C. Grabas: Wiederaufbau, Wirtschaftsplanung und Südförderung

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Titel
Wiederaufbau, Wirtschaftsplanung und Südförderung. Industriepolitik in Italien, 1943/45–1975


Autor(en)
Grabas, Christian
Reihe
Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. Beihefte (26)
Erschienen
Berlin 2020: de Gruyter
Anzahl Seiten
XV, 499 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Späth, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

Italia docet? In der aktuellen pandemischen Lage reibt sich so mancher verwundert die Augen, wie souverän das in den vergangenen Jahrzehnten viel gescholtene Italien nicht nur durch die Gesundheitskrise steuert, sondern auch, wie schnell sich das Land im europäischen Vergleich wirtschaftlich erholt hat. Man muss deshalb sicher nicht gleich von einem neuen italienischen Wirtschaftswunder sprechen. Dass jedoch ein genauer Blick auf die Wirtschaftsgeschichte des Landes südlich der Alpen nach dem Zweiten Weltkrieg lohnt, das unterstreicht Christian Grabas eindrucksvoll in seiner differenzierten Studie über die italienische Industriepolitik zwischen 1943 und 1975. Mit seiner für die Drucklegung stark gekürzten Dissertation schließt er eine Lücke der wirtschaftshistorischen Italienforschung und räumt zugleich mit einigen älteren und kaum quellenbasierten Urteilen italienischer neoklassischer Historiker und Ökonomen wie Giovanni Federico, Romano Prodi und Daniele De Giovanni auf, wonach die italienische Industriepolitik der zweiten Nachkriegszeit „irrelevant“ und „wirkungslos“ gewesen sei.1

Im Gegensatz dazu stellt Grabas die These auf, dass „der bereits während der Wiederaufbauphase nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingeleitete wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel zu einer staatsinterventionistischen Industriepolitik […] Wachstum und Strukturwandel der italienischen Volkswirtschaft erfolgreich“ beeinflusst habe (S. 9). In klarer Abgrenzung zur dominierenden älteren Forschung hebt er besonders die privatrechtlich organisierten Staatsunternehmen und die staatlich subventionierte Kreditfinanzierung als Faktoren der Dynamisierung und Modernisierung der italienischen Volkswirtschaft hervor. Er berücksichtigt dabei nationale Pfadabhängigkeiten und sozioökonomische Zwangslagen ebenso wie internationale Entwicklungstrends. Das Ziel seiner auf eine breite Quellen- und Literaturbasis gestützten Untersuchung besteht darin, „Genese, Konzeption, Implementierung und Umsetzung der Industriepolitik“ nachzuzeichnen und „ihren Beitrag für Wachstum und Strukturwandel der italienischen Volkswirtschaft im Allgemeinen und die Industrialisierung des Mezzogiorno [Süditaliens; A.d.V.] im Besonderen zu vermessen“ (S. 10). Ein institutionenökonomischer und organisationsgeschichtlicher Ansatz, der Strukturen, Prozesse und Akteure berücksichtigt, und ein qualitativ-quantitatives Verfahren wirtschaftshistorischer Zeitreihen bilden seine theoretisch-methodischen Prämissen. Positiv anzumerken ist, dass die umfangreiche, weit über 200 Seiten umfassende Datensammlung für die zahlreichen eigenen Berechnungen, die sich in 28 teils farbigen Abbildungen und 47 Tabellen niedergeschlagen haben, auf der Verlagshomepage abgerufen und für weiterführende Studien genutzt werden kann.

Grabas‘ Arbeit gliedert sich in vier Teile. Zunächst behandelt er die ersten beiden Phasen der italienischen Wirtschaftsgeschichte seit 1943. Dabei skizziert er die politischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen der am Boden liegenden italienischen Volkswirtschaft zwischen dem Ausscheiden aus der Kriegsallianz mit NS-Deutschland und der Konstitution als demokratischer Republik bis 1948. Im Anschluss daran beleuchtet er die zweite Phase, in der dem politischen der wirtschaftliche Wiederaufbau folgte und Italien 1952 das Vorkriegsniveau erreichte. Kapitel zwei rekapituliert die historisch singuläre italienische Nachkriegsprosperität mit der Industrie als Motor zwischen 1952 und 1975, als das Wachstum in Italien weit über dem westeuropäischen Durchschnitt lag und teils sogar dasjenige der Bundesrepublik übertraf. Kapitel drei widmet sich dezidiert der Wirtschaftsplanung, die sich in Gestalt einer staatsinterventionistischen Industriepolitik in den 1950er- und 1960er-Jahren in guter Gesellschaft befand, jedoch einen deutlich größeren Stellenwert einnahm als im Rest Westeuropas. Im letzten Kapitel fokussiert er die Südförderung, die mit massiven Eingriffen seitens der großen Staatskonzerne IRI, ENI und ENEL das signifikante sozioökonomische Gefälle des Landes zwischen dem reichen industrialisierten Norden und dem armen, unterentwickelten Süden nivellieren sollte.

Als Ergebnis dieser umfassenden Analyse der italienischen Wirtschaftspolitik zwischen 1943 und 1975 sowie der Wirtschaftsleistung der drei genannten Staatskonzerne ab 1952 lassen sich eine Reihe von Befunden in regionaler, sektoraler und branchenspezifischer Hinsicht festhalten. Für die Industriepolitik als Kern der italienischen Wirtschaftspolitik in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten wirkten zunächst der Marshall-Plan und die Westintegration Italiens als Katalysatoren. Mit der Fortführung und Neuaufstellung mehrerer vom Faschismus übernommener privatrechtlich organisierter Staatsholdings (IRI, AGIP, ANIC) in Schlüsselindustrien (Stahl, Metall, Mineralöl, Energie) sowie der Gründung der Cassa per il Mezzogiorno und der Investitionsbank Mediocredito wurden die Grundlagen für eine direkte und dauerhafte staatliche Marktintervention vor allem in Süditalien geschaffen. Zu Pfadabhängigkeiten und individuellen Handlungsspielräumen kamen zukunftsweisende Entscheidungen wie die Gründung der ENI 1953 hinzu.

In der ersten Phase starker Prosperität zwischen 1952 und 1963 nahm die staatliche Industriepolitik einen immer größeren Stellenwert ein und Italien unterschied sich durch die Zahl der privatrechtlich organisierten Staatsunternehmen teils deutlich von anderen westeuropäischen Ländern. Die Gründung eines eigenen „Ministeriums für staatliche Beteiligungen“ und die Einführung regionaler Investitionsquoten 1956 bedeuteten in dieser Hinsicht einen weiteren Schub. Finanziert wurde das Ganze durch staatlich subventionierte Industriekredite, führte aber nicht wie erhofft zu einer industriellen Diversifizierung und Streuung.

In der zweiten Phase italienischer Nachkriegsprosperität, die mit einer kleinen Rezension 1963–1966 begann, um dann erneut an Fahrt aufzunehmen, gelangte die „organische Wirtschaftsplanung“ (Programmazione Economica Organica) auf ihren Höhepunkt, wobei der Bocconi-Ökonom Pasquale Saraceno bereits in den 1950er-Jahren die Grundlagen hierfür gelegt hatte. Daran lässt sich auch erkennen, wie groß persönlicher Einfluss und akademische Politikberatung in Italien waren (und bis heute sind). Als Wendepunkt des Wachstums gilt 1972, als Industriekredite und Investitionen der Cassa per il Mezzogiorno ein Rekordniveau erreichten.

Dass die organische Wirtschaftsplanung letztlich scheiterte und jede Menge industrieller „Kathedralen in der Wüste“ und Investitionsruinen hinterließ, lässt sich in Süditalien heute noch eindrucksvoll erkennen. Sie ebenso wie die Südförderung nur von ihrem Ende her zu betrachten, hieße jedoch, die zentrale realwirtschaftliche Wirkung zu verkennen, denn diese war im Süden deutlich größer als in anderen italienischen Regionen. In ihrer Ambivalenz führte die direkte und indirekte staatliche Industrieförderung einerseits zu einem historisch einzigartigen Wirtschaftsaufschwung, andererseits aber auch zu einer eklatant hohen Abhängigkeit von staatlichen Subventionen und damit ab 1972 zu einem drastisch verlangsamten Wachstum mit großen Ungleichgewichtigkeiten, hoher Arbeitslosigkeit und einer stark zunehmenden Verschuldung. Letzten Endes blieb das Wachstum „auf Pump“ finanziert. Es war alles andere als nachhaltig und vermochte sich ohne Staatsintervention nicht selbst zu tragen, geschweige denn das bestehende Nord-Süd-Gefälle zu überwinden – aber das wäre in einer Generation ohnehin nicht zu schaffen gewesen.

In der Summe hat Christian Grabas eine dem Gegenstand angemessen nüchtern geschriebene, von nur wenigen Tippfehlern durchzogene, reichlich illustrierte und höchst differenzierte Studie vorgelegt, auf die künftige Arbeiten aufbauen können. Vierzig Jahre nach Vera Zamagnis Plädoyer, die italienische Wirtschaftsgeschichte nicht nur den Ökonomen zu überlassen2, hat er das Thema dem Desinteresse entrissen und zudem eine von nur sehr wenigen deutschsprachigen Arbeiten darüber verfasst3. Es ist ihm gelungen, das nahezu stereotype Bild Italiens als späte und schwierige Industriegesellschaft zu modifizieren und den Aufstieg des Landes zu einer der weltweit führenden Industrienationen in den 1950er- und 1960er-Jahren trotz aller Hemmfaktoren überzeugend zu erklären. Dass dabei „verpasste Gelegenheiten“ zu konstatieren sind, das größte Problem des Landes in Gestalt des Nord-Süd-Gefälles trotz massiver Staatseingriffe zugunsten des Südens dauerhaft zu lösen, ist keine neue Erkenntnis. Weitaus vielversprechender sind hingegen die differenzierten Befunde, die das italienische Wirtschaftswunder der zweiten Nachkriegszeit überhaupt erst ermöglicht haben. Hieran können und sollten künftige Untersuchungen anschließen und dem Erbe des Faschismus, den handelnden Akteuren samt ihren Netzwerken, aber auch den sozialen und kulturgeschichtlichen Implikationen des Themas in einer international vergleichenden Perspektive mehr Aufmerksamkeit widmen.

Anmerkungen:
1 Giovanni Federico, Harmful or Irrelevant? Italian Industrial Policy, 1945–1973, in: Hideaka Miyajima / Takeo Kikkawa / Takashi Hikino (Hrsg.), Policies for Competitiveness. Comparing Business-Government Relationships in the Golden Age of Capitalism, Oxford 1999, S. 309–335; Romano Prodi / Daniele De Giovanni, Forty-Five Years of Industrial Policy in Italy. Protagonists, Objectives and Instruments, in: Mario Baldassarri (Hrsg.), Industrial Policy in Italy, 1945-90, London / New York 1993, S. 31–55.
2 Vera Zamagni, Lo stato italiano e l’economia. Storia dell’intervento pubblico dall’unificazione ai giorni nostri, Florenz 1981.
3 Rolf Petri, Von der Autarkie zum Wirtschaftswunder. Wirtschaftspolitik und industrieller Wandel in Italien 1935–1963, Tübingen 2001.

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