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Titel
Geteilte Berge. Eine Konfliktgeschichte der Naturnutzung in der Tatra


Autor(en)
Hoenig, Bianca
Reihe
Umwelt und Gesellschaft (20)
Erschienen
Göttingen 2018: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jana Piňosová, Sorbisches Institut Bautzen

Im nördlichen Teil des Karpatenbogens, an der Grenze zwischen Polen und der Slowakei liegt das einzige Hochgebirge Ostmitteleuropas, die Tatra. Mit ihrem Herzstück, der Hohen Tatra wird sie aufgrund ihrer geringen Fläche auch als das „kleinste Hochgebirge der Welt“ oder gar als „Miniatur-Alpen“ bezeichnet. Wer heute die Tatra besucht, dem bietet sich folgendes Bild: Der Massentourismus hat die Tatra fest im Griff. Der Naturschutz, in der Tatra durch zwei aneinandergrenzende Nationalparks und das grenzüberschreitende Tatra-Biosphärenreservat vertreten, hat hingegen einen schweren Stand. Und noch eins fällt ins Auge: Die Tatra, obgleich ein Naturraum, scheint in eine polnische und eine slowakische Tatra aufgeteilt zu sein. Dass hinter diesem Bild eine spannende, ja spannungsgeladene Geschichte steckt, wird nach der Lektüre des Buchs von Bianca Hoenig überdeutlich.

Hoenig erzählt die Geschichte einer Berglandschaft, deren romantische und nationale Verklärung seit dem 19. Jahrhundert bis heute die Art und das Ausmaß der Naturnutzungen vor Ort bestimmen. Sie wendet sich damit einer Region zu, die in der Umweltgeschichte merklich unterbelichtet ist. Veränderungen der Bergwahrnehmung in der Moderne, ihre Einbeziehung in die Galerie der nationalen Bilder, ihre infrastrukturelle Erschließung und die Bedeutung von Bergen im Naturschutzdiskurs sind in der Umweltgeschichte heute durchaus gängige Themen. Wie weitgediegen beispielsweise die Forschung zu den Alpen ist, lässt sich an Jon Mathieus eingängig gestalteten Band zu den Alpen ablesen.1 Die Tatra wies jedoch – trotz des enorm hohen Stellenwerts als nationale Landschaft und Urlaubsdestination für Polen und Slowaken – bis Geteilte Berge von Bianca Hoenig keine nennenswerte, geschweige denn vergleichbare, umweltgeschichtliche Forschung auf.

Die Monografie ist mit Bedacht komponiert. Mit Rückgriff auf das Konzept der Territorialisierung spannt Hoenig einen weiten Bogen. Er reicht von der „Entdeckung“ der Tatra durch die polnische und slowakische Nationalbewegung im 19. Jahrhundert bis in die jüngste Gegenwart, die im Zeichen der Reprivatisierung des Bodens nach 1989 und der Konflikte zwischen Naturschutz und Tourismus nach dem Orkan von 2004 stehen. Der lange Zeitraum war geprägt von tiefen politischen Zäsuren, in deren Folge sich die staatliche Zugehörigkeit der Tatra mehrfach änderte. Trotz der Regimewechsel blieben die Konstellationen der Ansprüche seitens der Almbauern, des Naturschutzes und des Tourismus und somit auch die Spannung zwischen Kooperation und Konflikt erstaunlich konstant.

Das erste Kapitel zeichnet den Aufstieg der Hohen Tatra zu einer verklärten nationalen Landschaft nach. Im Norden des Gebirges waren es polnische Patrioten, die in der lokalen Bevölkerung, den Goralen, den Archetypus der Polen und in der Hohen Tatra den Kern eines freien Polens erblickten. Die Stadt Zakopane wurde zum Treffpunkt der polnischen Patrioten. Künstler, Wissenschaftler und Touristen aus allen polnischen Teilungsgebieten erschlossen die Region, unter anderem im Rahmen des 1873 gegründeten Tatraverbandes. Die Aneignung und Popularisierung der Südseite oblag hingegen dem Ungarischen Karpatenverein, dem nur wenige Slowaken, vor allem jedoch Zipser Deutsche angehörten. Die Slowakisierung der Tatra erfolgte daher mit einem deutlichen Zeitverzug. Die Vorstellung der Tatra als Wiege des Slawentums existierte zwar schon in den 1830er-Jahren. Doch verbreitet wurde sie erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts – zunehmend erweitert um die Vorstellung der Tatra als Gewähr der Stärke und Zukunft der Slowaken.

Die Kapitel zwei und drei verfolgen die Pläne zur Errichtung eines polnisch-tschechoslowakischen Nationalparks in der Zwischenkriegszeit. Konflikte zwischen Polen und der Tschechoslowakei um den Verlauf ihrer gemeinsamen Grenze betrafen unter anderem die Javorina, ein zentrales Gebiet der Hohen Tatra. Wirtschaftlich unbedeutend, besaß dieses Gebiet für beide Seiten einen hohen symbolischen Wert. Versuche, die Grenzstreitigkeiten mit militärischen oder gerichtlichen Mitteln zu lösen, verliefen bis dato im Sande. Nun war es der Naturschutz, der die Idee eines zwischenstaatlichen Schutzgebietes als alternative Lösung ins Spiel brachte. Auf Empfehlung des Krakauer Protokolls, einer Vereinbarung zur Lösung der Grenzstreitigkeiten von 1924, setzten Polen und die Tschechoslowakei Kommissionen zur Errichtung von zwischenstaatlichen Naturschutzgebieten ein, die in gemeinsamer Verantwortung verwaltet werden sollten. Nicht nur, dass damit Naturschutz – einem sich im Aufbau befindlichen gesellschaftlichen Bereich – politische Handlungsmacht zukam (S. 71). Das Projekt ließ sich zudem international als ein Beispiel friedfertiger und demokratischer Politik vermarkten. Die polnischen und tschechoslowakischen Naturschützer informierten die internationale Öffentlichkeit über das Prestigeprojekt und stießen – vor allem bei us-amerikanischen Naturschützern – auf ein positives Echo. In der Tatra war die Realität allerdings ernüchternd: Auf beiden Seiten der Berge wehrten sich die Almbauern gegen die Pläne. Das Projekt scheiterte an der fehlenden Akzeptanz der Pläne vor Ort. Damit wurde nicht die Hohe Tatra, sondern der 1932 zwischen Kanada und den USA realisierte Watertone-Glacier Park zum Prototyp des „peace park“, einem Modell, dem im Naturschutz bis heute ein hoher Stellenwert zukommt.

Das Projekt der Zwischenkriegszeit war gescheitert, die Nationalparkidee war dennoch nicht vom Tisch. Wie im vierten Kapitel geschildert, setzten die polnischen und die tschechoslowakischen Naturschützer die Pläne zur Errichtung von Naturschutzgebieten nach 1945 fort. Vertreibung, Zwangsumsiedlung und Enteignung, die im südlichen Teil der Tatra vor allem die Zipser Deutschen getroffen hatten, schufen hierfür neue Möglichkeitsräume. In der Slowakei machte erst das Fehlen dieser Menschen in der Region die Errichtung des Nationalparks 1949 möglich. In Polen wurde der Nationalpark nur fünf Jahre später Realität. Zuvor schränkten die Behörden die Weidewirtschaft radikal ein: Seit dem Sommer 1948 wurden zur Entlastung des Naturraums tausende Schafe aus der Tatra in den äußersten Südosten Polens gebracht.

Das fünfte Kapitel beleuchtet eine außergewöhnliche Episode des Prager Frühlings. Während im Land über die Umgestaltung des Sozialismus nachgedacht wurde, erhob sich in der Slowakei die Forderung nach dem Bau einer modernen Einschienenbahn in der Tatra. Vordergründig ging es um die Lösung eines Verkehrsproblems: die Infrastruktur und die Landschaft der Tatra war durch den anwachsenden Tourismus überlastet. Tatsächlich ging es um die Frage, wer die Entscheidungsmacht hat – der zentralistisch regierte Staat oder die Slowaken selbst? Der Kampf um die Bahn machte die Tatra zum Austragungsort slowakischer Forderungen nach Autonomie. Gebaut wurde sie nicht. Das Verhältnis des slowakischen und tschechischen Landesteils wurde jedoch bereits im Oktober 1968 zugunsten der Föderalisierung neubestimmt.

Im Zentrum des sechsten Kapitels steht die Kampagne um die Rückkehr der Schafe in die polnische Tatra zu Beginn der 1980er-Jahre. Die ansässige Bevölkerung, die Goralen, hatte sich nie vollständig mit der Verbannung der Schafweide aus der Region abgefunden. Das Sein oder Nichtsein der Schafweide in der Tatra besaß einen hohen Symbolwert und war ein höchst politisiertes Thema. 1981 griff die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarność das Thema auf und forderte, die Schafweide im Tatra-Gebiet wieder zuzulassen. Im selben Sommer trieben einige Gorallen wieder Schafe auf die Weide in der Tatra. Die in Folge der Protestaktion eingerichtete „Kulturweide“ blieb allerdings über den Systemwechsel 1989 als Konflikt zwischen der Regierung und der ansässigen Bevölkerung bestehen.

Im Ausblick des Buches kommen die Folgen der politischen Wende im slowakischen Teil der Tatra zu Sprache. Die Reprivatisierung des Bodens, die hier im Unterschied zu dem polnischen Pendant umfassend durchgeführt wurde, machte einen zumeist unkontrollierten Ausbau der touristischen Infrastrukturen möglich. Die Entwicklung zu mehr Tourismus und weniger Naturschutz wurde durch den Orkan, der im Jahr 2004 große Teile der Wälder zerstörte, zusätzlich befördert.

Die in den sechs Kapiteln versammelten Konflikte untersucht Bianca Hoenig mit einem ganzen Set an analytischen Instrumenten. Die Quellengrundlage bilden neben zeitgenössischem Pressematerial Bestände aus staatlichen Provenienzen sowie Personen- und Vereinsnachlässe aus Archiven in Polen, Tschechien, der Slowakei und Österreich. Die transnationale Geschichte wird mithilfe des Vergleichs und der Verflechtung offengelegt. Eine zentrale Funktion in der Konfliktanalyse kommt dem Begriff des Eigentums zu. Hoenig schlägt vor, Konflikte um Landschaftsnutzungen als konkurrierende Eigentumsansprüche zu begreifen und dabei Eigentum in einem weiten Sinne zu fassen. Ein solches Verständnis von Eigentum, das über die rechtliche Zuordnung von Gütern zu einer natürlichen oder juristischen Person hinausgeht, erlaubt Nießbrauchrechte und Eigentumsansprüche ideeller Art zu berücksichtigen. Die Analyse der Konflikte zeigt, dass die Konflikte um die Naturnutzung vor Ort (Weide- und Forstwirtschaft, Tourismus, Naturschutz) nicht nur in einer Wechselwirkung zum Stellenwert der Landschaft im nationalen Imaginarium standen, sondern dass sie teilweise erst durch diesen Stellenwert produziert wurden.

Es macht große Freude das Buch von Bianca Hoenig zu lesen. Es ist gründlich recherchiert, kenntnisreich und spannend geschrieben. Die Chronologie der ausgewählten Geschichten lässt ein stimmiges, in sich schlüssiges Bild entstehen, ohne den Anspruch auf Totalität zu erheben. Die Historikerin Bianca Hoenig hat eine Arbeit vorgelegt, die verspricht, die Forschungen zur Umweltgeschichte Ostmitteleuropas um Meilen voranzubringen.

Anmerkung:
1 Jon Mathieu, Die Alpen. Raum–Kultur–Geschichte, Ditzingen 2015.

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