Rezensionsessay: Über Regeln – und Ausnahmen. Grenzen der Ordnung in Geschichte und Gegenwart

Cover
Titel
Regeln. Eine kurze Geschichte
Weitere Titelangaben
Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff


Autor(en)
Daston, Lorraine
Erschienen
Berlin 2023: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie Middendorf, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Bürokratisierung des Seins, die Juridifizierung aller Lebenszusammenhänge und die Macht der Maßnahmen sind in den letzten Jahren, besonders durch die Corona-Pandemie, (wieder) zu gesellschaftlichen Themen geworden. Das Unbehagen an einer krisenhaften Gegenwart, in der politische Fragen als Probleme erscheinen, die technokratisch oder außerparlamentarisch gelöst werden müssen, hat sich ausgebreitet. Damit verbundene Gefühle der Ohnmacht des Einzelnen oder der Übermacht der Institutionen verweisen zurück auf ältere, kulturkritisch geformte Debatten.1

Damit sind aber auch Dimensionen staatlicher Herrschaft und die Macht des Regierens als Themen in die Geschichtswissenschaft zurückgekehrt, die sich zuvor stärker auf soziale Praktiken der Aushandlung und Kommunikation oder auf Formen von Transfers und Encounters fokussiert hatte.2 So kommt Lorraine Dastons „kurze Geschichte“ der Regeln, zuerst 2022 auf Englisch erschienen, zur rechten Zeit. In Gesprächen über ihre Studie hat die Autorin selbst angedeutet, dass sich ihr Blick auf den Gegenstand durch die Erfahrung der pandemischen Situation verändert habe – das ganze Narrativ des Buches habe vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse umgeschrieben werden müssen. Die Plötzlichkeit einer Situation, in der scheinbar alle Regeln neu gemacht wurden, habe ihren Fokus verschoben, der zuvor auf einer eher gemächlichen Entwicklungsgeschichte der Verregelung gelegen habe, in der die flexiblen Regeln der Vormoderne durch die starren Setzungen der Moderne abgelöst wurden.3

Ganz aus dem Buch verschwunden ist dieses Narrativ gleichwohl nicht. Denn die Studie erzählt die Transformation der Regeln als Ergebnis einer „modernen Geschichte der Rationalität“ (S. 27), die im Gegensatz zu vormodernen Logiken ihre Schwierigkeiten mit der Widersprüchlichkeit und Bedeutungsoffenheit der Welt hat. Es ist also weiterhin deutliche Modernekritik, die hier geübt wird. Nur befindet sich die Möglichkeit, dass auch in den Ordnungen der Moderne Momente des Bruchs enthalten sind, jetzt mit im Raum. Daher ist dies paradoxerweise ein Buch über die Regel, das von der Ausnahme her denkt. Daraus entsteht eine Gegenwartsbetrachtung des Ausnahmezustands durch die Linse einer Geschichte des normierten Denkens und Handelns. Grundlegend ist die Prämisse, dass jede Regel gebrochen und jede Rechtsordnung suspendiert werden könne – dass für die Möglichkeit von Regelhaftigkeit und Regelbruch aber viel mehr nötig sei als ein einfacher Gesetzestext.

Um dies zu zeigen, blickt Daston weit zurück in die Geschichte. Sie beschreibt drei semantische Cluster, die den Gegenstand der Analyse formen und anhand derer fundamentale Wandlungen von Regelsystemen seit ihren griechischen und römischen Ursprüngen nachvollzogen werden. Dieses „antike Dreigestirn“ (S. 13) umfasst erstens Werkzeuge zur genauen Messung und akribischen Berechnung von Verhältnissen, zweitens paradigmatische Muster oder Modelle, die als Vorbilder dienen und seit dem 19. Jahrhundert von der Idee des Algorithmus abgelöst wurden, sowie drittens Gesetze und andere rechtsstaatliche Normierungen. Diese drei Cluster folgen nicht chronologisch aufeinander, erlebten aber historisch unterschiedliche Konjunkturen und zeugen nach Auffassung der Autorin insgesamt von einer zunehmenden „Degradierung der Urteilskraft“ (S. 27). Gemeint ist damit das Verschwinden der Möglichkeit des individuellen Ermessens und der Annahme, der Mensch könne öffnende Gestaltungsräume nicht nur in subjektiver Weise, sondern auch vernunftgemäß nutzen, ohne dazu durch allgemeine Vereindeutigung angehalten zu werden.

Diese lange Geschichte der Regeln hat zudem drei grundsätzliche Gegensätze im Blick, die historisch kontinuierlich wirkten: den Widerspruch von Fülligkeit und Schlankheit, von Flexibilität und Starrheit sowie von Allgemeinheit und Spezifik. Wie die drei Cluster, so sind auch diese drei Gegensätze in einer Weise gedacht, die Überschneidungen zulässt. Ihre sich wandelnde Relevanz wird wiederum davon abhängig gemacht, welcher Art von Regel sie jeweils angehören. So geht Daston davon aus, dass Vorbilder grundsätzlich mit mehr Beispielen, Vorbehalten oder Ausnahmen als Gesetze versehen und damit fülliger, während Algorithmen in ihrer Anwendung starr, tendenziell eher schlank und stärker auf Normalverläufe als auf das Außergewöhnliche orientiert seien. In Notsituationen wie einer Pandemie oder einem Krieg, durch Naturkatastrophen oder Revolutionen aber sei dieses Gefüge jederzeit veränderlich. Dann würden schlanke Regeln plötzlich fülliger, starre Regeln weicher und allgemeine Regeln spezifischer – diese „Explosion der Unsicherheit“ (S. 16) könne die grundlegenden Gegebenheiten moderner Verregelung durchbrechen und aufheben, ja in letzter Konsequenz sogar bedeuten, dass die Idee der Regel selbst ins Wanken gerate.

Hier deutet sich schon an, was Dastons Buch von vielen anderen Beiträgen unterscheidet, die sich zuletzt mit europäischen und globalen Dimensionen des Ausnahmezustands beschäftigt haben.4 Auch Daston geht zwar von einem übergreifenden Prozess der Disziplinierung aus, doch ist dieses Narrativ nicht durch eine autoritäre Machtkonzeption im Sinne Carl Schmitts oder Giorgio Agambens bestimmt, bei denen die moderne Setzung von Ordnungen ebenso wie die darin angelegte Proklamation der Ausnahme Belege für die unhintergehbare Existenz eines übergeordneten Souveräns sind.5 Schmitts „modern-totalitäre“ Version des Ausnahmezustands weist Daston vielmehr als anachronistische Fehllektüre vormoderner Verhältnisse zurück, die nur aus der allzu „heitere[n] Sicht universeller Gesetzlichkeit“ (S. 306) zu erklären sei, welche die Rechtsordnung des 20. Jahrhunderts insgesamt durchzogen habe. Somit liest Daston die Schmittʼsche Metaphysik der Macht – quasi gegen den Strich – nicht als reaktionäre Aktualisierung der absolutistischen Vormoderne, sondern als Ausdruck der spezifischen Untiefen der Moderne: der Idee allgemeingültiger Legalität, der Expansion rationaler Bürokratien und der zunehmend unhinterfragten „Ordnung aus Befehl und Ausführung“ im Dienste des Fortschritts (S. 314). Damit versucht Daston, ihre Vorstellung der Vormoderne als einer Epoche, in der kein universell gesetztes Recht regierte und die bestehenden sozialen Regeln entsprechende Flexibilität erlaubten, gegen deren Instrumentalisierung durch das radikal rechte Denken des 20. Jahrhunderts zu verteidigen. Dies mag ein für die Frühneuzeitforschung fruchtbares Vorhaben sein, wird aber wiederum der antirationalen Stoßrichtung des Schmitt’schen Ausnahmezustands ebenso wenig gerecht wie der ambivalenten Geschichte des Rechts in einer Moderne, die neben dem homogenisierenden Prinzip der Ordnung doch stets auch jenes der Freiheit und damit die Möglichkeit von Heterogenität umfasste.6 So liegt ein wesentliches Erbe des modernen Ausnahmezustands, wie ihn Schmitt konzipierte, weniger in der Expansion bürokratischer Herrschaft, sondern vielmehr in deren Überformung und Aussetzung in Momenten charismatisch aufgeladener Macht, in der Auflösung aller Regelbindungen und in der Legitimation von Willkür.

Dem vermeintlich starren Gehäuse rechtsstaatlicher Modernität stellt Daston eine aus der Vormoderne entwickelte Perspektive entgegen, in der die Ausnahme stets ein offener Moment der Selbstbestimmung und Kreativität jedes Einzelnen sein könnte. Zugleich und in einem gewissen Widerspruch dazu erscheinen Stabilität und Vorhersagbarkeit jedoch als notwendige, stets fragile Errungenschaften, die der Bewältigung des sozialen Chaos dienen, das der eigentliche Normalfall ist.

Letztlich erkennt man hier das Ringen der Autorin mit der eigenen Erfahrung, die von der Pandemie offenbar grundlegend geprägt und ins Schwingen versetzt wurde. Denn so sehr ihr die notwendige Stabilisierungsleistung von Regeln gerade im Moment des Ausnahmezustands gewahr geworden zu sein scheint, so sehr ist ihr dennoch daran gelegen, eine „Erschütterung heutiger Gewissheiten“ zu erreichen und das „amtierende Begriffsmilieu“ infrage zu stellen – besonders die Annahme, unsere gegenwärtige Weltsicht sei Ergebnis logischer Stringenz und nicht Ausdruck historischer Kontingenz. Betont werden soll damit, dass die „Selbstverständlichkeiten einer Epoche […] in anderen Epochen für Ratlosigkeit“ sorgen würden und dass die Gegenwart zudem neue beziehungsweise weniger eingefahrene Begriffe benötige, die aus der Vergangenheit zu gewinnen seien (S. 35). Die verborgene Geschichte der Regeln, die Daston hier vorlegt, versteht sich somit trotz allem als investigative Analyse, als eine Art fortschrittsskeptisches Enthüllungsbuch, das die Lebenden in ihrem selbstverständlichen Glauben an Recht und Ordnung zu erschüttern versucht.

Dafür wird in zugleich systematischer wie grob chronologischer Struktur und insgesamt acht größeren Kapiteln der Weg abgeschritten – von antiken Berechnungsweisen und Vorbildern über das vormoderne Regelwissen, das angefüllt wurde durch zahllose Einzelfälle und Ausnahmen, und die mathematischen Algorithmen im Zeitalter vor der Computerisierung bis hin zu den Gesetzen und naturrechtlichen Vorstellungen, die im Zuge der Aufklärung und aufgrund gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse entstanden und sich – nicht selten gegen Widerstände – durchsetzten. Besonders aufschlussreich und anregend wird die Darstellung dort, wo die Autorin das Scheitern von Verregelung zeigt. So ist ein längeres Kapitel den erstaunlichen Versuchen europäischer Obrigkeiten von Genua über Augsburg bis Paris gewidmet, in den Jahrhunderten zwischen 1200 und 1800 Bekleidungsvorschriften einzuführen, deren „manisch spezifischer Charakter“ und deren „starrsinnige Langlebigkeit“ (S. 188) ihre offensichtliche Wirkungslosigkeit nur notdürftig verdeckten („500 Jahre Regelversagen“, ebd.). Demgegenüber gelang es im Verkehrswesen, wie Daston am Beispiel der Stadt Paris am Vorabend der Französischen Revolution zeigt, durch beständige Bürokratisierung verschiedene „Mikrokosmen geregelter Ordnung“ (S. 219) und damit insgesamt eine „Ordnungsillusion“ (S. 215) zu erzeugen. Noch erfolgreicher war die Normierung der Rechtschreibung, die Daston auf die Fähigkeit entsprechender Regeln zurückführt, Vertrauen zu stiften oder Emotionen wie Nationalstolz hervorzurufen und damit in mehrfachem Sinne „verinnerlicht“ zu werden (S. 250).

Abschließend widmet sich die Autorin der Frage, unter welchen Bedingungen Regeln gebrochen oder geltende Rechtsnormen suspendiert werden können. Erst seit dem 17. Jahrhundert, so ihre Argumentation, sei jegliche Dehnung von Regeln als problematisch wahrgenommen worden (wobei sich Daston de facto auf die Bereiche von Moraltheologie, Recht und Politik konzentriert, weniger auf breitere soziale Räume). Dagegen habe die vormoderne Praxis den Zusammenstoß mit unvorhergesehenen Umständen noch als unvermeidlich vorausgesetzt – und damit auch die grundsätzliche Notwendigkeit von Urteilsvermögen und Ermessen als Bestandteilen allen geregelten Seins. Zugleich holt die Gegenwart hier Dastons Argumentation noch einmal ein, wenn sie abschließend die „denkfaule Abkürzung“ (S. 318) kritisiert, die der Begriff der Moderne geworden sei, unter dem die reale Verletzlichkeit und Brüchigkeit der bestehenden Ordnung verschwinden könnten. Wenn die Bedingungen für verschlankte und starre Regeln plötzlich zusammenbrächen, so Dastons Fazit, kehrten deren füllige und flexible Versionen zurück – unabhängig von der Epoche.

Auch hier aber wird deutlich, dass Dastons Blick auf die Regeln der Moderne einer gewissen argumentativen Engführung unterliegt und die Durchsetzung „scharfer Grenzen“ (S. 317) seit dem 17. Jahrhundert doch überbetont. Im Versuch, die „Welt der großen Schwankungen und geringer Vorhersagbarkeit“ (ebd.), in der wir uns gegenwärtig wähnen, besser zu verstehen, blickt die Autorin zurück in die Vergangenheit; sie hebt die Flexibilität der Vormoderne gegenüber der Starrheit und Stabilität der Moderne stark hervor. Doch wesentliche Etappen der modernen Rechtsgeschichte, nicht zuletzt die komplexen Übergänge zwischen demokratischer und diktatorischer Herrschaft im 20. und 21. Jahrhundert, zeugen eher von einer stetigen Bedeutung fluider Ermessensspielräume, von der Macht persönlicher Entscheidungen und der unberechenbaren Auslegung vermeintlich universell geltender Regeln zugunsten oder zuungunsten bestimmter Menschen. Ob das Bild vom unsichtbaren „Apparat“ (S. 318) algorithmisch organisierter Herrschaft mit einer „namenlose[n] Armee menschlichen Überwachungspersonals“ (S. 319) die Komplexität möglicher Verrechtlichung und Verregelung in der Gegenwart wirklich einfängt, ist fraglich – denn die Bedeutung menschlichen Handelns und nicht zuletzt des möglichen Eigensinns bleibt gerade dort sichtbar, wo die großen Herausforderungen liegen, sei es in militärischen Auseinandersetzungen oder in der Bekämpfung des Klimawandels.

Die Kritik der Ordnung und des Rechts ebenso wie die Ablehnung von Normalität und das Lob der Ausnahme liegen aber, so scheint es, im gegenwartsdiagnostischen Trend. Regeln gelten darin nicht mehr als wesentliche Lösungen, sondern als zentrale Elemente gegenwärtiger Probleme oder gar als deren eigentliche Ursachen.7 Zwar aus soziologischer Perspektive, aber mit zeithistorischen Anleihen und in der Stoßrichtung ähnlich wie Daston kritisiert auch Stephan Lessenich in seiner kleinen Schrift „Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs“ (2022) eine „postnormale Gesellschaft“, deren Nerven eigentlich längst zusammengebrochen seien, die aber dennoch an vertrauten Gewohnheiten und Berechenbarkeiten festzuhalten glaube. Die alte Normalität, so der Autor, werde jedoch nicht wiederkommen – oder, schärfer formuliert: Bereits der Wille zu einer (neuen) Normalität sei in seiner Realitätsfremdheit ein aggressives Prinzip. Die Annahme, dass „wir“ noch immer in einer Gesellschaft der Regeln und der Regelmäßigkeiten, des Normierten und Normalen lebten, sei daher kritisch zu hinterfragen.8 So werden hier Normalisierung als eine Form der Disziplinierung und Normalität als irreführendes Sozialkonstrukt zum Gegenstand der kontroversen Betrachtung gemacht.

Diese Distanzierung gegenüber dem Normalen war in den Sozialwissenschaften schon seit längerem zu beobachten und ist zuletzt – unter anderem über die Erforschung sozialistischer Gesellschaften – auch in der Geschichtswissenschaft und speziell der Zeitgeschichte angekommen.9 War zunächst – vor allem in den Arbeiten Jürgen Links seit den 1990er-Jahren10 – die Sozialtheorie Michel Foucaults die wichtigste Grundlage entsprechender Analysen und Interventionen, so hat in den letzten Jahren die Institutionentheorie von Cornelius Castoriadis an Einfluss gewonnen. Dieser begreift das Normale als soziales Imaginäres, das für eine Weile scheinbar unhinterfragt gilt, gleichwohl stets Ergebnis gesellschaftlicher Schöpfung und kreativer Ausgestaltung ist – und in diesem Sinne, anders als in der Machttheorie Foucaults, von den Handelnden gebrochen und verändert werden kann.11 Auch hier ist – wie bei Daston – nicht länger die fest gefügte Gesellschaftsordnung der Moderne die Grundlage des Denkens, sondern die Erfahrung ihrer unerwarteten Destabilisierung, die in der Pandemie anschaulich wurde, wie Lessenich betont: „Der Ausnahmezustand des Lockdowns hat uns einerseits, in Form seiner plötzlichen Abwesenheit, den Normalzustand des In-Gesellschaft-Seins bewusst werden lassen und uns zugleich vor Augen geführt, wie wenig selbstverständlich doch das alltägliche Ins-soziale-Getümmel-Werfen ist.“12

Neu ist, dass in diesen jüngeren Beiträgen nicht allein die Produktion von Normalität als machtvolle Praxis moderner Gesellschaften kritisiert und dekonstruiert wird, sondern auch ein (mal mehr, mal weniger offensichtliches) Lob der Anormalität, also des gezielten Bruchs mit Alltäglichkeiten und Gewohnheiten an deren Stelle tritt. Der Ausnahmezustand und das Regieren jenseits der Regeln werden damit von bedrohlichen Instrumenten einer „Staatstechnik“13 der Herrschenden umgedeutet zu einer emanzipatorischen Haltung der Beherrschten, welche die illusorische Norm der Normalität durchbricht. Dies bedeutet dann allerdings auch, jedenfalls bei Lessenich, die Lehren des 20. Jahrhunderts abzuschütteln und die Gegenwart nicht mehr als Nachgeschichte des Nationalsozialismus zu denken, galt doch der Ausnahmezustand bislang als besonders wirkmächtiges und nachwirkendes Element der nationalsozialistischen Staatsgewalt14, damit auch als „Verfassungsurkunde“15 und „Herrschaftstechnik“16 eines autoritären Regimes – und Carl Schmitts politische Theologie entsprechend als Wegbereiterin einer „rauschhafte[n] Feier des Abnormen“ im Führerstaat der Jahre 1933 bis 1945.17 Nun aber ist es die westeuropäische und vor allem die bundesrepublikanische „Ordnung des Grauen“, nicht mehr die mögliche Wiederkehr der nationalsozialistischen „Ordnung des Grauens“, die als zentrales politisches Problem beschrieben wird. Bedrohlich ist in dieser Lesart nicht das Erbe diktatorischer Exzeptionalität, sondern die Normalitätsfassade einer demokratischen und postheroischen Wohlstandsgesellschaft, die nicht mehr in der Lage sei, das Gewohnte aufrechtzuerhalten, aber zugleich das nicht Selbstverständliche und die Anrufung des Außergewöhnlichen scheue.18

In solchen Diagnosen klingen die militärische „Zeitenwende“, der Klimanotstand, die Finanzkrisen und die Herausforderungen globaler Migration durch, also die Dimensionen der gegenwärtig vielfach beschworenen „Polykrise“19, die Antworten jenseits des rechts- und regelförmig Eingeübten zu erfordern scheinen. Damit rücken aber auch die Fallstricke eines krisen- und kriegsgetriebenen Herrschaftsmanagements wieder in den Fokus, die im 20. Jahrhundert nicht allein in das Jahr 1933 hineinführten, sondern auch nach 1945 ein bleibendes Erbe autoritärer Erfahrungen darstellten. Nicht nur in der Bundesrepublik konnte sich dieses dann in Gestalt pseudo-unternehmerischer Verhaltenslehren sowie diverser Dynamisierungs- und Flexibilisierungsdiskurse fortsetzen. In diesem Feld blieben die Ablehnung „mechanischer Regeln“ und die Idealisierung eines „konkreten Ordnungsdenkens“ über das Ende des NS-Staats hinaus bestehen. Die Verfechter solcher Positionen lehnten das kodifizierte Recht als entscheidungshemmende Zwangsjacke ab und beriefen sich lieber auf „situative“ Anschauung, anpassungsfähige Maßnahmen und soziale Intuition.20

Zusammenfassend betrachtet, ist die Infragestellung des Regelhaften und der „Zumutung“21 des Genormten keine Eigenart der jüngsten Gegenwartsdiagnostik, sondern Bestandteil einer sehr langen Problemgeschichte des Herrschens und Regierens. Diese Geschichte wirft aber unter anderem die Frage auf, ob eine Kritik der Verregelung nicht die historische Differenz, die zwischen Diktatur und Demokratie besteht, als wesentliches Element in eine Geschichte der Moderne integrieren müsste, ebenso wie die möglichen Varianten demokratischer und diktatorischer, liberaler und autoritärer Regime mit ihren jeweiligen Rechtsordnungen. Mag die DDR als Regime der Normalisierung und Normierung gelten können, so lässt sich dies für den NS-Staat nur partiell argumentieren. Eher zeigt die nationalsozialistische Machtausübung die Untiefen an, die aus der gewaltvollen Durchsetzung des Exzeptionellen und der nachträglichen Normalisierung dieses Aktes als legalistisch inszenierter „Ermächtigung“ resultieren können.

So wird für die Frage, wie viel Regelbruch gesellschaftlich erstrebenswert oder tolerabel ist und ob die Idee universeller Normen tatsächlich ad acta gelegt werden sollte, auch künftig der politische Wille von einiger Bedeutung sein, der partikulare Ausdeutungen und subjektive Ermessensentscheidungen motiviert. Zur demokratischen Bildung dieses Willens allerdings stellen – bisher – geregelte Verfahren und die rechtsstaatliche Ordnung, die aus der Moderne hervorgegangen sind, eine bleibende und – im Vergleich zu autoritären Regimen – weiterhin nicht nur leistungsfähige, sondern in eigener Weise legitimierte Grundlage dar. Rechtsstaatliche Regeln und Gesetze sind trotz aller Kritik an ihren begrenzenden, einengenden und verschleiernden Effekten (auch) der Versuch, über die staatliche Einschränkung von Handlungsmacht Vertrauen zu stiften und damit die Möglichkeit ungehemmter Gewalt zu begrenzen. Der Verlust dieses Regelvertrauens kann ein Indikator tiefer Krisen sein, oder auch ein Moment der Neubesinnung und der Rekonstituierung von Recht und Gesetz – dafür aber ist die Verschränkung von individuellem Handeln und sozialen Prozessen auch in der Moderne noch immer entscheidend.22

Die gesellschaftlichen Effekte, die Regeln haben, hängen von sich wandelnden sozialen, politischen, ökonomischen, kulturellen und medialen Umständen ab, nicht von einer ihnen per se innewohnenden problematischen Mechanik. Diese Vielschichtigkeit von Regeln und ihre historische Wandlungsfähigkeit in einer longue durée zu zeigen, ist ein großes Verdienst des so gelehrten wie anschaulichen Buches von Lorraine Daston, dem die Differenzierung zwischen vormodernen und modernen Praktiken allerdings etwas im Wege steht (wie die Autorin abschließend selbst reflektiert, vgl. S. 317). Noch wichtiger ist der angesichts der Ausnahmelagen, Kriege und Krisendiskurse der Gegenwart überfällige Impuls dieser Studie, das so undurchsichtig erscheinende Feld des Regierens und die oft sehr kleinteiligen Verfahren der (De-)Legitimation, die damit verbunden sind, nicht als spröde und abseitig auszublenden. Hier zeigen sich nicht nur aufschlussreiche Bausteine einer Geschichte des Sozialen, sondern wesentliche Elemente einer Geschichte der Macht, die über eingefahrene Epochengrenzen hinausweist.

Anmerkungen:
1 Armin Nassehi, Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft, München 2021; Jacob Taubes, Das Unbehagen an der Institution [1969], in: ders., Apokalypse und Politik. Aufsätze, Kritiken und kleinere Schriften, Paderborn 2017, S. 218–230; Werner Post, Charles Taylors Unbehagen an der Moderne, in: Stimmen der Zeit 136 (2011), S. 743–754.
2 Aus diesem neueren Forschungsfeld unter anderem Morgan Clarke / Emily Corran (Hrsg.), Rules and Ethics. Perspectives from Anthropology and History, Manchester 2021; Alan Lester / Kate Boehme / Peter Mitchell, Ruling the World. Freedom, Civilisation and Liberalism in the Nineteenth-Century British Empire, Cambridge 2020; Patrick Joyce, The State of Freedom. A Social History of the British State since 1800, Cambridge 2013.
3 Wie Regeln unsere Welt formen. Gespräch mit Lorraine Daston, Sternstunde Philosophie, 27.08.2023, https://www.youtube.com/watch?v=pcafjQNYe0o (20.10.2024).
4 Vgl. aus der Fülle an Literatur etwa Jonas Heller, Mensch und Maßnahme. Zur Dialektik von Ausnahmezustand und Menschenrechten, Weilerswist 2018; Hannah Ahlheim (Hrsg.), Gewalt, Zurichtung, Befreiung? Individuelle „Ausnahmezustände“ im 20. Jahrhundert, Göttingen 2017; John Reynolds, Empire, Emergency, and International Law, Cambridge 2017; Matthias Lemke, Demokratie im Ausnahmezustand. Wie Regierungen ihre Macht ausweiten, Frankfurt am Main 2017; Günter Frankenberg, Staatstechnik. Perspektiven auf Rechtsstaat und Ausnahmezustand, Berlin 2010; Christian Kreuder-Sonnen, Der Globale Ausnahmezustand. Carl Schmitt und die Anti-Terror-Politik des UN Sicherheitsrates, Baden-Baden 2012; Nasser Hussain, The Jurisprudence of Emergency. Colonialism and the Rule of Law, Ann Arbor 2003.
5 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Mit einer Rede über das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen neu herausgegeben, München 1932; ders., Die Wendung zum totalen Staat [1931], in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles, 1923–1939, Hamburg 1940, unveränd. Nachdruck Berlin 1988, S. 146–157; Giorgio Agamben, Ausnahmezustand (Homo Sacer II.1). Aus dem Italienischen von Ulrich Müller-Schöll, 7. Aufl., Frankfurt am Main 2017 (1. Aufl. 2004).
6 Vgl. hierzu Peter Wagner, Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin, Frankfurt am Main 1995; ders., Moderne als Erfahrung und Interpretation. Eine neue Soziologie zur Moderne, Konstanz 2009; rezensiert von Clemens Albrecht, in: H-Soz-Kult, 25.10.2011, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-13391 (20.10.2024).
7 Vgl. auch Leander Steinkopf, Der Reiz des Verbotenen. Über die Freiheit jenseits des Erlaubten, Springe 2024; Cindy Linn Skach, Demokratie ohne Gesetze. Warum nicht Regeln, sondern wir selbst unsere Gesellschaft tragen, Berlin 2024.
8 Stephan Lessenich, Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs, München 2022, S. 12. Siehe dazu die Rezension von Dirk Baecker, Im Griff des Affekts, in: Soziopolis, 26.09.2022, https://www.soziopolis.de/im-griff-des-affekts.html (20.10.2024).
9 Vgl. Peter M. Cryle / Elizabeth Stephens, Normality. A Critical Genealogy, Chicago 2017; Mary Fulbrook (Hrsg.), Power and Society in the GDR, 1961–1979. The ‘Normalisation of Rule’?, New York 2009; Thomas Rolf, Normalität. Ein philosophischer Grundbegriff des 20. Jahrhunderts, München 1999; Daniela Koleva (Hrsg.), Negotiating Normality. Everyday Lives in Socialist Institutions, New Brunswick 2012; Sigrid Rausing, Re-constructing the ‘Normal’. Identity and the Consumption of Western Goods in Estonia, in: Ruth Mandel / Caroline Humphrey (Hrsg.), Markets and Moralities. Ethnographies of Postsocialism, Oxford 2002, S. 127–142; sowie die Tagung „NORMALITÄT – Begriff und Praxis gesellschaftlicher Konstruktionen“, organisiert von Carsta Langner und Clemens Villinger an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 14.–15.09.2023; siehe den Tagungsbericht von Lukas Bartl, in: H-Soz-Kult, 21.12.2023, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-140758 (20.10.2024). Vgl. auch die Arbeiten der DFG-Forschungsgruppe „Normal#Verrückt“, https://www.normalverrueckt.hhu.de (20.10.2024).
10 Vgl. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 5. Aufl., Göttingen 2013 (1. Aufl. Opladen 1996); ders., Flexibilisierung minus Normalität gleich Prekarität? Überlegungen über Prekarisierung als Denormalisierung, in: Oliver Marchart (Hrsg.), Facetten der Prekarisierungsgesellschaft. Prekäre Verhältnisse. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Prekarisierung von Arbeit und Leben, Bielefeld 2013, S. 91–106; Dominik Schrage, Subjektivierung durch Normalisierung. Zur Aktualisierung eines poststrukturalistischen Konzepts, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Frankfurt am Main 2008, S. 4.120–4.129, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-155104 (20.10.2024).
11 Siehe vor allem Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Übersetzt von Horst Brühmann, Frankfurt am Main 1984 (und öfter).
12 Lessenich, Gesellschaft, S. 32.
13 Frankenberg, Staatstechnik.
14 Michael Wildt, Gewalt als Partizipation. Der Nationalsozialismus als Ermächtigungsregime, in: Alf Lüdtke / Michael Wildt (Hrsg.), Staats-Gewalt. Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen 2008, S. 215–240, https://zeithistorische-forschungen.de/reprint/3931 (20.10.2024).
15 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat. Mit einem Nachwort von Horst Dreier, hrsg. von Alexander von Brünneck, 3. Aufl., Hamburg 2012, S. 55 (Rückübersetzung aus dem Englischen von Manuela Schöps in Zusammenarbeit mit dem Verfasser [1974]).
16 Hans Mommsen, Ausnahmezustand als Herrschaftstechnik des NS-Regimes, in: Manfred Funke (Hrsg.), Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, Düsseldorf 1976, S. 30–45.
17 So Lessenich, Gesellschaft, S. 35.
18 Ebd., S. 36.
19 Adam Tooze, Zeitenwende oder Polykrise? Das Modell Deutschland auf dem Prüfstand. Willy Brandt Lecture 2022, Berlin 2022, https://willy-brandt.de/wp-content/uploads/bwbs-h36-online.pdf (20.10.2024).
20 Hierzu Johann Chapoutot, Gehorsam macht frei. Eine kurze Geschichte des Managements – von Hitler bis heute, Berlin 2021, hier S. 94f., S. 97. Vgl. auch Stefanie Middendorf, Postheroische Ordnung? Zur Finanzbürokratie in der bundesdeutschen Demokratie nach 1945, in: HEUSS-FORUM 5/2019, https://www.theodor-heuss-haus.de/fileadmin/thh-webportal/004_forschung-bildung/Theodor-Heuss-Kolloquium/2019/pdfs/Heuss-Forum_5-2019_Middendorf.pdf (20.10.2024); Vincent August, Technologisches Regieren. Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Foucault, Luhmann und die Kybernetik, Bielefeld 2021, hier bes. S. 23, https://doi.org/10.14361/9783839455975 (20.10.2024).
21 Wolfgang Fach, Regieren. Die Geschichte einer Zumutung, Bielefeld 2016, https://doi.org/10.14361/9783839436066 (20.10.2024).
22 Hierzu Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008; Hansjörg Siegenthaler, Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens, Tübingen 1993.