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Titel
Eyewitness and Crusade Narrative. Perception and Narration in Accounts of the Second, Third and Fourth Crusades


Autor(en)
Bull, Marcus
Reihe
Crusading in Context 1
Erschienen
Woodbridge 2018: Boydell & Brewer
Anzahl Seiten
x, 396 S.
Preis
$ 99.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gion Wallmeyer, DFG-Graduiertenkolleg 1507 "Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts", Georg-August Universität Göttingen

Die Debatte um den Wert von Augenzeugenschaft für die systematische Rekonstruktion historischer Ereignisse begleitet die Geschichtswissenschaft seit ihrer Formationsphase im 19. Jahrhundert. Bereits vormoderne Geschichtsschreiber versuchten ihre Darstellungen durch derartige Berichte „aus erster Hand“ zu stützen, so ließ Tacitus sich etwa den Ausbruch des Vesuv von Plinius dem Jüngeren schildern und zahlreiche Chronisten des ersten Kreuzzugs verwandten den als Gesta Francorum bekannten Bericht eines unbekannten Kreuzfahrers aufgrund seiner vermeintlichen Nähe zu den Geschehnissen. In der Kreuzzugsforschung, die Augenzeugenberichten bei der Rekonstruktion politischer und militärischer Geschehnisse traditionell einen hohen Stellenwert eingeräumt hat, sind allerdings in den vergangenen Dekaden nicht nur Zweifel an den Gesta und ihrer Wirklichkeitsnähe, sondern auch am Konzept Augenzeugenschaft aufgekommen. Unter dem Einfluss der neueren Kulturgeschichte ist dabei die Forderung laut geworden, weniger die vermeintliche Nähe einzelner Historiographen zu den beschriebenen Ereignissen zu untersuchen und stattdessen vielmehr den literarischen Zweck ihrer Werke ins Zentrum der Forschung zu rücken.1 Marcus Bull stellt sich mit seiner Monographie dieser Herausforderung, indem er den Augenzeugen als Kategorie der Gewinnung historischer Evidenz untersucht. Zu diesem Zweck entwickelt Bull ein begriffliches und methodisches Instrumentarium aus Erzähltheorie sowie Psychologie, welches er wiederum auf Augenzeugenberichte des zweiten, dritten und vierten Kreuzzugs anwendet.

Bull eröffnet seine Untersuchung mit einem historischen Überblick über die Rolle von Augenzeugenschaft bei den antiken Geschichtsschreibern Polybius, Thukydides und Flavius Josephus sowie in der mittelalterlichen Historiographie bis zum Beginn des zweiten Kreuzzuges in der Mitte des 12. Jahrhunderts (S. 12–46). Vor dem Hintergrund dieser Werke argumentiert er für die These, dass die Inanspruchnahme von Augenzeugenschaft für die Autoren eine wichtige Ressource zur Erzeugung von Glaubwürdigkeit gewesen sei, obgleich „[…] the relationship between claimed authorial autopsy and the actions and gaze of the eyewitness-as-participant is fluid, capable of shifting many times over the course of a single narrative.“ (S. 46) Im Anschluss an diese historische Hinführung erörtert Bull zentrale Modelle der Erzähltheorie hinsichtlich ihres Nutzens bei der Analyse von Augenzeugenschaft in historischen Texten (S. 47–67). Als relevant identifiziert er diesbezüglich insbesondere David Hermans Konzept der narrativen Welt (storyworld), also den Ereignissen in einem Narrativ und deren Wahrnehmung durch den Rezipienten, sowie das Konzept der Fokalisierung nach Gérard Genette, welches den Zugang des jeweiligen Erzählers zu den Informationen jener Welt erfasst.

Im anschließenden Kapitel widmet Bull sich den Überlegungen aus dem Bereich der Psychologie, Strafjustiz sowie Hirnforschung zu Augenzeugen und deren Erinnerung an die von ihnen beobachteten Ereignisse hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit in der Geschichtswissenschaft (S. 72–125). Vor diesem Hintergrund stellt er zum einen die Unzuverlässigkeit individueller Erinnerungen heraus und betont zum anderen die soziale Bedingtheit des Erinnerns. Trotz dieser erkenntnisskeptischen Tendenzen widersteht Bull der Versuchung des in den Kulturwissenschaften inzwischen allgegenwärtigen radikalkonstruktivistischen Relativismus (S. 121) und schlägt stattdessen vor, auf Grundlage von Daniel Wegeners Konzept eines transaktiven Gedächtnisses (transactive memory) die Partizipation einzelner Augenzeugen an gemeinsamen Erinnerungen zu untersuchen.

Bull betritt an dieser Stelle fraglos ein weites Feld, sodass es wenig verwundert, wenn vielversprechende interdisziplinäre Ansätze aus Geschichtswissenschaft (wie etwa der Umgang mit den Erinnerungen von Zeitzeugen in der Oral History) oder angrenzenden Disziplinen (wie etwa die Arbeiten zum „Zeugnis anderer“ in der sprachanalytischen Philosophie) nicht berücksichtigt werden können.2 Problematisch ist indes, dass Bull auch vieldiskutierte Beiträge aus Mediävistik zu diesem Feld übergeht; so finden die Arbeiten Johannes Frieds zur historischen Memorik ebenso wenig Erwähnung wie die Forschung zur kollektiven Erinnerung der Kreuzzüge, die auf dem Werk des von Bull in einer Fußnote (S.8 2) kurz touchierten Soziologen Maurice Halbwachs basiert.3 Dies mündet schlussendlich in der fragwürdigen These, Historiker hätten sich in der Vergangenheit stets unhinterfragt auf Augenzeugen und ihre Erinnerungen verlassen, ohne die Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften zu berücksichtigen (S. 88).

Auf die begrifflich-methodischen Kapitel folgt das empirische Herzstück der Monographie: Eine Analyse von Augenzeugenberichten des zweiten, dritten und vierten Kreuzzugs mithilfe des zuvor erarbeiteten Instrumentariums. Bull beschränkt sich dabei auf fünf größtenteils wohlerforschte Textquellen: Die Chronik De expugnatione Lyxbonensi eines unbekannten Kreuzfahrers (S. 126–156) sowie De profectione Ludovici in orientem des französischen Hofkaplans Odo von Deuil (S. 156–192) für den zweiten Kreuzzug, die Estoire de la guerre sainte des normannischen Troubadours Ambroise (S. 219–255), für den dritten Kreuzzug und schließlich die Histoire de la Conquête de Constantinople (S. 260–292) sowie La conquête de Constantinople (S. 292–336) der Ritter Gottfried von Villehardouin bzw. Robert von Clari für den vierten Kreuzzug.

Der erzähltheoretischen Analyse der einzelnen Texte schickt Bull jeweils eine kurze historische Einleitung zu den Werken selbst voran, was insbesondere bei außerhalb der Kreuzzugsforschung weniger bekannten Quellen wie dem Bericht über die Eroberung Lissabons im Jahre 1147 hilfreich ist. In seinen überaus detailreichen Auseinandersetzungen mit den fünf Augenzeugenberichten nimmt er das Verhältnis von Erzähler sowie Autor in den Blick und illustriert, wie in den einzelnen Texten etwa durch einen Wechsel der Fokalisation die Augenzeugen-Erfahrung des Autors in der narrativen Welt evoziert oder imitiert werden kann. Wenn Bull nun im Folgeschluss davon ausgeht, den untersuchten Augenzeugenberichten sei prima facie zu trauen, weil es narrative Zweck dieser Texte sei „[…] to tell it like it was […]“ und die Autoren einem kohärenten Narrativ verpflichtet seien (S. 344f.), begeht er nicht nur eine petitio principii, sondern verfehlt es zugleich eine tragfähige Methode aufzuzeigen, mithilfe derer sich ermitteln lässt, welchen Aussagen in diesen Texten nicht zu trauen ist.

Insgesamt hinterlässt die Lektüre von Bulls Werk also einen zwiespältigen Eindruck, was vornehmlich darauf zurückzuführen ist, dass der Verfasser nicht hinreichend zwischen drei Problemstellungen differenziert, die unterschiedliche Lösungsansätze erfordern: Erstens die wissenschaftstheoretische Frage, ob sich aus Augenzeugenberichten sichere Erkenntnisse für die Rekonstruktion historischer Ereignisse gewinnen lassen, zweitens die methodologische Frage, wie sich aus Augenzeugenberichten diese sicheren Erkenntnisse gewinnen lassen, und drittens die geschichtswissenschaftliche Frage, wie in der mittelalterlichen Historiographie der Kreuzzüge mit den ersten beiden Fragen umgegangen wurde. Einerseits verfehlt es Bull, die ersten beiden Fragen adäquat zu adressieren, sodass der Nutzen seiner Monographie für die wissenschaftstheoretische bzw. methodologische Fundierung von Ereignisgeschichtsschreibung gering bleibt. Auf der anderen Seite gelingt es Bull jedoch anhand von Einzelfallanalysen aufzuzeigen, wie fruchtbar ein erzähltheoretischer Ansatz jenseits von Hermeneutik oder Diskursanalyse für die Beantwortung der dritten Frage sein kann, was insbesondere für Historiker interessant sein dürfte, die entweder erzähltheoretisch oder mit einer der näher untersuchten Quellen arbeiten (wollen).

Anmerkungen:
1 Siehe u.a. Susan B. Edgington, Albert of Aachen and the Chansons de Geste, in: John France / William G. Zajac (Hrsg.), The Crusades and Their Sources. Essays Presented to Bernard Hamilton, Aldershot 1998, S. 23–37 und Yuval Noah Harari, Eyewitnessing in Accounts of the First Crusade. The Gesta Francorum and Other Contemporary Narratives, in: Crusades 3 (2004), S. 77–99.
2 Für einen Überblick siehe u.a. Donald A. Ritchie, Doing Oral History, 3. Auflage, Oxford 2014 sowie Jonathan Adler, Art. „Epistemological Problems of Testimony“, in: Edward N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2017 Edition), <https://plato.stanford.edu/archives/win2017/entries/testimony-episprob/> (28.08.2019) und Nicola Mößner, Das Zeugnis anderer, in: Martin Grajner / Guido Melchior (Hrsg.), Handbuch Erkenntnistheorie, Stuttgart 2019, S. 136–144.
3 Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004 sowie Henriette Benveniste, Fierté, désespoir et mémoire. Les récits juifs de la première croisade, in: Médiévales 35 (1998), S. 125–140 und Abbès Zouache, Écrire l’histoire des croisades, aujourd’hui, in: Rania Abdellatif / Yassir Benhima / Daniel König / Elisabeth Ruchaud (Hrsg.), Construire la Méditerranée, penser les transferts culturels. Approches historiographiques et perspectives, München 2012, S.120–147.

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