J. Flores Zendejas u.a. (Hrsg.): Texte und Zahlen / Des textes et des chiffres

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Titel
Texte und Zahlen / Des textes et des chiffres. Quantitative Ansätze in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte / Approches quantitatives dans l’histoire économique et sociale


Herausgeber
Flores Zendejas, Juan; Hürlimann, Gisela; Lorenzetti, Luigi; Schiedt, Hans-Ulrich
Reihe
Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte / Annuaire suisse d’histoire économique et sociale 33
Erschienen
Zürich 2019: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
CHF 38.00; € 38,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Ruoss, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Der Sammelband Texte und Zahlen ist ein «Appell zum Austausch» (S. 11). Ziel dieses Austausches ist die Überwindung des «paradoxen Verhältnis[ses]» (ebd.) zwischen einer anhaltenden Zurückhaltung vieler Historikerinnen und Historiker in der bewussten Nutzung von Zahlen als Quellen und der immer besseren Verfügbarkeit quantitativer Daten im Zuge der Digitalisierung. Damit passt der Appell bestens zu einem sich abzeichnenden Wiederaufleben einer Gesellschaftsgeschichte, die bestrebt ist, kultur-, sozial- und wirtschaftshistorische Perspektiven zu verbinden.1 In diesem Sinne ist auch in der historischen Forschung nach den «cultural turns», die sich weniger für Zahlen als Quellen, sondern vielmehr für die Entstehung und Verwendung statistischer Kategorien interessierten, die Lust an historischen Statistiken zurück. Dazu kommt die Herausforderung im Umgang mit digitalen Daten und ein wachsendes Feld der Digital Humanities:2 Eine historische Analyse von «Big Data» ist nicht dasselbe wie Statistik als inhaltlich klar strukturierte und mit den bewährten quellenkritischen Werkzeugen der Geschichtswissenschaft zu bearbeitende Quellengattung.3 Der Weg zu einem kritischen Umgang mit grossen Zahlenmengen führt in diesem Sammelband daher bewusst über einen pragmatischen Rundumschlag. Diese Herangehensweise fördert neun interessante und gut reflektierte empirische Studien zutage, die das Verhältnis von Texten und Zahlen ganz unterschiedlich konzipieren. Der Sammelband ist damit ein zugleich programmatischer wie empirischer Aufschlag, um diese unterschiedlichen Ebenen produktiv zu verbinden. «Texte und Zahlen» sind zwei zentrale Ressourcen geschichtswissenschaftlicher Forschung, deren kritische Verknüpfung zu einer vielversprechenden Forschungspraxis auch über die Wirtschafts- und Sozialgeschichte hinausführen kann. Gleichzeitig, darin liegt ein zentraler und empirisch gut nachvollziehbarer Wert des Bandes, setzt dieses Revival von Zahlen als historische Quellen voraus, dass die Erkenntnisse aus der kulturtheoretischen Wende nicht übergangen werden.

Angesichts des appellativen Charakters des Bandes darf es nicht überraschen, dass die Zweiteilung zwischen Texten und Zahlen sich vom Titel auf die Artikel übertragen lässt. Die meisten Beiträge arbeiten entweder über Zahlen als historische Quellen und betonen die Bedeutung qualitativer Aspekte für die Interpretation von Statistik – oder sie arbeiten mit Zahlen und rekonstruieren statistische Langzeitreihen, um Erklärungsangebote zu historischen Entwicklungen zu generieren. Bereits die ersten drei Artikel können im Sinne dieses Gegensatzes verstanden werden. Während Pierre Gervais die Relevanz einer konsequenten Historisierung statistischer Kategorien am Beispiel von Kosten- und Währungskalkulationen im Zeitraum von 1750 bis 1830 herleitet, modelliert Christian Stohr die historische Entwicklung des Schweizer Bruttoinlandsprodukts mittels ökonometrischer Verfahren. Gervais‘ Anspruch an die konsequente Historisierung von Zahlen als Quellen scheint nur schwer vereinbar mit einem «traitement mathématico-statistique de données» (S. 25), wie sie um die Autorengruppe Joël Floris, Kaspar Staub, Christian Stohr und Ulrich Woitek genutzt werden. Solche international vergleichenden, retrospektiven Zeitreihenprojektionen erheben den Anspruch, sehr komplexe Fragen wie die Entstehungsbedingungen des Wohlstandes in der Schweiz oder die sozio-ökonomischen Ungleichheiten der Sterblichkeit zu erklären. Sie können sich aber der Kritik betreffend des historisch wandelbaren Sinngehalts statistischer Kategorien nicht entziehen. Gerade der pragmatisch-diskursive Charakter des Bandes lässt die Kategorien solcher Modellierung zuweilen als Anachronismen erscheinen, beispielsweise in der Operationalisierung von «human capital» für das 19. Jahrhundert anhand der Daten der Pädagogischen Rekrutenprüfungen.4 Ebenfalls mittels ökonometrischer Modellierung fragt Ye Jin Heo nach dem Zusammenhang von Kapitalflucht aus unterschiedlichen afrikanischen Staaten und dem jeweiligen Steuerregime in der Zeit vor 1970. Interessant ist hier das Argument, dass für das Fehlen von Kapitaldaten in den Statistiken nicht (wie bislang) auf eine vergleichsweise schlechte Qualität dieser Statistiken afrikanischer Staaten verwiesen wird, sondern diese Lücken selbst als Teil der Kapitalflucht verstanden werden.

Die Flughöhen der Erkenntnisansprüche der verschiedenen Zugänge des Bandes unterscheiden sich deutlich voneinander. Einen statistisch-deskriptiven Ansatz wählt Christophe Koller in seiner Analyse der (wachsenden) Ungleichheiten innerhalb der Finanzen der Schweizer Kantone. Die vergleichende Darstellung kantonaler Einnahmen und Ausgaben nach Politikbereichen regt dabei explorativ neue Fragen an betreffend der überraschend grossen Differenz zwischen steigenden Einnahmen und nur gering steigenden Ausgaben (pro Einwohnerin und Einwohner). Johann Boillat operiert mit einer quantitativen Netzwerkanalyse, um den historischen Wandel des Verhältnisses von Uhrmachern und Bankiers nachzuzeichnen. Die Quantifizierung ist hier ebenfalls deskriptiv und explorativ und dient primär dazu, die personellen Verbindungen beider Branchen – und damit einen Teil der Langlebigkeit der Uhrenindustrie in diesen Gebieten – zu erkennen. Von statistischen Zahlen als historische Quelle gehen auch Benjamin Spielmann und Markus Sieber in ihrer Analyse des Pendelverkehrs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz aus. Um Erklärungsansätze für die deskriptiv festgestellten Muster zu finden, blicken sie vom Grossen zum Kleinen – von gesamtschweizerischen Daten zu einer regionalen Fallstudie – und kommen schliesslich bei der «Kultur» als unbekannte und qualitativ zu erfassende unabhängige Variable an.

Schliesslich findet sich doch auch ein Artikel zu «Big Data». Ueli Häfeli nimmt sich einer Analyse solcher «grosse[n], komplexe[n], schwach strukturierte[n] und sich mit hoher Dynamik verändernden Datenbestände» (S. 94) an. Für eine Analyse zur Verkehrs- und Mobilitätsgeschichte nimmt er sich keinen geringeren Gegenstand vor als die Google N-Gramme. Mittels Verfahren der «Culturomics», als algorithmisierte Analyse grosser digitaler Textkorpora, sollen historische Thesen sowohl ergänzt, vertieft und allenfalls korrigiert werden können. Primär und am niederschwelligsten komme sie allerdings im Bereich der Generierung von Forschungshypothesen zum Tragen. Gerade für einen Einblick in die methodischen Grundlagen zur kritischen Nutzung von N-Grammen ist dies ein sehr sachdienlicher Text.

Nach dieser Diversität methodischer Ansätze von historischer Dekonstruktion und konsequenter Historisierung über die Ökonometrie und historisch-statistische Modellbildung, deskriptive Langzeitreihen als exploratives Verfahren bis zur Analyse von Big Data, wäre ich ein dankbarer Leser eines synthetisierenden Artikels gewesen. Julian Klinkhammers «Methodologische Anmerkungen», als letzter Text im Sammelband, wecken im ersten Moment den Eindruck, als würde der Band hier abschliessend eine Einschätzung zum Zustand des Verhältnisses von Texten und Zahlen wagen. Klinkhammers Beitrag fokussiert im Sinne Luc Boltanskis und Êve Chiapellos den Wandel des Verständnisses von Ökonomie und Unternehmensführung innerhalb der Wirtschaftselite in der Schweiz im Zuge des Neoliberalismus. Seine Schlussfolgerungen zu den epistemologischen Möglichkeiten der Historikerinnen und Historiker weisen, neben einem Plädoyer für die Verbindung struktureller und kulturanalytischer Verfahren, jedoch nicht wesentlich über seinen eigenen Artikel hinaus. Das ist nicht das Versäumnis des Autors. Darin zeigt sich vielmehr das angekündigte pragmatische Vorgehen der Herausgeberin und der Herausgeber. Diesem Aufbau folgt beispielsweise eine kaum sichtbare Thematisierung der Unterscheidung zwischen Big Data und Statistik oder zwischen genuin digitalen, retro-digitalen oder analogen Daten, wenn ganz allgemein von Zahlen als Quellen die Rede ist. Der Band ist vor allem ein Aufruf zur Debatte und vielleicht fehlte es etwas an Mut oder Konsens, stärker synthetisierende, programmatische Aussagen zu treffen. Ein kleinster gemeinsamer Nenner zur Frage ob Text oder Zahl – und wie viel von beidem – lässt sich nur mit viel Fleiss zwischen den Zeilen der einzelnen Beiträge herausschälen. Die diskursiven Elemente, welche die dem Band zugrundeliegende Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (SGWSG) im Jahr 2016 wohl geprägt haben, kommen in diesem Sammelband damit nur implizit zum Vorschein. Die Herausforderungen, die das eingangs eingeführte Paradoxon aufwirft, spiegeln sich in diesem Band nichtsdestotrotz auf eindrückliche Art und Weise.

Anmerkungen:
1 Jüngst z.B. Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019.
2 Z.B. Sybille Krämer / Martin Huber, Dimensionen Digitaler Geisteswissenschaften, in: Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, Sonderband 3 (2018), DOI: 10.17175/sb003_013.
3 Pascal Föhr, Historische Quellenkritik im digitalen Zeitalter, Glückstadt 2019.
4 Diese Daten sind für die Vergleichbarkeit von Lernleistungen zudem kaum valabel. Vgl. Claudia Crotti, Pädagogische Rekrutenprüfungen. Bildungspolitische Steuerungsversuche zwischen 1875 und 1931, in: Lucien Criblez (Hrsg.), Bildungsraum Schweiz, Bern 2008, S. 131–154.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/