J. Angster u.a.: Staatsbürgerschaft im 19. und 20. Jahrhundert

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Titel
Staatsbürgerschaft im 19. und 20. Jahrhundert.


Autor(en)
Angster, Julia; Gosewinkel, Dieter; Gusy, Christoph
Erschienen
Tübingen 2019: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
203 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabella Löhr, Centre Marc Bloch, Berlin

Das Thema Staatsbürgerschaft ist aktuell wie nie angesichts der seit 2015 schwelenden Diskussion darüber, welchen Platz Migration im Selbstverständnis der bundesdeutschen Gesellschaft einnehmen sollte, wie sie dieses Selbstverständnis verändert und vor allem, was gesellschaftliche Zugehörigkeit und Teilhabe genau bedeuten. Diese Themen sind hoch umstritten. Sie haben grundlegende Verschiebungen in der politischen Tektonik nicht nur in Deutschland ausgelöst und werden im Alltag kontrovers diskutiert, wenn es beispielsweise um das Ausmaß und die Formen von Alltagsrassismus im Kontext der Black Lives Matter-Bewegung geht. Vor diesem Hintergrund kommt das gemeinsam von Julia Angster, Dieter Gosewinkel und Christoph Gusy geschriebene Buch über Staatsbürgerschaft in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert genau richtig. Um es vorwegzunehmen: Dieses Buch macht Spaß, es präsentiert Argumente, die sich in der Lehre und in der Forschung fruchtbar machen lassen, und sie halten den gesellschaftlichen Diskussionen um Teilhabe und Zugehörigkeit einen Spiegel vor.

Das Buch ist aus dem Arbeitskreis Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften in Mainz hervorgegangen. Es ist in drei ungefähr gleich große Kapitel gegliedert, die jeweils von einem der drei Autor:innen geschrieben wurde, und wendet sich primär an historisch Forschende, bietet aber auch interessierten Leser:innen aus anderen Disziplinen viele Anknüpfungspunkte. Dieter Gosewinkel eröffnet den Band mit einem konzeptionellen Beitrag, der das Thema Staatsbürgerschaft als interdisziplinäres und kontroverses Forschungsfeld vorstellt. Das zweite Kapitel von Julia Angster verortet das Thema Staatsbürgerschaft in den großen Narrativen zur Geschichte des langen 19. Jahrhunderts, indem sie es mit der Genese des modernen National- und Verwaltungsstaats verknüpft. Christoph Gusy widmet sich der Aushandlung von Staatsbürgerschaft in der Bundesrepublik und dies aus der Perspektive von Staatsrecht und öffentlichem Recht. Den Zusammenhalt zwischen den Beiträgen garantiert ein dichtes Gewebe an gegenseitigen Bezugnahmen, sodass sich bei aller Heterogenität der drei Zugänge am Ende ein guter Überblick über zwei Jahrhunderte formt.

In seinem eröffnenden Beitrag steckt Dieter Gosewinkel das Feld ab. Gleich zu Beginn grenzt er Staatsangehörigkeit von Staatsbürgerschaft ab. Während erstere die rechtlich definierte Zugehörigkeit zu einem Staatenverband meint, bezieht sich die Staatsbürgerschaft auf die individuellen Rechte, die damit eine Art Verbindungsstück herstellen zwischen Staat, Gesellschaft und Individuum. Diese individuellen Rechte stellt Gosewinkel als ein historisch flexibles Gut vor, in dem sich Fragen der gesellschaftlichen Zugehörigkeit seit dem frühen 19. Jahrhundert wesentlich kristallisieren, weswegen er Staatsbürgerschaft als etwas Prozessuales und Streitbares versteht, das laufend rechtlich geformt und durchgesetzt wurde. Darauf aufbauend führt der Beitrag in die verschiedenen disziplinären Zugänge in den Geschichts-, Rechts- und Sozialwissenschaften ein und erläutert die transnationale Dimension des rechtlichen Instituts der Staatsbürgerschaft, die auf strukturellen und der funktionalen Gemeinsamkeit beruht, dass Staatsbürgerschaft die Schnittstelle zwischen der „rechtlichen Innen- und Außenwelt des Nationalstaats“ gestaltet (S. 23). Außerdem bietet Gosewinkel eine vergleichende Begriffsgeschichte von Staatsbürgerschaft, citizenship und citoyenneté und er erläutert das analytische Potenzial des Konzepts, mit dem sich der Wandel von sozialen, politischen und nationalen Ordnungsvorstellungen bzw. Leitbildern untersuchen lässt. Besonders aufschlussreich sind die beiden historischen Fallbeispiele, mit denen Gosewinkel seinen Teil beendet. Das erste bietet eine kritische Diskussion der These von Rogers Brubaker, dass verschiedene Konzepte von Staatsbürgerschaft Aufschluss geben über spezifische nationale Identitäten, was Brubaker anhand der dichotomischen Gegenüberstellung der vermeintlich politisch definierten citoyenneté und des im deutschen Recht lange dominierenden Abstammungsprinzips veranschaulicht. Diese Dichotomie zerlegt Gosewinkel gekonnt, indem er die Nationskonzepte historisiert und dafür plädiert, die Analyse spezifisch politischer und sozialer Konstellationen ins Zentrum zu stellen und zu fragen, wie jeweils bestimmte Konzepte von Nation herangezogen wurden, um spezifische Interessen durchzusetzen. Das zweite Beispiel greift die kontroverse Frage nach der Kontinuität zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus auf. Hier bezieht Gosewinkel eindeutig Stellung. Er stellt die rassistisch motivierte Umgestaltung des Instituts der Staatsbürgerschaft durch die Nationalsozialisten vor und argumentiert, dass das NS-Regime mit der liberalen, rechtsstaatlichen Tradition des 19. Jahrhunderts systematisch brach zugunsten der „Herstellung der Identität von erwünschter Rasse- und Staatsangehörigkeit“ (S. 65).

Julia Angster nähert sich dem Thema über die Genese des modernen Verwaltungs- und Nationalstaats. Sie interpretiert Staatsbürgerschaft als das zentrale Moment, das die Verbindung zwischen Staat und Individuum schuf und so wesentlich zur Formierung dessen beitrug, was sie in Anlehnung an Max Weber und Georg Jellinek die „nationale Konstellation“ nennt – die Verbindung zwischen Territorium, staatlichen Institutionen und einer sich zunehmend mithilfe nationaler Begrifflichkeiten definierenden Bevölkerung. Mit Angster nimmt sich eine ausgewiesene Kritikerin einer national zentrierten Geschichtsschreibung genau dieser Themen an und bearbeitet sie so, dass nationale Deutungsmuster analytisch auf Distanz geraten. Das gelingt ihr, indem sie den Fokus auf die transnationalen strukturellen Gemeinsamkeiten lenkt, die bei der Entstehung des modernen Verwaltungs- und Interventionsstaats sowie bei der Nationalisierung von Staat und Gesellschaft in Deutschland, Frankreich und Großbritannien gleichermaßen am Werk waren. Angster gelingt eine gute Einführung in diese großen Transformationsprozesse und sie setzt das argumentativ um, was Gosewinkel in seinem Teil andeutet, nämlich, dass Nationskonzepte im 19. Jahrhundert bewusst von staatlichen Akteuren herangezogen wurden, um staatliche Handlungs- und Interventionsfähigkeit in den großen politischen Reformprozessen herzustellen. Die Brücke zur Staatsbürgerschaft schlägt sie über die Ethnisierung des Staatsbürgerschaftskonzepts ab den 1880er-Jahren, die mit der Vorstellung von der rechtlichen Gleichheit der Bevölkerung in Form des „Rassenantisemitismus“ und der kolonialen Herrschaft brach. Diese Ethnisierung begreift sie als eine „post-politische“ Entwicklung (S. 133). Damit verortet sie Rassifizierung und Ethnifizierung explizit im späten 19. Jahrhundert und sie stellt die Kategorie der Staatsbürgerschaft als ein asymmetrisches Herrschaftsinstrument vor mit der Tendenz, Pluralität aufzulösen wollen, die sie mit Michael Wildt jedoch als zentrale Bedingung moderner Gesellschaften begreift.

Christoph Gusy greift diese Argumentationslinie auf. Er zeichnet ein Spannungsfeld zwischen der erstaunlichen Kontinuität zwischen dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 und dem Staatsangehörigkeitsgesetz von 2000 auf der einen sowie dem tatsächlichen Wandel auf der anderen Seite, der in diesem Zeitraum mit Blick auf die Definition von Staatsvolk und dem gesellschaftlichen Selbstverständnis stattgefunden hat. Zu diesem Zweck lenkt er die Aufmerksamkeit auf die rechtliche Ausdifferenzierung der Gesetze und Vorschriften zur Regelung aller Fragen mit Bezug auf Staatsangehörigkeit bzw. -bürgerschaft, die sich im Grundgesetz, im fortdauernden Gesetz von 1913, in einer Vielzahl von Verwaltungsvorschriften und in Grundsatzurteilen des Bundesverfassungsgerichts manifestierten. Diesen Prozess der Ausdifferenzierung und schrittweisen Transformation der Bedeutung von Staatsbürgerschaft beschreibt er als eine Verlagerung zentraler Zugehörigkeitsfragen an die „Ränder“ (S. 157). Dies führt er auf die verfassungs- und staatsrechtlich komplexen Gründungsakt der Bundesrepublik zurück, der die damals schwelenden territorialen Revisionsforderungen staatsrechtlich möglich machen sollte, indem die Kategorien der (politischen) Staatsangehörigkeit und der „Volksdeutschen“ im Grundgesetz verankert wurden. Einen weiteren Einfluss auf die Regelung von Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft nach 1945 lokalisiert Gusy in den völkerrechtlichen Vorgaben, deren Wirkung sich aber erst ab den 1970er-Jahren entfaltete, was er auf eine Tabuisierung dieser Themen zurückführt zugunsten einer Vorgehensweise, die den territorialen Revisionsforderungen und dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik Raum einräumen sollten. Die wesentlichen Entwicklungen diagnostiziert Gusy deswegen in zwei anderen Bereichen. Das ist erstens die sukzessive Regelung von aufenthaltsrechtlichen Fragen durch die europäische Rechtssetzung und Rechtspraxis im Rahmen der EWG und zweitens die Einwanderung ab den 1960er-Jahren in Person der sogenannten Gastarbeiter, mit der sich die Definition von Staatsbürgerschaft, Staatsangehörigkeit, die Regelung von Aufenthaltsrechten sowie von politischen Rechten schrittweise transformierte. Dieser Teil, in dem Gusy das „stufige“ (S. 186) Erwachsen politischer Rechte erhellend vorführt und der konsequenterweise mit der Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes im Jahr 2000 endet, bildet das Kernstück seines Beitrags. Dieser Teil ist besonders anregend, weil Gusy die in der Migrationsliteratur eher versprengt dargestellte Transformation der politischen Rechte und des Instituts der Staatsbürgerschaft aufgrund von Migration in der BRD systematisch vorstellt und diskutiert.

Julia Angster, Dieter Gosewinkel und Christoph Gusy haben einen inspirierenden und empfehlenswerten Band vorgelegt. Es gelingt ihnen, bekannte Forschungsstände so zu synthetisieren, dass eine Reihe von anregenden und diskussionswürdigen Perspektiven entstehen, die wichtige Impulse liefern für die Diskussion über gesellschaftliche Teilhabe, Zugehörigkeit und Ausschluss in Deutschland und Westeuropa. Gleichzeitig macht der Band aber auch nachdenklich. Denn trotz der analytischen Distanzierung von Nationskonzepten und der Profilierung transnationaler Gemeinsamkeiten illustriert er, wie schwierig es ist, nationale Erzähllogiken im Kernbereich von Staatlichkeit und Souveränität zu transformieren, was in diesem Fall dem vergleichenden Zugriff, dem Fokus auf Westeuropa und der wenig überraschenden Periodisierung geschuldet ist.

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