Der von Kirill Postoutenko, Alexey Tikhomirov und Dmitri Zakharine konzipierte Sammelband beschäftigt sich mit medialen Formen und Modi der Kommunikation in der Sowjetunion bis 1953. Ziel des Bandes sei es, eine Skizze der sowjetischen Gesellschaft über ihre Medien und Kommunikationssysteme zu entwerfen, die sich in der thematischen Einteilung der Artikel in die Rubriken „Channels“, „Media“ und „Boundaries and Flows“ widerspiegelt. Die Channels präsentieren verschiedene land-, sound- und touchscapes. Die Kategorie Media unterscheidet private von öffentlichen Medien. Neben etablierten Massenmedien behandeln die Beiträge auch Kommunikationsmittel wie Schrift oder Körper. Die Studien der Rubrik Boundaries and Flows widmen sich der Architektur des sowjetischen Kommunikationsraums; sie berücksichtigen Aspekte der Selbst- und Fremdzuschreibungen sowie der vertikalen Kommunikation. Für die Beitragenden steht weniger die Verwendung eines eindeutig definierten Kommunikationsbegriffs im Vordergrund, sondern vielmehr dessen Wechselwirkung mit den sozio-politischen sowjetischen Gegebenheiten. Sie charakterisieren Kommunikation sowohl als Grundlage des soziopolitischen Systems wie auch als treibende Kraft und Folgeerscheinung der sowjetischen gesellschaftlichen Entwicklung.
Zentral für das stalinistische Medien- und Kommunikationssystem sei das moskauzentrierte, staatlich kontrollierte und kanalisierte Informations- und Kommunikationsmonopol gewesen. Die Herausgebenden konstatieren, dass sich die bedingte Formelhaftigkeit der Kommunikation in einem rhetorisch omnipräsenten Führungskult, einer Anonymisierung der Massen sowie in einer Loyalitätssemantik äußere, sich auf die autoritative Transmission prädeterminierter Wissensbestände fokussiere und, ähnlich vormoderner oral-autoritativer Kommunikationsformen, keinen interaktiven Mediengebrauch vorsehe. Etwas problematisch erscheint die Lesart einer Dichotomie zwischen Staat und Gesellschaft. Zudem wäre ein Ausblick auf die nachstalinistische Sowjetunion hilfreich gewesen, zumal sich diese medienkulturellen Praktiken und ihre Folgen auch in der heutigen russländischen Medienlandschaft finden.1 Die im Sammelband enthaltenen 25 Artikel arbeiten individuell mit diesen Prämissen. Aufgrund der Materialfülle werden im Folgenden wesentliche Aspekte zusammengefasst und nur ausgewählte Artikel ausführlicher beschrieben.
Die Rubrik „Channels“ beschäftigt sich mit Formen der Sinnes- und Raumwahrnehmung. Gerade die Bildmedien unterlagen verstärkt den politisch codierten Prämissen des Sozialistischen Realismus. Graeme Gill versteht in seiner Studie über cityscapes Städte als Kommunikations- und soziale Transformationsräume. Nick Baron analysiert Karten als ubiquitäre visuelle Medien, die Moderne markieren, normative Modi abbilden und Raumimaginationen kommunizieren. Auditive Kanäle untersucht Dmitri Zakharine in der sowjetischen dörflichen soundscape der 1930er-Jahre. Er unterscheidet zwischen natürlichen und künstlich erzeugten Sounds. Im Gegensatz zum über die Jahre anwachsenden Industrielärm verblieben Naturgeräusche bis in die 1960er-Jahre ständige Alltagsbegleiter. Die Industriesounds, vor allem Hörner und Sirenen, wurden mittels Tonaufnahmen und -filmen einer breiten Masse vermittelt und konnten somit (partiell von der politischen Führung impliziert) in den Folgejahrzehnten sonische Gewohnheiten etablieren. Der folgende, ebenfalls von Zakharine verfasste Artikel beschäftigt sich mit taktilen Kanälen, mit körperlichen Berührungen als elementare anthropologische Konstanten in öffentlichen Räumen. Dabei unterscheidet er nach Edward Hall zwischen low-contact und high-contact cultures (S. 123) und schreibt somit verschiedenen taktilen Kulturen unterschiedliche Auswirkungen auf sozio-politische Entwicklungen zu. Im Fokus stehen dafür die an vormoderne Traditionen anknüpfenden Gesten des Bruderkusses und Rituale in der Banja mit ihren symbolischen, die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit überschreitenden Verhaltenscodes. Beide Handlungen wiesen, so Zakharine, auf soziale, semi-familiäre oder elitäre Nahbeziehungen hin.
Ähnlich vielseitig gestaltet sich der Themenkomplex der Medien. Lorenz Erren beschäftigt sich in seinem Artikel mit den Besonderheiten der sowjetischen Versammlungsöffentlichkeit. Indem er Meetings und Betriebsversammlungen als Distanz nivellierende, performative Rituale, und Kontroll- und Disziplinierungstechniken im Foucault'schen Sinne kennzeichnet, erkennt er darin Überreste der alten Dorfgemeinschaft und Arenen performativ ausgetragener Konflikte. Ebenfalls präsenzabhängig waren Feste als Mittel der zeremoniellen Mobilisierung und performativen Implementierung neuer politischer Realitäten. Diese Überlegungen setzt Sergei Kruk fort. Massentheater sowie Kultur- und Erholungsparks seien in den 1930er-Jahren nicht nur Bühnen kollektiv-integrativer Rituale gewesen, sondern hätten Gesellschaft von oben simuliert. Anastasiia Zaplatina beschäftigt sich mit Körpern als Medium und geht auf die in verschiedenen Textgattungen festgehaltene Reflexion der Genderpolitik der frühen Sowjetunion ein. Auch die folgenden Artikel beschäftigen sich mit Schrifterzeugnissen, denn Wort und Schrift seien in den Augen der Bol’ševiki Werkzeuge gewesen, um Menschen zu transformieren, modernisieren und zu mobilisieren. Kirill Postoutenko untersucht das kommunikative Potential von Geldsystemen als Interaktionsmedium. Orientiert an den semiotischen Studien de Saussures konstatiert er auch für die Sowjetunion, wie Währungen als Symbole von Ordnung und Herrschaft diese visuell repräsentierten, verbreiteten und produzierten.2
Alexey Tikhomirov widmet sich handschriftlich verfassten Egodokumenten als Instrumenten des social engineering und untersucht die Beziehung zwischen Schreibenden und Macht im Foucault'schen Sinne. Tikhomirovs Ergebnisse ergänzen sich mit seinem daran anschließenden Artikel über Anfrage- und Beschwerdekorrespondenzen zwischen Bürger:innen und Institutionen. Für die Briefeschreiber:innen als loyale Bittsteller:innen stellten diese Institutionen Mediationsinstanzen der Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft dar. Zugleich zeigen die Schriftstücke die Grenzen der Kommunikation und des Sagbaren. Ähnlich argumentieren zwei darauffolgende Artikel, die sich mit Denunziationen und Selbstberichten (samootčety) beschäftigen. Während die einen anklagenden Charakter trugen, stand bei den anderen der didaktische Aspekt der Selbsterziehung und Verhaltensnormierung im Vordergrund.
Mehrere Artikel widmen sich den etablierten (elektrischen) Massenmedien. Larissa Zakharova analysiert die Geschichte der sowjetischen Telegrafie als eine der Schlüsseltechnologien der Informationsübermittlung. Diese habe Ordnung verbreitet und Hierarchien zentralisiert, sei einfach zu kontrollieren gewesen und habe als Instrument der Durchherrschung der (kolonialen) Peripherie fungiert. Die Geschichte der sowjetischen Telefonie ist hingegen ein fruchtbares, noch wenig beachtetes Feld.
Verhältnismäßig gut erforscht ist die Geschichte des sowjetischen Kinos. Kristina Tanis kennzeichnet zwei Tendenzen des sowjetischen Kinos, die im Übrigen auch für andere Medien zutreffen: Das Kino fungierte als Medium der Hochkultur, übertrug daher Produkte anderer Kunstformen im Film (zum Beispiel Theater, Oper). Gleichzeitig transportierte es Botschaften möglichst ansprechend und verständlich. Ähnlich gestaltet sich Dmitri Zakharines technikgeschichtlich angelegter Artikel zum sowjetischen Radio. Er unterscheidet zwischen Radiotechnik und Radiokommunikation. Unter ersterer versteht er alle Ebenen der technischen Soundtransmission. Radiokommunikation hingegen ist der Austausch technologischer und Gemeinschaftserfahrung, wobei sich hier bewusst Technologie und Gesellschaft überschnitten und den Implikationen verschiedener soundscapes unterliegen. Hier bietet sich ein intermedialer und diachroner Vergleich des sowjetischen Rundfunks an, der die Systemimmanenz vieler Desiderate auch für die nachstalinistische Sowjetunion zeigen könnte.3
Die letzte Rubrik beschäftigt sich mit den Grenzen und Mechanismen der sowjetischen Kommunikation und verweist auf Mechanismen sozialer Segregation, zum Beispiel im Hinblick auf die soziale Privilegierung der Nomenklatura als systemunterstützender Gruppe oder auf die Ausgrenzung „devianter“ Gruppen (innerhalb des Parteiapparates). Unterstützung bzw. Ablehnung des autoritativen ideologischen Diskurses seien den Beitragenden zufolge kommunikativ und performativ ausgehandelt worden. Die übrigen drei Artikel sind mit diesem Topos lose verbunden. Sie beschäftigen sich mit der Verbreitung und Resonanz von Botschaften, beispielsweise top-down in Schulbüchern oder bottom-up durch Applaus. Olga Velikanova zeigt, wie diese Sphären durch Überwachung als eine Art top-down-Extrahierung von bottom-up-Botschaften verbunden waren.
Insgesamt liegt ein thematisch vielschichtiger und lesenswerter Sammelband vor, der mit einem breiten Kommunikations- und Medienbegriff arbeitet, zahlreiche mediale Sphären des Alltags einbezieht und somit entscheidend das Betätigungsfeld der sowjetischen Mediengeschichte ausweitet. Zu bemängeln ist, dass einzelne Beiträge sich nur rudimentär mit den verwendeten Medien- und Kommunikationsbegriffen methodisch auseinandersetzen. Ein Vergleich mit der medialen Entwicklung in der poststalinistischen Sowjetunion wäre gewinnbringend. Zudem beansprucht der Band zwar einen akteur:innenzentrierten Ansatz, und doch bleiben vereinzelte Beiträge einer Institutionengeschichte verhaftet.
Anmerkungen:
1 Mariëlle Wijermars, Memory Politics in Contemporary Russia: Television, Cinema and the State, London 2019.
2 Vgl. Stephan Rindlisbacher, From International Isomorphism to Traditionalist Iconography. Banknotes as an Alternative Approach to Soviet Chronology, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 70 (2022), S. 100–130.
3 Vgl. Kristin Roth-Ey, Moscow Prime Time: How the Soviet Union Built the Media Empire that Lost the Cold War, Ithaca 2001; Kristina Wittkamp, Radio Majak – Radiohören und Radiomachen in der Sowjetunion, 1964–1991, Göttingen 2024.