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Titel
Achterbahn. Europa 1950 bis heute. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt


Autor(en)
Kershaw, Ian
Erschienen
Anzahl Seiten
828 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marie-Janine Calic, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

In seiner Geschichte Europas von 1950 bis heute entfaltet Ian Kershaw ein breites Panorama politischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge. Nach dem „Höllensturz“ der ersten Jahrhunderthälfte, den Kershaw im vorangegangenen Band beschrieb, ermöglichten die späteren Entwicklungen dem Kontinent ein bislang ungekanntes Ausmaß an Stabilität und Wohlstand, erzeugten aber auch Spannungen und Spaltungen. Wie auf einer „Achterbahn“ des Fortschritts sauste Europa in den ersten Nachkriegsjahrzehnten nach oben, ehe es mit den Ölkrisen der 1970er-Jahre eine beängstigende Talfahrt antrat und seither in jähen Windungen, Aufs und Abs in eine ungewisse Zukunft eilt.

Anregend ist Kershaws große Synthese schon deshalb, weil sie die Geschichte Europas bis in die jüngste Zeit erzählt und damit ungewohnte Fragen und analytische Zugänge aufwirft. Indem die politische Zäsur des Jahres 1989 als teleologischer Fluchtpunkt der Darstellung verschwindet, drängen sich Neubewertungen und -interpretationen auf. Der Zukunftsoptimismus der Nachwendezeit, mit dem etwa Eric Hobsbawm, Tony Judt und Mark Mazower ihre Synthesen schlossen, ist einer gut begründeten Skepsis gewichen. Im Unterschied etwa zu Andreas Wirschings Buch „Der Preis der Freiheit“ (2012) ergibt sich Kershaws Erzählung der Gegenwart aus einer weiter zurückblickenden historischen Tiefenbohrung. Schon die Komplexität und Widersprüchlichkeit des historischen Verlaufs, die Kershaw klar herausarbeitet, konterkariert eine geradlinige Erzählung. Sein Grundthema sind vielmehr „Wendungen und Windungen“, durch die Europa „von einer Epoche der Unsicherheit in eine andere schlingerte“ (S. 9).

Kershaw betont, dass aus dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes kein vereintes, demokratisches Europa hervorgegangen ist, sondern ein zerrissener Kontinent, der in einer „neuen Ära der Unsicherheit“, wie das letzte Kapitel heißt, auch nach drei Jahrzehnten kein Einheit stiftendes Identitätsgefühl hervorzubringen vermochte. Die Rückschau vom Standpunkt der Gegenwart, oder, wie Kershaw wohl eher sagen würde: von der Schwelle zur Zukunft aus, lässt die Unwägbarkeiten und Risiken der ersten Nachkriegsjahrzehnte, insbesondere die lähmende Furcht vor einem Atomkrieg, deutlich hervortreten. Wie eine Fahrt mit der Achterbahn wirken die ersten Nachkriegsjahrzehnte dann allerdings erst einmal nicht. Das wiedergeborene Europa, das Kershaw beschreibt, erschien gefestigt: Das geteilte Deutschland war kein nach Expansion strebender Unruhefaktor mehr, der sowjetische „Schraubstock“ (S. 135) hielt die Staaten im Osten in Schach, während die Hegemonie der Supermächte, das „Wirtschaftswunder“ und die Atomkriegsgefahr jeweils auf eigene Weise für Stabilität sorgten. Dies ermöglichte gewaltige gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen, die – zumindest im Westen – der Nachkriegsgeneration einen nicht gekannten ökonomischen Boom, ein hohes Maß sozialer Sicherheit und ungeahnte Konsumfreuden bescherten. Einstellungen wandelten sich zugunsten liberaler Werte und größerer Toleranz gegenüber Menschen anderer ethnischer Zugehörigkeit, sexueller Orientierung und verschiedenster individueller Lebensformen. Erst die große Zäsur der 1970er-Jahre, die den Wirtschaftsboom beendete, führte in eine neue Phase der Ungewissheit. Sie leitete das Ende der Industriemoderne ein, und ökonomischer Niedergang ging mit dem Auflodern des Kalten Krieges einher. Bereits jetzt wurden die sozialen Kosten einer liberalisierten, deregulierten Weltwirtschaft spürbar. Aber die Globalisierung, die nicht zuletzt auch gesellschaftliche und kulturelle Fortschrittsmuster über Ländergrenzen hinweg verknüpfte, schritt weiter ungebändigt voran.

Mit Erörterungen über Grenzen und semantischen Gehalt Europas hält sich Kershaw nicht auf – ein ohnehin uferloses Unterfangen. Seine Geschichte denkt er von „Kerneuropa“ aus (was immer das sein mag), obwohl er auch die Länder Nord-, Ost- und Südeuropas ausführlich behandelt. Das ist einerseits ein legitimer Standpunkt, da jede Synthese ihre analytische Verankerung finden muss. Andererseits ist es ein wenig schade, weil Gemeinsamkeiten, Verknüpfungen oder auch Differenzen zwischen den unterschiedlichen Teilen Europas leicht aus dem Blick zu geraten drohen.

Kershaw beschreibt dieses neue westliche Kerneuropa als ein Konglomerat konsolidierter Demokratien, das sich trotz oder sogar wegen Hochrüstung und dräuender Atomkriegsgefahr herausbildete. Dazu gehörte auch die Bonner Republik, der er einen „vollständigen Erfolg“ bescheinigt (S. 96). Hauptfaktoren dafür waren das Grundgesetz, das die Defizite der Weimarer Verfassung bewusst vermied, das starke Wirtschaftswachstum, welches die Legitimität der politischen Ordnung stärkte, sowie der Kalte Krieg, der den Westdeutschen die Bedrohung durch den Kommunismus vor Augen führte und die Westintegration vorantrieb. An der Richtigkeit von Adenauers Politik lässt Kershaw keinen Zweifel, auch wenn der erste Bundeskanzler eine Vereinigung der beiden Deutschlands damit auf die lange Bank schob. Die Transformation des „ruhelosen Reichs“, wie Michael Stürmer das Kaiserreich einst nannte, zum Stabilitätsanker des Kontinents erscheint Kershaw als eine der wichtigsten Signaturen der europäischen Nachkriegsgeschichte.

Prägend war zudem, dass auch die ehemals mächtigen europäischen Kolonialstaaten zurechtgestutzt wurden, indem die imperialistische Weltordnung zusammenbrach. Selbst der Zerfall des riesigen britischen Empire löste in England kein schwerwiegendes Trauma aus. Immerhin ermöglichte dies eine beträchtliche Kostenersparnis und vermied ein verlustreiches militärisches Dauerengagement im konfliktreichen südasiatischen Subkontinent. Dass ehemalige Kolonialmächte zu Nationalstaaten schrumpften, war andererseits eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Europa politisch und institutionell zusammenwachsen konnte. Drei Faktoren führten zu einem Maß an Integration, das vor dem Zweiten Weltkrieg unvorstellbar gewesen war: strategische Erfordernisse, nationale Interessen und weitsichtiger Idealismus.

Die östliche Hälfte des Kontinents ist Kershaw weniger vertraut als der Westen, und man möchte meinen: in vieler Hinsicht auch fremd. Er betont die Spaltung Europas in zwei unversöhnliche Hälften und hält am – von der Forschung überholten – Bild des „Eisernen Vorhangs“ fest. Eigenständige gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen schienen ihm in den „Satellitenstaaten“ kaum möglich zu sein. Den gewaltigen Modernisierungsschub, den der Staatssozialismus bewirkte, leugnet Kershaw nicht, sieht ihn aber in düsterem Licht, zumal er sich am westlichen Standard messen lassen muss. Immer wieder ist von „ideologischen Determinanten“ die Rede, die die Entwicklung von Wohlstand und Konsumgesellschaft ausgebremst hätten. Zwar gab es Wohnraum und Jobs, aber keine Wahlmöglichkeit, und wenn nun Bildung für alle bereitstand, dann nur „mit eng begrenztem Inhalt“ (S. 200). Die historisch verankerten Ausgangsbedingungen, strukturelle Entwicklungs- und Pfadabhängigkeiten, spielen in dieser Erzählung eine untergeordnete Rolle. Dass der Staat anfangs prioritär in die Schwerindustrie investierte, was Kershaw kritisiert, war jedoch eine ökonomische Notwendigkeit, um die Voraussetzungen für jegliche Industrialisierung überhaupt erst zu schaffen. Denn wie hätten die schwer kriegszerstörten, überwiegend agrarischen und von Armut geplagten Volkswirtschaften, allesamt industrielle „Nachzügler“, ohne massive staatliche Intervention sozialökonomisch je aufholen können?

Auch die sozialistischen Länder erlebten zweifellos ein „Wirtschaftswunder“, das nur dann als zweitrangig erscheint, wenn man den westlichen Maßstab anlegt. Gewaltige Investitionen in die Industrie, unterstützt durch eine sehr günstige globale Konjunktur, resultierten in einem präzedenzlosen Wachstum. Pro Kopf der Bevölkerung stieg das Bruttosozialprodukt zu konstanten Preisen zwischen 1950 und 1977 in Rumänien jährlich um 8,3 Prozent, in Bulgarien um 7,4 Prozent, in Jugoslawien um 6,1 Prozent. Infolgedessen erhöhten sich in Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien zwischen 1950 und 1970 die Realeinkommen um mehr als 150 Prozent – von niedrigem Niveau, wohl aber mit gewaltigen transformativen Folgen.1 Der Staatssozialismus funktionierte somit gewissermaßen als Raketenantrieb der Modernisierung – die liberalen Systeme der Zwischenkriegszeit hatten dabei ganz überwiegend versagt. Und so sind sich die Gesellschaften Europas trotz politisch-ideologischer Systemunterschiede schon vor 1989 unwillkürlich ähnlicher geworden: in Bezug auf soziale Schichtung, Demographie, Bildung, die Verbreitung von Technik und Medien sowie Konsumstile, Lebensweisen und Werte. Durch das Paradigma des „Eisernen Vorhangs“ entsteht jedoch das Bild einer grundsätzlichen Andersartigkeit des Ostens, das erst gegen Ende des Buches explizit wird: Russland, Osteuropa und der Balkan hätten „sich jahrhundertelang nicht vollkommen mit ‚Europa‘ identifiziert“ – oder wurden von außenstehenden Beobachtern als nicht dazugehörig wahrgenommen (S. 752). Ob und in welcher Form sie Teil des erneuerten Kontinents werden, so Kershaw, müsse sich erst noch weisen.

Zudem: Die ideologischen Gräben waren keineswegs unüberbrückbar. Die Blockgrenzen waren an vielen Stellen porös. Seit den 1950er-Jahren trafen beispielsweise westliche und östliche Ökonomen in ganz unterschiedlichen Foren und Formaten zusammen, um sich über Markt und Plan bzw. mögliche Reformmodelle auszutauschen. Der staatlich geförderte akademische Austausch, die systemübergreifende Jugendkultur von Jazz und Jeans bis hin zu ähnlichen Formen des Protests, wie sie um 1968 entstanden, verweisen auf vielschichtige Verflechtungen zwischen Ost und West. In der „Achterbahn“ kommt dies leider kaum ins Blickfeld, und so taucht die Schlüsselfigur Michail Gorbatschow doch recht unvermittelt im osteuropäischen „Treibsand“ (S. 353) als deus ex machina der Systemtransformation auf. Kershaw meint sogar, dass die Sowjetunion trotz einiger Schwierigkeiten ohne den Schöpfer der Perestroika noch „jahrelang“ wie gehabt hätte weitermachen und fortexistieren können (S. 448). Das ist angesichts der gravierenden wirtschaftlichen Probleme, besonders der Schulden, die die Legitimität des Systems fundamental untergruben, eine sehr kühne Behauptung. Wenn an Gorbatschows persönlichem Beitrag zum Wandel kein Zweifel besteht, dann allerdings auch nicht an den tiefgreifenden gesellschaftlichen, ökonomischen, ideellen und politischen Prozessen, die seine Reformen unterfütterten bzw. erst ermöglichten.

Seit der epochalen Wende von 1989/90 folgten in kurzen Abständen historische Wendepunkte – oder besser: Schlüsselereignisse –, die die europäische Geschichte neu formatierten. „9/11“ und der amerikanische Irak-Krieg, der imperiale Niedergang Russlands und die damit verbundenen narzisstischen Kränkungen, der globalisierte Turbokapitalismus und das britische Brexit-Drama erzeugten eine „Matrix neuer Unsicherheit“ (S. 21). Dabei zeigten sich die europäischen Regierungen solchen Herausforderungen überwiegend nicht gewachsen. Besonders der verschärfte globale Wettbewerb und die Finanzkrise, der anhaltende Migrationsdruck und der unbeherrschbar wirkende internationale Terrorismus veränderten die Befindlichkeiten auf dem Kontinent. Angesichts dessen konnte sich bis in die Gegenwart kein echtes europäisches Identitätsgefühl herausbilden. Ian Kershaws „Achterbahn“ sei allen empfohlen, die den großen Spannungsbogen der europäischen Nachkriegsgeschichte bis in die jüngste Zeit nachverfolgen wollen.

Anm. der Red.:
Dieser Beitrag ist Teil eines Review-Symposiums. Das redaktionelle Vorwort und Links zu den weiteren Rezensionen finden Sie unter https://www.hsozkult.de/text/id/texte-4873

Anmerkung:
1 Marie-Janine Calic, Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region, München 2016, S. 509.

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