Die Theaterwissenschaft gehört mit heutzutage 32 Professuren an 16 Standorten zu den sogenannten Kleinen Fächern.1 Einer dieser Standorte, nämlich derjenige an der Universität Köln, steht im Zentrum des vorliegenden Buches von Nora Probst. Es handelt von den Anfängen der Kölner Theaterwissenschaft unter seinem Direktor Carl Niessen (1890–1969), der das Institut aufbaute, es als Fach an der Universität Köln und darüber hinaus etablierte sowie 40 Jahre lang prägte und eine interessierte Öffentlichkeit durch Ausstellungen für die Belange des Theaters und das Fach zu gewinnen suchte. Dass zu Niessen und seinem Wirken erst jetzt eine reichhaltige und auf zahlreichen Quellen basierende Arbeit vorliegt, erstaunt und war lange überfällig. Denn Carl Niessen war der Erste im deutschsprachigen Raum, der die Lehrbefugnis für Theaterwissenschaft (1919) und später den entsprechenden Lehrstuhl (1938) erhielt. Außerdem war es Niessens Verdienst, dass die Theaterwissenschaft 1922 zum Prüfungsfach an der Universität Köln wurde und das Fach mit der Promotion abgeschlossen werden konnte. Niessen hat das Fach also entscheidend geprägt – in Köln und darüber hinaus.
Niessen war zwar Theaterwissenschaftler, aber er war auch „Sammler“ materieller Spuren des Theaters. Als „Ausstellungsmacher“ und „Vermittler“ suchte er das flüchtige theatrale Ereignis beziehungsweise die Aufführung greifbar zu machen. Gelingen sollte das durch und mit Objekten seiner Sammlungen und dem Theatermuseum. Seine theaterwissenschaftliche Praxis lässt sich daher als ein „Denken mit und durch Objekte“ verstehen (S. 4). Das Sammeln, wie es Probst zu Beginn ihrer Arbeit nennt, war für ihn „kein Selbstzweck, sondern dezidierter Bestandteil von Forschung und Lehre“ (S. 3). Denn für Niessen musste das Material durch Präsentation und verbale Einordnung „reanimiert“ werden, erst dann lasse sich eine Vorstellung von einem vergangenen theatralen Ereignis vermitteln, oder anders gesagt: Die Objekte, davon war er überzeugt, besitzen das Potenzial, „längst vergangene Prozesse theatraler Ereignisse begreifbar zu machen“ (S. 45). Aus diesem Grund sind Niessen sowie sein Denken und Agieren auch für die Kulturwissenschaften von Interesse. Die vorliegende Rezension – um es vorwegzunehmen – entspringt dieser Neugier auf eine durchaus ambivalente Person, deren zentrale Bemühungen um den Aufbau eines neuen Fachs in die NS-Zeit fallen. Die Studie ist daher auch für die zeit- und wissenshistorische Forschung eine attraktive Fundgrube.
Das rund 300 Textseiten starke und reich bebilderte Buch, das die leicht überarbeitete Dissertation von Nora Probst aus dem Jahr 2019 darstellt, blickt also auf die Anfänge eines Fachs und einen Akteur, für den das Theater mehr als eine „bürgerliche Kunstform“ war: Niessen verstand das Theater als anthropologische Konstante, „deren Ursprünge es durch ethnologische, d. h. völker- und volkskundliche, Beobachtungen zu erforschen gelte“ (S. 7). Es verwundert daher auch nicht, dass Niessen ein ganzheitlicher Ansatz vorschwebte, der sich auch in den 1932 neu bezogenen und sich über drei Stockwerke erstreckenden Institutsräumen ausdrücken sollte. Das Kölner Institut war nämlich mehr als ein Universitätsinstitut aus Seminar- sowie Büroräumen und einer Bibliothek: Es war Teil des Niessenschen Denkraums2, zu dem auch ein Raum für Wechselausstellungen, ein Vortragssaal, der zugleich als Probebühne diente, Magazin- und Sammlungsräume sowie ein Museum beziehungsweise das Theatermuseum gehörten. Dieser im Institut physisch begreifbare Denkraum Niessens ist eng verbunden mit seinem auf die Lehrpraxis bezogenen Denkraum sowie dem geistigen Denkraum einer „universal angelegten Theaterforschung, die zwischen strenger Wissenschaftlichkeit und sinnlicher Anschauung oszillierte“ – alle drei Ebenen waren aufs Engste miteinander verwoben und aufeinander bezogen (S. 15, ausführlich S. 25–32).
Diesen Denkräumen folgt Probst in ihrem Buch anhand unterschiedlicher Quellen: dem persönlichen Nachlass Niessens, der von ihr selbst erschlossen wurde, der theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität Köln, zu der sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin uneingeschränkten Zugang hatte, und zahlreichen weiteren Archivquellen (S. 11f.). Und sie folgt ihnen, indem sie die Leserschaft durch einen Rundgang des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Gebäudes des Theaterwissenschaftlichen Instituts mitnimmt – über das Erdgeschoss mitsamt seinen ausstellungs- und theaterpraktischen Räumen (S. 65–154), dem ersten Obergeschoss, in dem sich das „eigentliche“ theaterwissenschaftliche Institut mit seinen Büros und Sammlungsräumen befand (S. 155–274), und dem zweiten Stockwerk mit dem Theatermuseum, in dem Niessen der Ur-Form des Theaters nachspürte, von der Antike und Ostasien über das Mittelalter und dem Barock bis ins 19. Jahrhundert (S. 275–310). Sprachlich erfolgt das leider nicht immer elegant und mit zu vielen Tippfehlern.
Niessens „totale Theaterwissenschaft“ (S. 222–228) und sein Verhalten während der NS-Diktatur muten dabei durchaus widersprüchlich an, wie Probst anhand der Quellen und zum Beispiel in den Kapiteln zur Institutsorganisation, zu seinen Schülern und Mitarbeitern oder zu seiner Rolle in der Thingbewegung3 immer wieder gut herausarbeiten kann. Er bewegte sich zwischen Annäherung und Abgrenzung – zwischen völkischen Ideen und antisemitischen Äußerungen einerseits und einer umfassend und offen gedachten sowie praxisorientierten Theaterforschung andererseits, die auf einen kulturvergleichenden Ansatz zielte, der wiederum auf der von ihm zusammengetragenen umfangreichen, ethnologisch geprägten theaterwissenschaftlichen Sammlung basierte. Probst spricht hier zurecht von einer „Gleichzeitigkeit von Affirmation und Distanzierung“ (S. 253) und einem damit einhergehenden unklaren Sichtfeld.
Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist besonders Niessens kulturvergleichender Ansatz interessant, der sich in seiner innovativen Sammeltätigkeit und regen Ausstellungstätigkeit ausdrückt. Er machte bis dato wenig beachtete Objekte – „Reste der Inszenierungspraxis“ (S. 263) – zu Wissensobjekten und rückte diese in seinen Ausstellungen in den Mittelpunkt. Das bürgerliche Theaterverständnis wurde von Niessen dabei aufgebrochen, indem er ihm eine anthropologisch-ethnologische Perspektive dazugesellte. Er weitete so nicht nur für seine Studenten und Gäste den Blick auf außereuropäische Theaterformen und -praktiken, sondern auch für die Besucher des Theatermuseums – und das in der NS-Zeit, in der man anderes erwartet hätte. Seine Ausstellungen waren das Ergebnis eines Nachdenkens über das Theater – und zwar mit und durch Objekte. Probst hat ihn, der in rund 40 Jahren mehr als 60 (inter-)nationale Theaterausstellungen kuratiert hat, zutreffend als „Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Universität und Museum“ (S. 118) bezeichnet.
Die vorliegende Rezension spricht aufgrund der Fülle des Materials nur einen Bruchteil dessen an, was Nora Probst in ihrem Buch ausführlich und dicht an den Quellen erörtert hat. Mit Niessen hat sie einen Protagonisten in den Vordergrund gerückt, der über die Theaterwissenschaft hinaus wohl nur wenig bekannt war, jetzt aber endlich sichtbar(er) werden dürfte. Es öffnet sich damit ein Feld, das nicht nur zeit- und wissensgeschichtliche, medien- und kunsthistorische, sondern auch ethnologisch-volkskundliche Perspektiven berührt. Nora Probst hat mit ihrer Arbeit hierzu einen wichtigen Grundstein geliefert.
Anmerkungen:
1 Vgl. Arbeitsstelle Kleine Fächer (Hrsg.), Portal Kleine Fächer. Theaterwissenschaften, https://www.kleinefaecher.de/kartierung/kleine-faecher-von-a-z/theaterwissenschaft (23.09.2024).
2 Wer sich hier an den Kunsthistoriker Aby Warburg erinnert fühlt, liegt richtig. Niessen und Warburg standen nicht nur im Kontakt, sondern verfolgten beide einen vergleichenden Ansatz. Dazu auch Probst S. 21–25, 179–188.
3 Vgl. zur Thingbewegung zum Beispiel Rainer Stommer, Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die „Thing-Bewegung“ im Dritten Reich, Marburg 1985; Gerwin Strobl, Die „Volksgemeinschaft“ unter freiem Himmel. Thing(spiel)bewegung und Thingstätten, in: Katharina Bosse (Hrsg.), Thingstätten. Von der Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart, Bielefeld 2020, S. 16–25.