. Als einziges Transportmittel kamen dabei menschliche Träger infrage. Die Transportarbeiterschaft der deutschen Küstenhändler bestand zunächst aus liberianischen Migranten. Diese wurden um die Jahrhundertwende aber von lokal rekrutierten Kräften abgelöst. Die neuen „Trip-Karawanen“ stellten eine professionalisierte Gruppe dar, die für individuelle Trips zwischen zwei Orten angeheuert wurde. Deren Zahl beziffert Oestermann um 1900 auf monatlich 8.000 Trägerinnen und Träger. Immer wieder macht er im Buch deutlich, dass tatsächlich beide Geschlechter in diesem Gewerbe tätig waren, was die bisherige Forschung weitgehend übersehen hat.
Der Handel mit Kautschuk unterschied sich vom Elfenbeinhandel insofern, als dass letzterer auf der Macht etablierter Familienoberhäupter mit vielen Angehörigen beruhte und somit kaum Aufstiegschancen bot. Dadurch, so der Autor, „gab es in Südkamerun in den 1880ern und 1890ern eine große soziale Gruppe nicht verheirateter, nicht etablierter, von Macht und Wohlstand ausgeschlossener Jungen und Männer“ (S. 72). Deren Chance kam mit dem Kautschukboom: Sie zogen individuell los und zapften Bäume an, verkauften das gesammelte Gummi und kamen so in den Besitz europäischer Waren, was wiederum die Zahlung der Brautgaben und die Heirat ermöglichte. Die selbstbestimmte Arbeit als Gummisucher verhalf den nicht-etablierten junge Männern somit zu Autonomie und sozialem Aufstieg. Ein Autonomieversprechen erkennt der Autor auch in der Karawanenarbeit: Anders als in den Expeditionen des Kolonialstaats marschierten die Transportarbeiter der Handelsfirmen häufig ohne die Aufsicht eines Europäers, konnten sich die Zeit frei einteilen und nutzten Übergriffe auf Dörfer zur Akkumulation von Besitz. Regulierungsversuchen widersetzten sie sich durch Streiks und Desertionen. Oestermanns Analyse bestätigt somit die von Stephen Rockel für Ostafrika nachgewiesene Selbstbestimmtheit und Gestaltungsmacht professioneller Transportarbeiter.
In Kapitel 3 untersucht der Autor das Kautschukgeschäft der GSK, einer Konzessionsgesellschaft im Südosten der Kolonie. Zwar nutzte die GSK bei der Arbeiterrekrutierung auch Zwangsmaßnahmen, jedoch verweist Oestermann darauf, dass es keinen systematischen Zwang, etwa in Form von Steuerarbeit, gab, wodurch verschiedene Formen der Rekrutierung parallel existierten. Wichtig war demnach auch hier das Streben „aufstiegshungriger Männer“ (S. 322) durch Arbeit zu Wohlstand und generationaler Autonomie zu gelangen. Unbeliebt war jedoch die Trägerarbeit bei der GSK. Diese beschreibt der Autor als streng reguliert, betont aber gleichzeitig, dass Träger und andere Arbeiter der GSK weiterhin fähig waren, ihren Alltag zu gestalten: der Gemeinschaftssinn und die geteilte Identität erlaubten kollektiven Arbeitskampf, während Arbeiter sich auch individuell entzogen, etwa durch vorgetäuschte Krankheiten.
Das vierte Kapitel rückt die afrikanischen Händler in den Fokus, welche nach der Jahrhundertwende zu tausenden für die Küstenfirmen (nicht aber die GSK) als Zwischenhändler agierten. Diese „trade backs“ genannten fliegenden Händler rekrutierten selbst Träger, häufig vermittels Gewalt und Täuschung, und zogen mit ihnen los, um Kautschuk mit europäischen Warenkrediten einzukaufen. In der Boomphase zwischen 1902 und 1907 stieg allerdings die Zahl an Händlern dermaßen, dass die Karawanenstraßen die Masse an durchziehenden Karawanen nicht mehr verpflegen konnten. Gewaltausbrüche waren die Folge. Die deutsche Kolonialverwaltung, deren vorheriges Handeln Oestermann als „Politik des laissez-faire“ (S. 447) charakterisiert, sah sich nunmehr zum Eingreifen gezwungen. Neben brutalen Militäraktionen sollte Ordnung durch Verwaltungsakte hergestellt werden, insbesondere die Sperrung besonders gefährdeter Gebiete, die Zurückdrängung der „trade backs“ durch Gewerbescheine und eine Trägerverordnung. Diese sollte zwar durch die Einführung einer Ausweisplicht und eines Zeitregimes die Karawanenkultur rationalisieren, durfte gleichzeitig aber nicht zu harsch wirken, um die Arbeiter nicht abzuschrecken.
Im gleichen Zeitraum änderte sich die Kautschukwirtschaft grundlegend, wie Kapitel 5 zeigt. Vertragsarbeit wurde zum gängigen Modell und immer mehr Kautschuk wuchs auf Plantagen. Gummi war ab 1906 die zweitwichtigste Plantagenkultur der Kolonie und es mehrte sich die zwangsweise Rekrutierung von Vertragsarbeitern durch afrikanische Mittelsmänner und später – nachdem das Gouvernement sich zum Einschreiten in dieses System genötigt sah – durch den Staatsapparat. Auf Plantagen war die Disziplin strenger als in früheren Arbeitsbeziehungen und wurde durch Gewalt durchgesetzt. Die GSK folgte in dieser Zeit einem anderen Anbaumodell, dem der forstwirtschaftlichen Produktion: Lohnarbeiter durchstreiften für sie das Konzessionsgebiet und sammelten Gummi, je Arbeiter in der Regel 10–15 Liter täglich. Das war eine radikale Abkehr vom bisherigen Modell der unabhängigen Gummisammler. Ganz verloren war die Autonomie jedoch nicht, wie der Autor im Einklang mit seinen Hauptthesen betont: Zum einen konnten sich die angestellten Sucher dem Druck im tiefen Wald immer noch leicht entziehen, zum anderen kamen viele Anwohnerinnen und Anwohner ins Konzessionsgebiet um dort verbotenerweise Bäume anzuzapfen.
Tristan Oestermann ist eine beeindruckende Gesamtschau der Kautschukproduktion in der Kolonie Kamerun gelungen, von deren Anfängen bis zur Entwertung des Wildkautschuks um das Jahr 1913. Diese, so umreißt er im kurz gehaltenen sechsten Kapitel, führte dazu, dass Händler sich verschuldeten und kaum noch Karawanen Kamerun durchstreiften. Nach Ende des Ersten Weltkriegs setzten die neuen französischen Kolonialherren auf „cash crops“, nicht mehr auf Kautschuk. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass es die Studie ausgezeichnet vermag, das emanzipatorische Momentum des Kautschukbooms sichtbar zu machen. Oestermann kommt dabei zu einem Fazit, welches – genau wie das gesamte Buch – Gewalt und Zwang durch Europäer nicht relativiert, sondern vielmehr einordnet: „Zwangsarbeit, Diebstahl, Erpressung, Prügel und Mord begleiteten Südkameruns Kautschukwirtschaft und waren zeit- und ortsweise bestimmenden Faktoren. Doch das Geschäft mit Kautschuk eröffnete gleichzeitig beinahe überall auch neue Chancen, die Teile der Bevölkerung enthusiastisch ergriffen“ (S. 664). Die Studie vermag dies überzeugend darzustellen, indem sie den afrikanischen Akteuren jenen Raum einräumt, der ihrer historischen Rolle entspricht.
Ein Desiderat ergibt sich gleichwohl aus dem kolonialgeschichtlichen Anteil von Oestermanns Erzählung. Eine Reihe von Studien hat nun für verschiedene deutsche Kolonien sowohl die Arbeitsbeziehungen als auch die staatlichen Regulierungsversuche untersucht und ist dabei zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. So entsprechen etwa die von Oestermann in Kapitel 4 skizzierte bis Mitte der 1900er-Jahre dominierende staatliche „laissez faire“-Haltung und die anschließenden Eingriffe des Gouvernements in das Karawanengewerbe fast genau jenen Maßnahmen, die der deutsch-ostafrikanische Kolonialstaat zur selben Zeit ergriff. Wie Wissen, Verwaltungspraktiken und die Kolonialbeamten selbst zwischen den einzelnen Ausläufern des deutschen Kolonialreichs und der Berliner Zentrale hin- und herwanderten, ist bislang aber weitgehend unerforscht. Es ist zu hoffen, dass Oestermanns überzeugende Studie nicht nur für weitere Arbeiten zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Kameruns eine wichtige Grundlage sein wird, sondern auch für eine zukünftige transkoloniale Geschichtsschreibung.
Anmerkung:
1 Vgl. Stephen J. Rockel, Carriers of culture. Labor on the road in nineteenth-century East Africa. Portsmouth, NH 2006; Michelle R. Moyd, Violent intermediaries. African soldiers, conquest, and everyday colonialism in German East Africa. Athens, OH 2014; Minu Haschemi Yekani, Koloniale Arbeit. Rassismus, Migration und Herrschaft in Tansania (1885–1914), Frankfurt am Main 2019; Andreas Greiner, Tensions of transport. Human porterage and state formation in colonial East Africa, c. 1890–1914, Cham 2022; Michael Rösser, Prisms of work. Labour, recruitment and command in German East Africa, Berlin 2024.