E. Hebeisen u.a. (Hrsg.): Reformen jenseits der Revolte

Cover
Titel
Reformen jenseits der Revolte. Zürich in den langen Sechzigern


Herausgeber
Hebeisen, Erika; Hürlimann, Gisela; Schmid, Regula
Erschienen
Zürich 2018: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
164 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Nadine Zberg, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Als um 2008 die Ereignisse von 1968 in der Schweiz erstmals eine wesentliche historiographische Bearbeitung erfuhren, erklärte Bernhard C. Schär das bisher mangelnde Interesse der Forschung damit, dass die hiesigen Ereignisse im Vergleich mit jenen in den europäischen Nachbarsländern zu marginal gewesen seien. Er hielt fest, dass das Jahr „in der jüngeren Geschichte der Schweiz keine unmittelbar einsichtige Zäsur“ darstelle. Schär empfahl daher, „neben den Brüchen auch die Kontinuitäten ins Auge zu fassen“.1 Dennoch fokussierten die schweizerischen Publikationen der vergangenen Jahre auf „1968“ als eine zwei bis drei Jahre umfassende, „ereignisdichte, emotional stark aufgeladene gesellschaftliche Veränderungsphase“2 und deren politische und kulturelle Nachwirkungen in den Folgejahren.3

Mit dem Band „Reformen jenseits der Revolte“ nähern sich die drei Herausgeberinnen Erika Hebeisen, Gisela Hürlimann und Regula Schmid dem Phänomen „1968“ nun dezidiert von den Rändern her an. Als Bezugsrahmen dienen ihnen die im deutschsprachigen Raum in diesem Zusammenhang seit einiger Zeit diskutierten „langen Sechziger“: Mit diesem Konzept möchten sie „Menschen, Organisationen und Institutionen, die im Lauf von rund zwanzig Jahren etwas in Gang brachten, wagten und erprobten, was dem gesellschaftlichen Aufbruch Vorschub leistete“ (S. 7f.), in den Blick nehmen. Damit zielen die Herausgeberinnen also auf eine Zerstreuung der auf die – hier konsequenterweise auch aus dem Titel verschwundene – Chiffre „1968“ fokussierten Aufmerksamkeit in einen größeren Zeitbereich hinein. So wollen sie „Tendenzen der Modernisierung und Liberalisierung sowie einen Reformwillen“ (S. 8), die bereits in den 1950er-Jahren zu erkennen waren und eine anhaltende Wirkung entfalteten, sichtbarmachen. Aus diesem Projekt einer Dezentrierung von „1968“ ergibt sich, dass die im Band versammelten Beiträge sich auch thematisch höchstens noch an der Peripherie des klassischerweise mit 1968 assoziierten Spektrums – neue Protestformen, sexuelle Liberalisierung, Generationenkonflikt etc. – bewegen. Einzelne Beiträge befassen sich so u.a. mit Stadtplanung, der Ethnopsychoanalyse oder der „alten“ Frauenbewegung der 1950er-Jahre.

Eine Ausnahme davon, die zugleich aber als programmatisch für den ganzen Band gelten kann, ist der Beitrag von Daniel Speich Chassé. Mit der Frage danach, was die Zürcher Studierenden in Bewegung versetzte, nimmt er sich einem der klassischen 68er-Themen an. Eine Annäherung an den studentischen Aktivismus um 1968 von den 1950er-Jahren her erlaubt es Speich Chassé, diesen im größeren bildungspolitischen und gesellschaftlichen Kontext zu verorten. Aus dieser Warte zeigt sich, wie wenig politisch „radikal“ die Zürcher Studierenden in den 1960er-Jahren bei ihren Forderungen nach mehr Mitbestimmung größtenteils vorgegangen waren. Speich Chassé hält dazu fest: „Je genauer man sich den Ereignissen des bewegten Jahrzehnts nähert, umso banaler wird die vermeintliche Revolution und umso geringer erscheint der Beitrag, den die Studenten und Studentinnen der Zürcher Hochschulen dazu effektiv leisteten.“ (S. 55f.) Speich Chassé führt hier also für den Sammelband, dessen Umschlagbild sich mit einer Aufnahme eines neu gebauten Autobahnabschnitts von 1967 dezidiert der klassischen Ikonographie von 1968 verweigert, exemplarisch vor, wie sich die Chiffre „1968“ auflöst, wenn man sie in einem größeren zeitlichen Rahmen situiert.

Dass über diesen Zugang überraschende und erhellende neue Perspektiven auf die kulturellen und politischen Transformationsprozesse seit den 1960er-Jahren eröffnet werden können, zeigt etwa der Beitrag zu den Interventionen der italienischen Emigrationsorganisation „Colonie Libere Italiane“ in der Schweizer Bildungspolitik. Sarah Baumann und Philipp Eigenmann zeichnen darin nach, wie die als Arbeitsmigrantinnen und als Frauen in der Schweiz doppelt politisch marginalisierten Italienerinnen mit ihrem Engagement gegen die schulische Diskriminierung ihrer Kinder im Bildungswesen ein politisches Betätigungsfeld für sich eroberten und richtungsweisende Impulse für spätere progressive Reformen im Schweizer Schulwesen setzten. Damit leisten Baumann und Eigenmann einen Beitrag zur neueren Migrationsgeschichtsforschung, die Migrant/innen als gesellschaftspolitische Akteur/innen begreift, die in ihren Ankunftsländern durch Transfers von Wissen oder politischen Strategien einen wesentlichen Anteil an der Einleitung von gesellschaftlichen Transformationsprozessen haben.4 Gerade für die Untersuchung des Wandels der politischen Kultur und Ausdrucksformen in den 1960er-Jahren dürfte eine solche migrationsgeschichtliche Perspektive ein großes Potential bieten – Sarah Baumann und Philipp Eigenmann haben hier einen ersten Wegweiser gesetzt.

Horizonterweiternd ist in diesem Sinn auch die Lektüre von Christoph Merkis Artikel zur Zürcher Jazzszene in den 1950er- und 1960er-Jahren. Wenn in der Forschung diskutiert wird, ob und was die 68er-Bewegung und ihre alternativen und gegenkulturellen Ausläufer zur neoliberalen Wende ab den 1980er-Jahren beigetragen haben, findet die Zeit vor Mitte der 1960er-Jahre und namentlich (nicht-jugendliche) subkulturelle Milieus wie etwa die Jazzszene wenig Beachtung.5 In Merkis hauptsächlich auf Zeitzeug/innen-Gesprächen basierendem Beitrag entsteht ein Bild der Zürcher Jazzszene, die nicht nur in ihrer andauernden räumlichen Prekarität – die Musiklokale bewegten sich in juristischen Graubereichen und wurden behördlich verfolgt – und in der antibürgerlichen Radikalität des Strebens nach (künstlerischer) Selbstverwirklichung ihrer Akteur/innen frappierende Ähnlichkeiten mit der Alternativszene der 1970er-Jahre aufweist. Mit ihrer Geringschätzung des „Politischen“ und ihrem kompromisslosen Feiern individueller Freiheit und Unabhängigkeit artikulierten die Zürcher Jazzer/innen bereits in den späten 1950er-Jahren Werthaltungen, die gemeinhin als typisch für die sozialen Zerfallsprozesse der 1980er- und 1990er-Jahre gesehen werden. Welche Kontakte zwischen ihnen und den sich selbst explizit als politisch verstehenden Bewegungen der 1960er-Jahre trotz einem gewissen Unverständnis füreinander bestanden, wie Einstellungen, Konzepte, Werte und Denkmuster zwischen diesen Milieus zirkulierten und wie dies mit einer semantischen Neuverhandlung dessen, was „politisch“ ist, zusammenhing, ist ebenfalls ein Themenaspekt, der sich für eine vertiefte empirische Untersuchung anbietet.

Darüber, inwiefern das Projekt einer Zerstreuung von „1968“ im Kaleidoskop der gesellschaftlichen Komplexität der „langen Sechziger“ auch an Grenzen stößt, lässt sich anhand des Beitrags von Jean-Daniel Blanc zu den Umbrüchen in der Zürcher Verkehrspolitik nachdenken. In seinem lesenswerten Text skizziert Blanc die Entstehung eines verkehrspolitischen „Modernisierungskonsens“ (S. 72), der bis um 1960 stabil war. Anschließend zeigt Blanc, wie dieser im Laufe der 1960er-Jahre zunehmend unterhöhlt und infrage gestellt wurde, um die Verkehrspolitik um 1970 in eine tiefgreifende Krise zu stürzen. Blanc richtet den Blick dabei vor allem auch auf bürgerliche Akteure und Gruppen, was eine produktive Differenzierung des politischen Feldes in den 1960er-Jahren erlaubt. Daneben waren es von ihm aber nicht näher bestimmte „Ad-hoc-Gruppierungen“ (S. 73), die Widerstand gegen behördliche Verkehrsprojekte leisteten. Weiter schreibt Blanc, dass im Umfeld ökologischer Diskussionen und der „Neuen Linken“ zu Beginn der 1970er-Jahre die Debatten „zunehmend emotional und ideologisch aufgeladen“ verlaufen seien (S. 79). Hinter diesen vagen und unbefriedigenden Formulierungen erscheint der kulturelle und politische Transformationsschub von „1968“ fast schon als blinder Fleck. Hier lässt sich daher fragen, ob an diesem Punkt nicht gerade umgekehrt die 68er-Bewegung als Linse dienen könnte, um den veränderten Diskurs in der Zürcher Verkehrspolitik differenziert und begreiflich darzustellen. Dadurch würde der Blick nicht nur frei auf die Impulse einer neuen politischen Kultur, wie sie im Umfeld der 68er-Bewegung entstand, sondern auch für die Allianzen und Wechselwirkungen, die diese mit Akteuren unterschiedlicher politischer Couleur schon Mitte der Sechziger einging.

Mit „Reformen jenseits der Revolte“ haben Hebeisen, Hürlimann und Schmid einen Band vorgelegt, der unkonventionelle Perspektiven auf die mit „1968“ assoziierte Umbruchsphase eröffnet. Schade ist, dass die einzelnen Beiträge nicht miteinander in einen Dialog treten und auch in der sehr kurzen Einleitung kein Raum für eine Synthese ist. So präsentieren sich die versammelten Beiträge der Leserin als zum Teil sehr disparate Puzzleteile, die nur sehr locker im gemeinsamen Bezugsrahmen der „langen Sechziger“ angeordnet sind. Mit dem luftigen Layout, den vielen großen Abbildungen und dem leicht verdaulichen Umfang der Beiträge eignet sich der Band auf alle Fälle zum Schmökern, Durchblättern und Inspirationen-Sammeln.

Anmerkungen:
1 Bernhard C. Schär, „1968“ als wiederbelebte bürgerliche Revolution. Einleitung, in: ders. u.a. (Hrsg.), Bern 68. Lokalgeschichte eines globalen Aufbruchs – Ereignisse und Erinnerungen, Baden 2008, S. 6–13, hier S. 7.
2 Jakob Tanner, „Winds of Change“ in den Voralpen. Die 68er-Bewegung als Symptom und Katalysator soziokulturellen Wandels, in: Der Geschichtsfreund 172 (2019), S. 9–21, hier S. 10.
3 So etwa bei Damir Skenderovic / Christina Späti, Die 1968er-Jahre in der Schweiz. Aufbruch in Politik und Kultur, Baden 2012; Janick Marina Schaufelbuehl (Hrsg.), 1968–1978, ein bewegtes Jahrzehnt in der Schweiz, Zürich 2009; Erika Hebeisen / Elisabeth Joris / Angela Zimmermann (Hrsg.), Zürich 68. Kollektive Aufbrüche ins Ungewisse, Baden 2008.
4 Vgl. hierzu auch die soeben erschienene Monografie von Barbara Lüthi / Damir Skenderovic, Switzerland and Migration. Historical and Current Perspectives on a Changing Landscape, Cham 2019.
5 So etwa bei Stephan Malinowski / Alexander Sedlmaier, „1968“ als Katalysator der Konsumgesellschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 238–267.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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