Publikationen aus dem Bereich der Gender Studies, die sich dezidiert mit Männlichkeit(en) befassen, sind in der mittelalterlichen Geschichte leider noch immer rar gesät. Für das Frühmittelalter wird diese Lücke nun teilweise durch den hier zu besprechenden englischsprachigen Sammelband der italienischen Herausgeber:innen Francesco Borri, Christina La Rocca und Francesco Veronese gefüllt. Elf Aufsätze in vier thematischen Sektionen sowie Einleitung und Schlussbemerkung widmen sich Männern und Maskulinität in der Zeit zwischen 450 und 1050; erschlossen werden kann der Band zusätzlich durch ein bündiges Personen- und Sachregister.
Die knappe Einleitung von Christina La Rocca liefert zunächst den obligatorischen forschungsgeschichtlichen Überblick zu den sogenannten Men’s Studies und zu rezenten Einflüssen (Judith Butler) auf die englischsprachige Mittelalterforschung zur Maskulinität. Außerdem wird die Beobachtung hervorgehoben, dass für das Mittelalter nicht von Männlichkeit im Singular, sondern vielmehr von einer Vielzahl von Männlichkeiten in zeitgenössischer Wahrnehmung, Vorstellung und als Ideal auszugehen sei. Insgesamt bleibt die Einleitung aber auf theoretischer Ebene etwas hinter dem Erwartbaren zurück (wenig zur Methodik) und verliert zudem kein Wort zur Genese des Bandes.
Die erste Sektion fasst drei Aufsätze zum Thema „Family Matters“ zusammen. Michael E. Stewart konzentriert sich mit General Sittas auf „a central and über-masculine figure in Procopius’ Wars“ (S. 20). Seine Hochzeit mit Komito, der älteren Schwester Kaiserin Theodoras, zu Anfang der 520er-Jahre, die Prokop im Gegensatz zu anderen Heiraten nicht erwähnt, nimmt Stewart zum Ausgangspunkt, um aristokratische Männlichkeitsentwürfe in justinianischer Zeit in den Blick zu nehmen. So trete eine neue, zunehmend kriegerisch geprägte in Konkurrenz zur traditionellen Männlichkeit der Elite, die vor allem auf vornehmer Abstammung und Kultiviertheit beruhte. Ebenfalls dem Thema Ehe widmet sich der Beitrag von Annamaria Pazienza, in dem sie Männer in den Fokus rückt, die sich im lombardischen Italien des 7. und 8. Jahrhunderts – entgegen der gängigen frühmittelalterlichen Praxis – nach der Heirat dem Hausstand der Ehefrau anschlossen. Diese Migration habe zwar zumeist einen sozialen Aufstieg zur Folge gehabt, zahlte sich für die Betroffenen also durchaus aus, allerdings ginge dies häufig mit der (zeitweisen) Unterordnung in der neuen Familie unter dominante männliche Akteure (etwa den Vater der Braut) einher. Andreas Fischer stellt die Frage, wann in Spätantike und Frühmittelalter ein Knabe die Schwelle zum Mannsein überschritt. Mithilfe einer Auswahl normativer, historiographischer und hagiographischer Quellen kann er aufzeigen, dass das Erwachsenwerden insbesondere an der Ausprägung der sekundären männlichen Geschlechtsmerkmale, an der Ausbildung der Fortpflanzungsfähigkeit und damit verbunden an der Vaterschaft festgemacht wurde.
In der zweiten Sektion („Let Us Talk About Warriors“) wird das kriegerische Element von Männlichkeit in den Mittelpunkt gestellt. Danuta Shanzers Beitrag bricht mit den üblichen Lesegewohnheiten durch einen eher assoziativen Aufbau. Sie untersucht den Zusammenhang von Gewalt und klerikaler Männlichkeit im fränkischen Merowingerreich und ermahnt dabei nachdrücklich, sowohl die Subjektitvität der Forschenden wie die der Quellen im Blick zu behalten. Im nächsten Beitrag der Sektion spürt Francesco Borri der Frage nach, ob und wie sich die Vorstellung von Männlichkeit im Übergang von Antike zum Mittelalter änderte. Er konstatiert, dass sich in Spätantike und Frühmittelalter ein neues „frontier concept of masculinity“ (S. 124) ausgebildet habe und „hegemonial“ (dem Konzept der hegemonialen Männlichkeit Raewyn Connells folgend) geworden sei. Ob hier tatsächlich von „Hegemonie“ (im Sinne Connells und damit Antonio Gramscis) gesprochen werden kann, bleibt vor dem Hintergrund der im Band behandelten Pluralität vormoderner Männlichkeiten jedoch fraglich, da eben nur eine Idealvorstellung – nämlich die einer (kriegerischen) Elite – in den Fokus gerückt wird, ohne dass andere gesellschaftliche Schichten oder intersektionale Differenzierungen Berücksichtigung finden. Leonardo Sernagiotto nimmt die Darstellung der Männlichkeit Lothars I. in den Blick. Ausgewählte Aspekte des Lebens des fränkischen Herrschers wie unter anderem familiäre Konstellationen, sexuelle Aktivitäten, Jagd, Gewalt und Kaisertum werden auf die Propagierung gesellschaftlich verbreiteter Männlichkeitsmodelle hin untersucht, letztere kommen jedoch weitestgehend in Gestalt von Prämissen daher, die vielleicht ausführlicher hätten hergeleitet und kritischer hinterfragt werden können.
Zu „Clerical Bodies, Clerical Corpses“ finden sich in der dritten Sektion zwei Aufsätze. Zunächst nimmt sich Rachel Stone „krimineller“ Priester im Frühmittelalter an. Das Überschreiten gesellschaftlicher Normen für Kleriker, zum Beispiel was Sexualität oder die Gier nach Macht und Reichtum angeht, könne nicht etwa grundsätzlich durch das Bedürfnis nach Kompensation eines empfundenen Mangels an Männlichkeit, entstanden durch den Eintritt in den geistlichen Stand, erklärt werden, sondern liege vielmehr darin begründet, dass das Priesteramt eine hohe Attraktivität ausstrahlte und so auch viele Ungeeignete anzog. Solchen Individuen sei es also nicht darum gegangen, durch die Transgression ihre Männlichkeit zu demonstrieren, sondern die Verstöße ließen sich vielmehr eher als individuelle Entscheidung oder als Resultat individueller charakterlicher Disposition betrachten. Im zweiten Aufsatz der Sektion liest Francesco Veronese die Translation von Reliquien in der Karolingerzeit als männlich konnotierte Praxis. Grundsätzlich müsse die Beteiligung von Frauen an der Überführung von Reliquien als Ausnahme angesehen werden, „as control over these issues was exclusively attributed to men – to a certain category of men, those detaining public offices […]. All the matters concerning saints and relics increasingly became a prerogative of this socially and politically hegemonic group of men“ (S. 216).
Die letzte Sektion des Sammelbandes, „What Is Left of Masculinities“, schlägt gewissermaßen den Bogen in die Gegenwart, in dem sie Beiträge bündelt, die sich mit den (mehr oder weniger greifbaren) Überbleibseln frühmittelalterlicher Männlichkeit(en) in der (Post-)Moderne beschäftigen. Bonnie Effros verfolgt dafür die Legende des heiligen Martialis bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Frankreich des 19. Jahrhundert lasse sich eine Instrumentalisierung der Vita durch romtreue Geistliche gegen den aufkommenden Antiklerikalismus nachverfolgen. Der Beitrag von Flavia De Rubeis beschäftigt sich anhand von 111 autographischen Unterfertigungen aus einem abruzzischen Kloster zwischen 868 und 1000 mit der Frage, wie und ob Schreiben als männlicher Akt der Selbstrepräsentation betrachtet wurde. Letztlich ließen sich kaum Anhaltspunkte dafür finden, dass die Tätigkeit des Schreibens als dezidiert männlich wahrgenommen wurde. Als letzter und einziger Beitrag befasst sich der Aufsatz von Giovanna Bianchi und Serena Viva mit archäologischen Befunden zum Thema des Sammelbandes. Er zeigt denn auch die methodischen Schwierigkeiten auf, die mit der Analyse archäologischen Materials in Bezug auf mittelalterliche Geschlechterordnungen und -vorstellungen einhergehen. Am Beispiel der Grabstätten bei Vetricella in der Toskana, im 9. bis 11. Jahrhundert eine wirtschaftlich prosperierende Region, allerdings ohne nennenswerte historische Kontextinformationen, wird nach Erkenntnissen über die Lebensumstände der Beerdigten gefahndet. Allerdings kann anhand des Befundes selbst auffälliger Männergräber nur hypothetisch über die Tätigkeiten der Verstorbenen zu Lebzeiten und ihren sozialen Stand gemutmaßt werden.
Im Fazit des Bandes von Francesco Borri und Francesco Veronese werden die Ergebnisse der Untersuchungen gebündelt und methodische Schlüsse daraus gezogen, die nicht alle gänzlich neu sind und daher vielleicht auch einen guten Platz in der Einleitung gefunden hätten. Zunächst wird festgehalten, dass sich die Annahme multipler Männlichkeiten bewahrheitet habe. Einige Thesen und Beobachtungen ließen sich ableiten: Zunächst sei über den Untersuchungszeitraum eine zahlenmäßige Zunahme an parallelen Männlichkeitsmodellen zu beobachten, die durch den Rückgang staatlicher Institutionen im Zuge des Untergangs des weströmischen Reiches und der gleichzeitigen Ausbreitung des Christentums zu erklären sei. Gegen diese Deutung ließe sich einwenden, dass sich mit der Ausbreitung des Christentums auch die Natur der Texte änderte und dass vor allem die Überlieferungschancen bestimmter Quellengattungen anstiegen. Des Weiteren sei Männlichkeit als relationale Kategorie zu begreifen, immer im Kontext mit Weiblichkeit zu denken und dabei gleichzeitig ein Ausdruck von Machtverhältnissen (Joan Scott). Männlichkeit werde im öffentlichen Raum etabliert und geformt, weniger im persönlichen Familienzirkel, wobei auch hier einschränkend auf die Natur der Quellen und ihre Überlieferung verwiesen werden müsste. Sexuelle Aktivität und der Akt der Fortpflanzung seien zentrale Aspekte der spätantik-frühmittelalterlichen Männlichkeiten, bei den laikalen Eliten trete zudem die Gewalt hinzu. Von entscheidender Bedeutung für die vormoderne Konzeption von Männlichkeit und Geschlecht allgemein erwiesen sich intersektionale Gesichtspunkte wie Alter und sozialer Stand. Dem Körper als Träger von Maskulinität komme zudem große Signifikanz zu. Und zuletzt: Männlichkeit verändere sich auf vielfältige Weise, sowohl in der longue durée als auch insbesondere im raschen sozialen Wandel des Frühmittelalters, der wiederum umgekehrt stets eng mit Männlichkeit verbunden sei.
Insgesamt liegt damit ein gelungener Sammelband vor, der aber auch aufzeigt, dass auf dem Feld der Erforschung mittelalterlicher Männlichkeiten neben flächendeckenden Studien noch viel zu leisten ist, insbesondere was die Grundlagen vormoderner Wahrnehmungen von Geschlecht und die diesbezügliche Metareflexion der (post-)modernen eigenen Prämissen und Vorannahmen der Forschung betrifft.